Vermischte Meinungen und Sprueche
Menschliches, Allzumenschliches, II: Vermischte Meinungen und Sprueche
1
Man soll nur reden, wo man nicht schweigen darf;
und nur von dem reden, was man überwunden
hat, - alles andere ist Geschwätz, "Literatur", Mangel an
Zucht. Meine Schriften reden nur von meinen
Überwindungen: "ich" bin darin, mit allem, was mir feind war, ego
ipsissimus, ja sogar, wenn ein stolzerer Ausdruck erlaubt
wird, ego ipsissimum. Man errät: ich habe schon viel
- unter mir... Aber es bedurfte immer erst der Zeit,
der Genesung, der Ferne, der Distanz, bis die Lust bei
mir sich regte, etwas Erlebtes und Überlebtes, irgend
ein eigenes Faktum oder Fatum nachträglich für die
Erkenntnis abzuhäuten, auszubeuten, bloßzulegen, "darzustellen"
(oder wie man's heißen will). Insofern sind
alle meine Schriften, mit einer einzigen, allerdings wesentlichen
Ausnahme, zurückzudatieren - sie reden
immer von einem "Hinter-mir" -: einige sogar, wie die
drei ersten Unzeitgemäßen Betrachtungen, noch zurück
hinter die Entstehungs- und Erlebniszeit eines vorher
herausgegebenen Buches (der "Geburt der Tragödie" im
gegebenen Falle: wie es einem feineren Beobachter und
Vergleicher nicht verborgen bleiben darf). Jener zornige
Ausbruch gegen die Deutschtümelei, Behäbigkeit und
Sprach-Verlumpung des alt gewordenen David Strauß,
der Inhalt der ersten Unzeitgemäßen, machte Stimmungen
Luft, mit denen ich lange vorher, als Student, inmitten
deutscher Bildung und Bildungsphilisterei gesessen hatte
(ich mache Anspruch auf die Vaterschaft des jetzt viel
gebrauchten und mißbrauchten Wortes "Bildungsphilister" -);
und was ich gegen die "historische
Krankheit" gesagt habe, das sagte ich als einer, der von
ihr langsam, mühsam genesen lernte und ganz und gar
nicht willens war, fürderhin auf "Historie" zu verzichten,
weil er einstmals an ihr gelitten hatte. Als ich
sodann, in der dritten Unzeitgemäßen Betrachtung, meine
Ehrfurcht vor meinem ersten und einzigen Erzieher, vor
dem großen Arthur Schopenhauer zum Ausdruck brachte
- ich würde sie jetzt noch viel stärker, auch persönlicher
ausdrücken -, war ich für meine eigne Person schon
mitten in der moralistischen Skepsis und Auflösung drin,
das heißt ebenso sehr in der Kritik als der Vertiefung
alles bisherigen Pessimismus -, und
glaubte bereits "an gar nichts mehr", wie das Volk sagt,
auch an Schopenhauer nicht: eben in jener Zeit entstand
ein geheim gehaltenes Schriftstück "über Wahrheit und
Lüge im außermoralischen Sinne". Selbst meine Sieges-
und Festrede zu Ehren Richard Wagners, bei Gelegenheit
seiner Bayreuther Siegesfeier 1876 - Bayreuth bedeutet
den größten Sieg, den je ein Künstler errungen
hat -, ein Werk, welches den stärksten Anschein der
"Aktualität" an sich trägt, war im Hintergrunde eine
Huldigung und Dankbarkeit gegen ein Stück Vergangenheit
von mir, gegen die schönste, auch gefährlichste
Meeresstille meiner Fahrt... und tatsächlich eine Loslösung,
ein Abschiednehmen. (Täuschte Richard Wagner
sich vielleicht selbst darüber? Ich glaube es nicht. Solange
man noch liebt, malt man gewiß keine solchen Bilder;
man "betrachtet" noch nicht, man stellt sich nicht
dergestalt in die Ferne, wie es der Betrachtende tun muß.
"Zum Betrachten gehört schon eine geheimnisvolle Gegnerschaft,
die des Entgegenschauens" - heißt es auf
Seite 342 der genannten Schrift selbst [Kap. 7, Anf.], mit
einer verräterischen und schwermütigen Wendung, welche
vielleicht nur für wenige Ohren war.) Die Gelassenheit,
um über lange Zwischenjahre innerlichsten Alleinseins
und Entbehrens reden zu können, kam mir erst mit dem
Buche "Menschliches, Allzumenschliches", dem auch dies
zweite Für- und Vorwort gewidmet sein soll. Auf ihm,
als einem Buche "für freie Geister", liegt etwas von der
beinahe heiteren und neugierigen Kälte des Psychologen,
welche eine Menge schmerzlicher Dinge, die er unter
sich hat, hinter sich hat, nachträglich für sich noch
feststellt und gleichsam mit irgend einer Nadelspitze
fest sticht: - was Wunders, wenn, bei einer so spitzen
und kitzlichen Arbeit, gelegentlich auch etwas Blut
fließt, wenn der Psychologe Blut dabei an den Fingern
und nicht immer nur - an den Fingern hat?...
2
Die Vermischten Meinungen und Sprüche sind, ebenso
wie der Wanderer und sein Schatten, zuerst einzeln
als Fortsetzungen und Anhänge jenes eben genannten
menschlich-allzumenschlichen "Buchs für freie Geister"
herausgegeben worden: zugleich als Fortsetzung und Verdoppelung
einer geistigen Kur, nämlich der antiromantischen
Selbstbehandlung, wie sie mir mein gesund gebliebener
Instinkt wider eine zeitweilige Erkrankung an
der gefährlichsten Form der Romantik selbst erfunden,
selbst verordnet hatte. Möge man sich nunmehr, nach
sechs Jahren der Genesung, die gleichen Schriften vereinigt
gefallen lassen, als zweiten Band von Menschliches,
Allzumenschliches: vielleicht lehren sie, zusammen
betrachtet, ihre Lehre stärker und deutlicher, - eine
Gesundheitslehre, welche den geistigeren Naturen des
eben heraufkommenden Geschlechts zur disciplina voluntatis
empfohlen sein mag. Aus ihnen redet ein Pessimist,
der oft genug aus der Haut gefahren, aber immer wieder
in sie hineingefahren ist, ein Pessimist also mit dem
guten Willen zum Pessimismus, - somit jedenfalls kein
Romantiker mehr: wie? sollte ein Geist, der sich auf
diese Schlangenklugheit versteht, die Haut zu wechseln,
nicht den heutigen Pessimisten eine Lektion geben
dürfen, welche allesamt noch in der Gefahr der Romantik
sind? Und ihnen zum mindesten zeigen, wie man das
- macht?...
3
- Es war in der Tat damals die höchste Zeit, Abschied
zu nehmen: alsbald schon bekam ich den Beweis
dafür. Richard Wagner, scheinbar der Siegreichste, in
Wahrheit ein morsch gewordener, verzweifelter Romantiker,
sank plötzlich, hilflos und zerbrochen, vor dem
christlichen Kreuze nieder... Hat denn kein Deutscher
für dieses schauerliche Schauspiel damals Augen im
Kopfe, Mitgefühl in seinem Gewissen gehabt? War ich
der einzige, der an ihm - litt? Genug, mir selbst gab
dies unerwartete Ereignis wie ein Blitz Klarheit über
den Ort, den ich verlassen hatte, - und auch jenen nachträglichen
Schrecken, wie ihn jeder empfindet, der unbewußt
durch eine ungeheure Gefahr gelaufen ist. Als
ich allein weiterging, zitterte ich; nicht lange darauf,
und ich war krank, mehr als krank, nämlich müde, aus
der unaufhaltsamen Enttäuschung über alles, was uns
modernen Menschen zur Begeisterung übrigblieb, über die
allerorts vergeudete Kraft, Arbeit, Hoffnung, Jugend,
Liebe; müde aus Ekel vor dem Femininischen und
Schwärmerisch-Zuchtlosen dieser Romantik, vor der ganzen
idealistischen Lügnerei und Gewissens-Verweichlichung, die
hier wieder einmal den Sieg über einen der Tapfersten
davongetragen hatte; müde endlich, und nicht am wenigsten,
aus dem Gram eines unerbittlichen Argwohns, -
daß ich, nach dieser Enttäuschung, verurteilt sei, tiefer
zu mißtrauen, tiefer zu verachten, tiefer allein zu sein
als je vorher. Meine Aufgabe - wohin war sie? Wie?
schien es jetzt nicht, als ob sich meine Aufgabe von mir
zurückziehe, als ob ich nun für lange kein Recht mehr
auf sie habe? Was tun, um diese größte Entbehrung
auszuhalten? - Ich begann damit, daß ich mir gründlich
und grundsätzlich alle romantische Musik verbot,
diese zweideutige, großtuerische, schwüle Kunst, welche
den Geist um seine Strenge und Lustigkeit bringt und
jede Art unklarer Sehnsucht, schwammichter Begehrlichkeit
wuchern macht. "Cave musicam" ist auch heute noch
mein Rat an alle, die Mannes genug sind, um in Dingen
des Geistes auf Reinlichkeit zu halten; solche Musik
entnervt, erweicht, verweiblicht, ihr "Ewig-Weibliches"
zieht uns - hinab !... Gegen die romantische Musik
wendete sich damals mein erster Argwohn, meine nächste
Vorsicht; und wenn ich überhaupt noch etwas von der
Musik hoffte, so war es in der Erwartung, es möchte ein
Musiker kommen, kühn, fein, boshaft, südlich, übergesund
genug, um an jener Musik auf eine unsterbliche
Weise Rache zu nehmen.-
4
Einsam nunmehr und schlimm mißtrauisch gegen mich,
nahm ich, nicht ohne Ingrimm, dergestalt Partei gegen
mich und für alles, was gerade mir wehe tat und hart
fiel: - so fand ich den Weg zu jenem tapferen Pessimismus
wieder, der der Gegensatz aller romantischen Verlogenheit
ist, und auch, wie mir heute scheinen will, den
Weg zu "mir" selbst, zu meiner Aufgabe. Jenes verborgene
und herrische Etwas, für das wir lange keinen
Namen haben, bis es sich endlich als unsre Aufgabe
erweist, - dieser Tyrann in uns nimmt eine schreckliche
Wiedervergeltung für jeden Versuch, den wir machen,
ihm auszuweichen oder zu entschlüpfen, für jede vorzeitige
Bescheidung, für jede Gleichsetzung mit solchen,
zu denen wir nicht gehören, für jede noch so achtbare
Tätigkeit, falls sie uns von unsrer Hauptsache ablenkt,
ja für jede Tugend selbst, welche uns gegen die Härte
der eigensten Verantwortlichkeit schützen möchte. Krankheit
ist jedesmal die Antwort, wenn wir an unsrem Rechte
auf unsre Aufgabe zweifeln wollen, - wenn wir anfangen,
es uns irgendworin leichter zu machen. Sonderbar
und furchtbar zugleich ! Unsre Erleichterungen
sind es, die wir am härtesten büßen müssen! Und wollen
wir hinterdrein zur Gesundheit zurück, so bleibt uns
keine Wahl: wir müssen uns schwerer belasten, als
wir je vorher belastet waren...
5
- Damals lernte ich erst jenes einsiedlerische Reden,
auf welches sich nur die Schweigendsten und Leidendsten
verstehn: ich redete, ohne Zeugen oder vielmehr gleichgültig
gegen Zeugen, um nicht am Schweigen zu leiden,
ich sprach von lauter Dingen, die mich nichts angingen,
aber so, als ob sie mich etwas angingen. Damals lernte
ich die Kunst, mich heiter, objektiv, neugierig, vor allem
gesund und boshaft zu geben, - und bei einem Kranken
ist dies, wie mir scheinen will, sein "guter Geschmack"?
Einem feineren Auge und Mitgefühl wird es trotzdem
nicht entgehn, was vielleicht den Reiz dieser Schriften
ausmacht, - daß hier ein Leidender und Entbehrender
redet, wie als ob er nicht ein Leidender und Entbehrender
sei. Hier soll das Gleichgewicht, die Gelassenheit,
sogar die Dankbarkeit gegen das Leben aufrechterhalten
werden, hier waltet ein strenger, stolzer, beständig
wacher, beständig reizbarer Wille, der sich die Aufgabe
gestellt hat, das Leben wider den Schmerz zu verteidigen
und alle Schlüsse abzuknicken, welche aus Schmerz, Enttäuschung,
Überdruß, Vereinsamung und andrem Moorgrunde
gleich giftigen Schwämmen aufzuwachsen pflegen.
Dies gibt vielleicht gerade unsern Pessimisten Fingerzeige
zur eignen Prüfung? - denn damals war es, wo
ich mir den Satz abgewann: "ein Leidender hat auf Pessimismus
noch kein Recht!", damals führte ich mit
mir einen langwierig-geduldigen Feldzug gegen den unwissenschaftlichen
Grundhang jedes romantischen Pessimismus,
einzelne persönliche Erfahrungen zu allgemeinen
Urteilen, ja Welt-Verurteilungen aufzubauschen, auszudeuten...
kurz, damals drehte ich meinen Blick herum.
Optimismus, zum Zweck der Wiederherstellung,
um irgendwann einmal wieder Pessimist sein zu dürfen:
versteht ihr das? Gleich wie ein Arzt seinen Kranken
in eine völlig fremde Umgebung stellt, damit er seinem
ganzen "Bisher", seinen Sorgen, Freunden, Briefen,
Pflichten, Dummheiten und Gedächtnismartern entrückt
wird und Hände und Sinne nach neuer Nahrung, neuer
Sonne, neuer Zukunft ausstrecken lernt, so zwang ich
mich, als Arzt und Kranker in einer Person, zu einem
umgekehrten, unerprobten Klima der Seele, und namentlich
zu einer abziehenden Wanderung in die Fremde,
in das Fremde, zu einer Neugierde nach aller Art von
Fremdem... Ein langes Herumziehn, Suchen, Wechseln
folgte hieraus, ein Widerwille gegen alles Festbleiben,
gegen jedes plumpe Bejahen und Verneinen;
ebenfalls eine Diätetik und Zucht, welche es dem Geiste
so leicht als möglich machen wollte, weit zu laufen, hoch
zu fliegen, vor allem immer wieder; fortzufliegen. Tatsächlich
ein minimum von Leben, eine Loskettung von
allen gröberen Begehrlichkeiten, eine Unabhängigkeit inmitten
aller Art äußerer Ungunst, samt dem Stolze, leben
zu können unter dieser Ungunst; etwas Zynismus vielleicht,
etwas "Tonne", aber ebenso gewiß viel Grillen-Glück,
Grillen-Munterkeit, viel Stille, Licht, feinere Torheit,
verborgenes Schwärmen - das alles ergab zuletzt
eine große geistige Erstarkung, eine wachsende Lust und
Fülle der Gesundheit. Das Leben selbst belohnt uns
für unsern zähen Willen zum Leben, für einen solchen
langen Krieg, wie ich ihn damals mit mir gegen den
Pessimismus der Lebensmüdigkeit führte, schon für jeden
aufmerksamen Blick unsrer Dankbarkeit, der sich die
kleinsten, zartesten, flüchtigsten Geschenke des Lebens
nicht entgehn läßt. Wir bekommen endlich dafür seine
großen Geschenke, vielleicht auch sein größtes, das es
zu geben vermag, - wir bekommen unsre Aufgabe
wieder zurück. - -
6
- Sollte mein Erlebnis - die Geschichte einer Krankheit
und Genesung, denn es lief auf eine Genesung hinaus -
nur mein persönliches Erlebnis gewesen sein?
Und gerade nur mein "Menschliches-Allzumenschliches"?
Ich möchte heute das Umgekehrte glauben; das Zutrauen
kommt mir wieder und wieder dafür, daß meine Wanderbücher
doch nicht nur für mich aufgezeichnet waren, wie
es bisweilen den Anschein hatte -. Darf ich nunmehr,
nach sechs Jahren wachsender Zuversicht, sie von neuem
zu einem Versuche auf die Reise schicken? Darf ich sie
denen sonderlich ans Herz und Ohr legen, welche mit
irgend einer "Vergangenheit" behaftet sind und Geist
genug übrig haben, um auch noch am Geiste ihrer
Vergangenheit zu leiden? Vor allem aber euch, die ihr es
am schwersten habt, ihr Seltenen, Gefährdetsten, Geistigsten,
Mutigsten, die ihr das Gewissen der modernen
Seele sein müßt und als solche ihr Wissen haben müßt,
in denen, was es nur heute von Krankheit, Gift und Gefahr
geben kann, zusammenkommt, - deren Los es will,
daß ihr kränker sein müßt als irgend ein einzelner, weil
ihr nicht "nur einzelne" seid..., deren Trost es ist,
den Weg zu einer neuen Gesundheit zu wissen, ach! und
zu gehen, einer Gesundheit von Morgen und Übermorgen,
ihr Vorherbestimmten, ihr Siegreichen, ihr Zeit-Überwinder,
ihr Gesündesten, ihr Stärksten, ihr guten
Europäer! - -
7
- Daß ich schließlich meinen Gegensatz gegen den
romantischen Pessimismus, das heißt zum Pessimismus
der Entbehrenden, Mißglückten, Überwundenen, noch
in eine Formel bringe: es gibt einen Willen zum Tragischen
und zum Pessimismus, der das Zeichen ebenso sehr
der Strenge als der Stärke des Intellektes (Geschmacks,
Gefühls, Gewissens) ist. Man fürchtet, mit
diesem Willen in der Brust, nicht das Furchtbare und
Fragwürdige, das allem Dasein eignet; man sucht es
selbst auf. Hinter einem solchen Willen steht der Mut,
der Stolz, das Verlangen nach einem großen Feinde. -
Dies war meine pessimistische Perspektive von Anbeginn,
eine neue Perspektive, wie mich dünkt? eine
solche, die auch heute noch neu und fremd ist? Bis zu
diesem Augenblicke halte ich an ihr fest, und, wenn man
mir glauben will, ebensowohl für mich als, gelegentlich
wenigstens, gegen mich... Wollt ihr dies erst bewiesen?
Aber was sonst wäre mit dieser langen Vorrede
- bewiesen?
Sils-Maria, Oberengadin,
im September 1886
1
An die Enttäuschten der Philosophie. -
Wenn ihr bisher an den höchsten Wert des Lebens
geglaubt habt und euch nun enttäuscht seht, müßt ihr es
denn jetzt zum niedrigsten Preise losschlagen?
2
Verwöhnt. - Man kann sich auch in bezug auf die
Helligkeit der Begriffe verwöhnen: wie ekelhaft wird da
der Verkehr mit den Halbklaren, Dunstigen, Strebenden,
Ahnenden! Wie lächerlich und doch nicht erheiternd wirkt
ihr ewiges Flattern und Haschen und doch nicht Fliegen-
und Fangen-können!
3
Die Freier der Wirklichkeit. - Wer endlich
merkt, wie sehr und wie lange er genarrt worden ist,
umarmt aus Trotz selbst die häßlichste Wirklichkeit: so
daß dieser, den Verlauf der Welt im ganzen gesehen,
zu allen Zeiten die allerbesten Freier zugefallen sind, -
denn die Besten sind immer am besten und längsten getäuscht worden.
4
Fortschritt der Freigeisterei. - Man kann
den Unterschied der früheren und der gegenwärtigen
Freigeisterei nicht besser verdeutlichen, als wenn man jenes
Satzes gedenkt, den zu erkennen und auszusprechen die
ganze Unerschrockenheit des vorigen Jahrhunderts nötig
war und der dennoch, von der jetzigen Einsicht aus bemessen,
zu einer unfreiwilligen Naivität herabsinkt, -
ich meine den Satz Voltaires: "croyez-moi, mon ami,
l'erreur aussi a son mérite."
5
Eine Erbsünde der Philosophen. - Die Philosophen
haben zu allen Zeiten die Sätze der Menschenprüfer
(Moralisten) sich angeeignet und verdorben dadurch,
daß sie dieselben unbedingt nahmen und das als
notwendig beweisen wollten, was von jenen nur als ungefährer
Fingerzeig oder gar als land- oder stadtsässige
Wahrheit eines Jahrzehnts gemeint war, - während sie
gerade dadurch sich über jene zu erheben meinten. So
wird man als Grundlage der berühmten Lehren Schopenhauers
vom Primat des Willens vor dem Intellekt, von
der Unveränderlichkeit des Charakters, von der Negativität
der Lust - welche alle, so wie er sie versteht,
Irrtümer sind - populäre Weisheiten finden, welche
Moralisten aufgestellt haben. Schon das Wort "Wille",
welches Schopenhauer zur gemeinsamen Bezeichnung
vieler menschlichen Zustände umbildete und in eine
Lücke der Sprache hineinstellte, zum großen Vorteil für
ihn selber, soweit er Moralist war - da es ihm nun
freistand, vom "Willen" zu reden, wie Pascal von ihm
geredet hatte -, schon der "Wille" Schopenhauers ist
unter den Händen seines Urhebers, durch die Philosophen-Wut
der Verallgemeinerung, zum Unheil für die Wissenschaft
ausgeschlagen: denn dieser Wille ist zu einer
poetischen Metapher gemacht, wenn behauptet wird, alle
Dinge in der Natur hätten Willen; endlich ist er, zum
Zwecke einer Verwendung bei allerhand mystischem Unfuge,
zu einer falschen Verdinglichung gemißbraucht
worden - und alle Modephilosophen sagen es nach und
scheinen es ganz genau zu wissen, daß alle Dinge einen
Willen hätten, ja dieser eine Wille wären (was, nach
der Abschilderung, die man von diesem All-Eins-Willen
macht, so viel bedeutet, als ob man durchaus den dummen
Teufel zum Gotte haben wolle).
6
Wider die Phantasten. - Der Phantast verleugnet
die Wahrheit vor sich, der Lügner nur vor andern.
7
Licht-Feindschaft. - Macht man jemandem klar,
daß er, streng verstanden, nie von Wahrheit, sondern
immer nur von Wahrscheinlichkeit und deren Graden
reden könne, so entdeckt man gewöhnlich an der unverhohlenen
Freude des also Belehrten, wieviel lieber den
Menschen die Unsicherheit des geistigen Horizontes ist
und wie sie die Wahrheit im Grunde ihrer Seele wegen
ihrer Bestimmtheit hassen. - Liegt es daran, daß sie
alle insgeheim selber Furcht davor haben, daß man einmal
das Licht der Wahrheit zu hell auf sie fallen lasse?
Sie wollen etwas bedeuten, folglich darf man nicht genau
wissen, was sie sind? Oder ist es nur die Scheu vor dem
allzu hellen Licht, an welches ihre dämmernden, leicht
zu blendenden Fledermaus-Seelen nicht gewöhnt sind, so
daß sie es hassen müssen.
8
Christen-Skepsis. - Pilatus, mit seiner Frage: was
ist Wahrheit!, wird jetzt gern als Advokat Christi eingeführt,
um alles Erkannte und Erkennbare als Schein zu
verdächtigen und auf dem schauerlichen Hintergrunde
des Nichts-wissen-könnens das Kreuz aufzurichten.
9
"Naturgesetz" ein Wort des Aberglaubens. -
Wenn ihr so entzückt von der Gesetzmäßigkeit in der
Natur redet, so müßt ihr doch entweder annehmen, daß
aus freiem, sich selbst unterwerfendem Gehorsam alle
natürlichen Dinge ihrem Gesetze folgen - in welchem
Falle ihr also die Moralität der Natur bewundert -;
oder euch entzückt die Vorstellung eines schaffenden
Mechanikers, der die kunstvollste Uhr, mit lebenden
Wesen als Zierat daran, gemacht hat. - Die Notwendigkeit
in der Natur wird durch den Ausdruck "Gesetzmäßigkeit"
menschlicher und ein letzter Zufluchtswinkel
der mythologischen Träumerei.
10
Der Historie verfallen. - Die Schleier-Philosophen
und Welt-Verdunkler, also alle Metaphysiker feineren
und gröberen Korns, ergreift Augen-, Ohren- und
Zahnschmerz, wenn sie zu argwöhnen beginnen, daß es mit
dem Satze: die ganze Philosophie sei von jetzt ab der
Historie verfallen, seine Richtigkeit habe. Es ist ihnen,
ihrer Schmerzen wegen, zu verzeihen, daß sie nach
jenem, der so spricht, mit Steinen und Unflat werfen: die
Lehre selbst kann aber dadurch eine Zeitlang schmutzig
und unansehnlich werden und an Wirkung verlieren.
11
Der Pessimist des Intellekts. - Der wahrhaft
Freie im Geiste wird auch über den Geist selber frei
denken und sich einiges Furchtbare in Hinsicht auf Quelle
und Richtung desselben nicht verhehlen. Deshalb werden
ihn die andern vielleicht als den ärgsten Gegner der Freigeisterei
bezeichnen und mit dem Schimpf- und Schreckwort
"Pessimist des Intellekts" belegen: gewohnt, wie sie
sind, jemanden nicht nach seiner hervorragenden Stärke
und Tugend zu nennen, sondern nach dem, was ihnen am
fremdesten an ihm ist.
12
Schnappsack der Metaphysiker. - Allen denen,
welche so großtuerisch von der Wissenschaftlichkeit ihrer
Metaphysik reden, soll man gar nicht antworten; es genügt,
sie an dem Bündel zu zupfen, welches sie, einigermaßen
scheu, hinter ihrem Rücken verborgen halten; gelingt es,
dasselbe zu lüpfen, so kommen die Resultate
jener Wissenschaftlichkeit, zu ihrem Erröten, ans Licht:
ein kleiner lieber Herrgott, eine artige Unsterblichkeit,
vielleicht etwas Spiritismus und jedenfalls ein ganzer
verschlungener Haufen von Armen-Sünder-Elend und
Pharisäer-Hochmut.
13
Gelegentliche Schädlichkeit der Erkenntnis.
- Die Nützlichkeit, welche die unbedingte Erforschung des
Wahren mit sich bringt, wird fortwährend so hundertfach
neu bewiesen, daß man die feinere und seltnere
Schädlichkeit, an der Einzelne ihrethalben zu leiden
haben, unbedingt mit in den Kauf nehmen muß. Man
kann es nicht verhindern, daß der Chemiker bei seinen
Versuchen sich gelegentlich vergiftet und verbrennt. -
Was vom Chemiker gilt, gilt von unsrer gesamten Kultur:
woraus sich, nebenbei gesagt, deutlich ergibt, wie
sehr dieselbe für Heilsalben bei Verbrennungen und für
das stete Vorhandensein von Gegengiften zu sorgen hat.
14
Philister-Notdurft. - Der Philister meint einen
Purpurfetzen oder Turban von Metaphysik am nötigsten
zu haben und will ihn durchaus nicht schlüpfen lassen:
und doch würde man ihn ohne diesen Putz weniger
lächerlich finden.
15
Die Schwärmer. - Mit allem, was Schwärmer zugunsten
ihres Evangeliums oder ihres Meisters sagen,
verteidigen sie sich selbst, so sehr sie sich auch als
Richter (und nicht als Angeklagte) gebärden, weil sie
unwillkürlich und fast in jedem Augenblick daran erinnert
werden, daß sie Ausnahmen sind, die sich legitimieren müssen.
16
Das Gute verführt zum Leben. - Alle guten
Dinge sind starke Reizmittel zum Leben, selbst jedes gute
Buch, das gegen das Leben geschrieben ist.
17
Glück des Historikers. - "Wenn wir die spitzfindigen
Metaphysiker und Hinterweltler reden hören,
fühlen wir anderen freilich, daß wir die `Armen im
Geist' sind, aber auch, daß unser das Himmelreich des
Wechsels, mit Frühling und Herbst, Winter und Sommer,
und jener die Hinterwelt ist - mit ihren grauen, frostigen,
unendlichen Nebeln und Schatten." - So sprach
einer zu sich bei einem Gange in der Morgensonne: einer,
dem bei der Historie nicht nur der Geist, sondern auch
das Herz sich immer neu verwandelt und der, im Gegensatze
zu den Metaphysikern, glücklich darüber ist, nicht
"eine unsterbliche Seele", sondern viele sterbliche
Seelen in sich zu beherbergen.
18
Drei Arten von Denkern. - Es gibt strömende,
fließende, tröpfelnde Mineralquellen; und dementsprechend
drei Arten von Denkern. Der Laie schätzt sie
nach der Masse des Wassers, der Kenner nach dem Gehalt
des Wassers ab, also nach dem, was eben nicht Wasser
in ihnen ist.
19
Das Bild des Lebens. - Die Aufgabe, das Bild
des Lebens zu malen, so oft sie auch von Dichtern und
Philosophen gestellt wurde, ist trotzdem unsinnig: auch
unter den Händen der größten Maler-Denker sind immer
nur Bilder und Bildchen aus einem Leben, nämlich aus
ihrem Leben, entstanden - und nichts anderes ist auch
nur möglich. Im Werdenden kann sich ein Werdendes
nicht als fest und dauernd, nicht als ein "das" spiegeln.
20
Wahrheit will keine Götter neben sich. - Der
Glaube an die Wahrheit beginnt mit dem Zweifel an
allen bis dahin geglaubten Wahrheiten.
21
Worüber Schweigen verlangt wird. - Wenn
man von der Freigeisterei wie von einer höchst gefährlichen
Gletscher- und Eismeer-Wanderung redet, so sind die,
welche jenen Weg nicht gehen wollen, beleidigt, als ob
man ihnen Zaghaftigkeit und schwache Knie zum Vorwurf
gemacht hätte. Das Schwere, dem wir uns nicht
gewachsen fühlen, soll nicht einmal vor uns genannt
werden.
22
Historia in nuce. - Die ernsthafteste Parodie, die
ich je hörte, ist diese: "im Anfang war der Unsinn, und
der Unsinn war bei Gott!, und Gott (göttlich) war der
Unsinn."
23
Unheilbar. - Ein Idealist ist unverbesserlich: wirft
man ihn aus seinem Himmel, so macht er sich aus der
Hölle ein Ideal zurecht. Man enttäuschte ihn und siehe!
- er wird die Enttäuschung nicht minder brünstig umarmen,
als er noch jüngst die Hoffnung umarmt hat. Insofern
sein Hang zu den großen unheilbaren Hängen der
menschlichen Natur gehört, kann er tragische Schicksale
herbeiführen und später Gegenstand von Tragödien werden:
als welche es eben mit dem Unheilbaren, Unabwendbaren,
Unentfliehbaren in Menschenlos und -Charakter
zu tun haben.
24
Der Beifall selber als Fortsetzung des
Schauspiels. - Strahlende Augen und ein wohlwollendes
Lächeln ist die Art des Beifalls, welcher der ganzen
großen Welt- und Daseinskomödie gezollt wird, - aber
zugleich eine Komödie in der Komödie, welche die andern
Zuschauer zum "plaudite amici" verführen soll.
25
Mut zur Langweiligkeit. - Wer den Mut nicht
hat, sich und sein Werk langweilig finden zu lassen, ist
gewiß kein Geist ersten Ranges, sei es in Künsten oder
Wissenschaften. - Ein Spötter, der ausnahmsweise auch
ein Denker wäre, könnte, bei einem Blick auf Welt und
Geschichte, hinzufügen: "Gott hatte diesen Mut nicht;
er hat die Dinge insgesamt zu interessant machen wollen
und gemacht."
26
Aus der innersten Erfahrung des Denkers.
- Nichts wird dem Menschen schwerer, als eine Sache
unpersönlich zu fassen: ich meine, in ihr eben eine Sache
und keine Person zu sehen: ja man kann fragen, ob
es ihm überhaupt möglich ist, das Uhrwerk seines personenbildenden,
personendichtenden Triebes auch nur
einen Augenblick auszuhängen. Verkehrt er doch selbst
mit Gedanken, und seien es die abstraktesten, so, als
wären es Individuen, mit denen man kämpfen, an die
man sich anschließen, welche man behüten, pflegen, aufnähren
müsse. Belauern und belauschen wir uns nur
selber, in jenen Minuten, wo wir einen uns neuen Satz
hören oder finden. Vielleicht mißfällt er uns, weil er
so trotzig, so selbstherrlich dasteht: unbewußt fragen
wir uns, ob wir ihm nicht einen Gegensatz als Feind
zur Seite ordnen, ob wir ihm ein "Vielleicht", ein
"Mitunter" anhängen können; selbst das Wörtchen
"wahrscheinlich" gibt uns eine Genugtuung, weil es die
persönlich lästige Tyrannei des Unbedingten bricht. Wenn
dagegen jener neue Satz in milder Form einherzieht, fein
duldsam und demütig und dem Widerspruche gleichsam
in die Arme sinkend, so versuchen wir es mit einer andern
Probe unsrer Selbstherrlichkeit: wie, können wir diesem
schwachen Wesen nicht zu Hilfe kommen, es streicheln
und nähren, ihm Kraft und Fülle, ja Wahrheit und selbst
Unbedingtheit geben? Ist es möglich, uns elternhaft oder
ritterlich oder mitleidig gegen dasselbe zu benehmen? -
Dann wieder sehen wir hier ein Urteil und dort ein Urteil
entfernt voneinander, ohne sich anzusehen, ohne sich
aufeinander zuzubewegen: da kitzelt uns der Gedanke, ob
hier nicht eine Ehe zu stiften, ein Schluß zu ziehen
sei, mit dem Vorgefühle, daß im Falle sich eine Folge
aus diesem Schlusse ergibt, nicht nur die beiden ehelich
verbundenen Urteile, sondern auch die Ehestifter die Ehre
davon haben. Kann man aber weder auf dem Wege des
Trotzes und Übelwollens, noch auf dem des Wohlwollens
jenem Gedanken etwas anhaben (hält man ihn für wahr
-), dann unterwirft man sich und huldigt ihm als einem
Führer und Herzoge, gibt ihm einen Ehrenstuhl und
spricht nicht ohne Gepränge und Stolz von ihm; denn
in seinem Glanze glänzt man mit. Wehe dem, der diesen
verdunkeln will; es sei denn, daß er selber uns eines
Tages bedenklich wird: - dann stoßen wir, die unermüdlichen
"Königsmacher" (king-makers) der Geschichte des
Geistes, ihn vom Throne und heben flugs seinen Gegner
hinauf. Dies erwäge man und denke noch ein Stück
weiter: gewiß wird niemand dann von einem "Erkenntnistriebe
an und für sich" reden! - Weshalb zieht also
der Mensch das Wahre dem Unwahren vor, in diesem
heimlichen Kampfe mit Gedanken-Personen, in dieser
meist versteckt bleibenden Gedanken-Ehestiftung,
Gedanken-Staatenbegründung, Gedanken-Kinderzucht,
Gedanken-Armen- und Krankenpflege? Aus dem gleichen
Grunde, aus dem er die Gerechtigkeit im Verkehre mit
wirklichen Personen übt: jetzt aus Gewohnheit,
Vererbung und Anerziehung, ursprünglich, weil das
Wahre - wie auch das Billige und Gerechte - nützlicher
und ehrbringender ist als das Unwahre. Denn
im Reiche des Denkens sind Macht und Ruf schlecht
zu behaupten, die sich auf dem Irrtum oder der Lüge
aufbauen: das Gefühl, daß ein solcher Bau irgend einmal
zusammenbrechen könne, ist demütigend für das
Selbstbewußtsein seines Baumeisters; er schämt sich der
Zerbrechlichkeit seines Materials und möchte, weil er
sich selber wichtiger als die übrige Welt nimmt, nichts
tun, was nicht dauernder als die übrige Welt wäre.
Im Verlangen nach der Wahrheit umarmt er den Glauben
an die persönliche Unsterblichkeit, das heißt den
hochmütigsten und trotzigsten Gedanken, den es gibt,
verschwistert wie er ist mit dem Hintergedanken "pereat
mundus, dum ego salvus sim!" Sein Werk ist ihm zu
seinem ego geworden, er schafft sich selber ins Unvergängliche,
allem Trotz Bietende um. Sein unermeßlicher
Stolz ist es, der nur die besten härtesten Steine zum
Werke verwenden will, Wahrheiten also oder das, was
er dafür hält. Mit Recht hat man zu allen Zeiten als
"das Laster des Wissenden" den Hochmut genannt -
doch würde es ohne dieses triebkräftige Laster erbärmlich
um die Wahrheit und deren Geltung auf Erden bestellt
sein. Darin, daß wir uns vor unsern eigenen Gedanken,
Begriffen, Worten fürchten, daß wir aber auch in
ihnen uns selber ehren, ihnen unwillkürlich die Kraft
zuschreiben, uns belohnen, verachten, loben und tadeln
zu können, darin, daß wir also mit ihnen wie mit freien
geistigen Personen, mit unabhängigen Mächten verkehren,
als Gleiche mit Gleichen - darin hat das seltsame Phänomen
seine Wurzel, welches ich "intellektuales Gewissen"
genannt habe. - So ist auch hier etwas Moralisches
höchster Gattung aus einer Schwarzwurzel herausgeblüht.
27
Die Obskuranten. - Das Wesentliche an der schwarzen
Kunst des Obskurantismus ist nicht, daß er die Köpfe
verdunkeln will, sondern daß er das Bild der Welt anschwärzen,
unsere Vorstellung vom Dasein verdunkeln
will. Dazu dient ihm zwar häufig jenes Mittel,
die Aufhellung der Geister zu hintertreiben: mitunter
aber gebraucht er gerade das entgegengesetzte Mittel
und sucht durch die höchste Verfeinerung des Intellekts
einen Überdruß an dessen Früchten zu erzeugen.
Spitzfindige Metaphysiker, welche die Skepsis vorbereiten und
durch ihren übermäßigen Scharfsinn zum Mißtrauen
gegen den Scharfsinn auffordern, sind gute Werkzeuge
eines feineren Obskurantismus. - Ist es möglich, daß
selbst Kant in dieser Absicht verwendet werden kann?
ja daß er, nach seiner eignen berüchtigten Erklärung,
etwas Derartiges, wenigstens zeitweilig, gewollt hat:
dem Glauben Bahn machen dadurch, daß er dem
Wissen seine Schranken wies? - was ihm nun freilich nicht
gelungen ist, ihm sowenig wie seinen Nachfolgern auf
den Wolfs- und Fuchsgängen dieses höchst verfeinerter
und gefährlichen Obskurantismus, ja des gefährlichsten:
denn die schwarze Kunst erscheint hier in einer Lichthülle.
28
An welcher Art von Philosophie die Kunst
verdirbt. - Wenn es den Nebeln einer metaphysisch-mystischen
Philosophie gelingt, alle ästhetischen Phänomene
undurchsichtbar zu machen, so folgt dann, daß sie
auch untereinander unabschätzbar sind, weil jedes
einzelne unerklärlich wird. Dürfen sie aber nicht einmal
mehr miteinander zum Zwecke der Abschätzung verglichen
werden, so entsteht zuletzt eine vollständige Unkritik,
ein blindes Gewährenlassen: daraus aber wiederum
eine stetige Abnahme des Genusses an der Kunst
(welcher nur durch ein höchst verschärftes Schmecken
und Unterscheiden sich von der rohen Stillung eines
Bedürfnisses unterscheidet). Je mehr aber der Genuß abnimmt,
um so mehr wandelt sich das Kunstverlangen
zum gemeinen Hunger um und zurück, dem nun der
Künstler durch immer gröbere Kost abzuhelfen sucht.
29
Auf Gethsemane. - Das Schmerzlichste, was der
Denker zu den Künstlern sagen kann, lautet: "könnt ihr
denn nicht eine Stunde mit mir wachen?
30
Am Webstuhle. - Den wenigen, welche eine Freude
daran haben, den Knoten der Dinge zu lösen und sein
Gewebe aufzutrennen, arbeiten viele entgegen (zum Beispiel
alle Künstler und Frauen), ihn immer wieder neu
zu knüpfen und zu verwickeln und so das Begriffne ins
Unbegriffne, womöglich Unbegreifliche umzubilden. Was
dabei auch sonst herauskomme - das Gewebte und Verknotete
wird immer etwas unreinlich aussehen müssen,
weil zu viele Hände daran arbeiten und ziehen.
31
In der Wüste der Wissenschaft. - Dem
wissenschaftlichen Menschen erscheinen auf seinen bescheidenen
und mühsamen Wanderungen, die oft genug Wüstenreisen
sein müssen, jene glänzenden Lufterscheinungen,
die man "philosophische Systeme" nennt: sie zeigen mit
zauberischer Kraft der Täuschung die Lösung aller
Rätsel und den frischesten Trunk wahren Lebenswassers
in der Nähe; das Herz schwelgt, und der Ermüdete berührt
das Ziel aller wissenschaftlichen Ausdauer und
Not beinahe schon mit den Lippen, so daß er wie unwillkürlich
vorwärts drängt. Freilich bleiben andere Naturen,
von der schönen Täuschung wie betäubt, stehen: die
Wüste verschlingt sie, für die Wissenschaft sind sie tot.
Wieder andere Naturen, welche jene subjektiven Tröstungen
schon öfter erfahren haben, werden wohl aufs
äußerste mißmutig und verfluchen den Salzgeschmack,
welchen jene Erscheinungen im Munde hinterlassen und
aus dem ein rasender Durst entsteht - ohne daß man
nur einen Schritt damit irgend einer Quelle näher
gekommen wäre.
32
Die angebliche "wirkliche Wirklichkeit".
- Der Dichter stellt sich so, wenn er die einzelnen
Berufsarten, z. B. die des Feldherrn, des Seidenwebers, des
Seemanns schildert, als ob er diese Dinge von Grund aus
kenne und ein Wissender sei; ja bei der Auseinandersetzung
menschlicher Handlungen und Geschicke benimmt
er sich, wie als ob er beim Ausspinnen des ganzen Weltennetzes
zugegen gewesen sei; insofern ist er ein Betrüger.
Und zwar betrügt er vor lauter Nichtwissenden -
und deshalb gelingt es ihm: diese bringen ihm das Lob
seines echten und tiefen Wissens entgegen und verleiten
ihn endlich zu dem Wahne, er wisse die Dinge wirklich
so gut wie der einzelne Kenner und Macher, ja wie die
große Welten-Spinne selber. Zuletzt also wird der Betrüger
ehrlich und glaubt an seine Wahrhaftigkeit. Ja
die empfindenden Menschen sagen es ihm sogar ins Gesicht,
er habe die höhere Wahrheit und Wahrhaftigkeit,
- sie sind nämlich der Wirklichkeit zeitweilig
müde und nehmen den dichterischen Traum als eine wohltätige
Ausspannung und Nacht für Kopf und Herz. Was
dieser Traum ihnen zeigt, erscheint ihnen jetzt mehr
wert, weil sie es, wie gesagt, wohltätiger empfinden:
und immer haben die Menschen gemeint, das wertvoller
Scheinende sei das Wahrere, Wirklichere. Die Dichter,
die sich dieser Macht bewußt sind, gehen absichtlich
darauf aus, das, was für gewöhnlich Wirklichkeit genannt
wird, zu verunglimpfen und zum Unsichern, Scheinbaren,
Unechten, Sünd-, Leid- und Trugvollen umzubilden;
sie benutzen alle Zweifel über die Grenzen der
Erkenntnis, alle skeptischen Ausschreitungen, um die
faltigen Schleier der Unsicherheit über die Dinge zu breiten:
damit dann, nach dieser Verdunkelung, ihre Zauberei und
Seelenmagie recht unbedenklich als Weg zur "wahren
Wahrheit", zur "wirklichen Wirklichkeit" verstanden
werde.
33
Gerecht sein wollen und Richter sein wollen.
- Schopenhauer, dessen große Kennerschaft für Menschliches
und Allzumenschliches, dessen ursprünglicher Tatsachen-Sinn
nicht wenig durch das bunte Leoparden-Fell
seiner Metaphysik beeinträchtigt worden ist (welches man
ihm erst abziehen muß, um ein wirkliches Moralisten-Genie
darunter zu entdecken) - Schopenhauer macht jene
treffliche Unterscheidung, mit der er viel mehr recht
behalten wird, als er sich selber eigentlich zugestehen
durfte: "die Einsicht in die strenge Notwendigkeit der
menschlichen Handlungen ist die Grenzlinie, welche die
philosophischen Köpfe von den andern scheidet."
Dieser mächtigen Einsicht, welcher er zuzeiten offen
stand, wirkte er bei sich selber durch jenes Vorurteil
entgegen, welches er mit den moralischen Menschen (nicht
mit den Moralisten) noch gemein hatte und das er ganz
harmlos und gläubig so ausspricht: "der letzte und wahre
Aufschluß über das innere Wesen des Ganzen der Dinge
muß notwendig eng zusammenhängen mit dem über die
ethische Bedeutsamkeit des menschlichen Handelns" -
was eben durchaus nicht "notwendig" ist, vielmehr durch
jenen Satz von der strengen Notwendigkeit der menschlichen
Handlungen, das heißt der unbedingten Willens-Unfreiheit
und -Unverantwortlichkeit, eben abgelehnt
wird. Die philosophischen Köpfe werden sich also von
den andern durch den Unglauben an die metaphysische
Bedeutsamkeit der Moral unterscheiden: und das dürfte
eine Kluft zwischen sie legen, von deren Tiefe und
Unüberbrückbarkeit die so beklagte Kluft zwischen "Gebildet"
und "Ungebildet", wie sie jetzt existiert, kaum
einen Begriff gibt. Freilich muß noch manche Hintertüre,
welche sich die "philosophischen Köpfe", gleich
Schopenhauern selbst, gelassen haben, als nutzlos erkannt
werden: keine führt ins Freie, in die Luft des freien
Willens; jede, durch welche man bisher geschlüpft ist,
zeigte dahinter wieder die ehern blinkende Mauer des
Fatums: wir sind im Gefängnis, frei können wir uns
nur träumen, nicht machen. Daß dieser Erkenntnis
nicht lange mehr widerstrebt werden kann, das zeigen
die verzweifelten und unglaublichen Stellungen und Verzerrungen
derer an, welche gegen sie andringen, mit ihr
noch den Ringkampf fortsetzen. - So ungefähr geht es
bei ihnen jetzt zu: "also kein Mensch verantwortlich?
Und alles voll Schuld und Schuldgefühl? Aber irgendwer
muß doch der Sünder sein: ist es unmöglich und nicht
mehr erlaubt, den einzelnen, die arme Welle im notwendigen
Wellenspiele des Werdens anzuklagen und zu
richten - nun denn: so sei das Wellenspiel selbst, das
Werden, der Sünder: hier ist der freie Wille, hier darf
angeklagt, verurteilt, gebüßt und gesühnt werden: so sei
Gott der Sünder und der Mensch sein Erlöser: so
sei die Weltgeschichte Schuld, Selbstverurteilung und
Selbstmord; so werde der Missetäter zum eigenen Richter,
der Richter zum eigenen Henker." - Dieses auf den
Kopf gestellte Christentum - was ist es denn sonst?
- ist der letzte Fechter-Ausfall im Kampfe der Lehre
von der unbedingten Moralität mit der von der
unbedingten Unfreiheit - ein schauerliches Ding, wenn es
mehr wäre als eine logische Grimasse, mehr als eine
häßliche Gebärde des unterliegenden Gedankens - etwa
der Todeskrampf des verzweifelnden und heilsüchtigen
Herzens, dem der Wahnsinn zuflüstert: "Siehe, du bist
das Lamm, das Gottes Sünde trägt". - Der Irrtum steckt
nicht nur im Gefühle "ich bin verantwortlich", sondern
ebenso in jenem Gegensatze "ich bin es nicht, aber irgendwer
muß es doch sein". - Dies ist eben nicht wahr: der
Philosoph hat also zu sagen, wie Christus, "richtet
nicht!", und der letzte Unterschied zwischen den
philosophischen Köpfen und den andern wäre der, daß die
ersten gerecht sein wollen, die andern Richter
sein wollen.
34
Aufopferung. - Ihr meint, das Kennzeichen der
moralischen Handlung sei die Aufopferung? - Denkt
doch nach, ob nicht bei jeder Handlung, die mit
Überlegung getan wird, Aufopferung dabei ist, bei der
schlechtesten wie bei der besten.
35
Gegen die Nierenprüfer der Sittlichkeit.
- Man muß das Beste und das Schlechteste kennen, dessen
ein Mensch fähig ist, im Vorstellen und Ausführen, um
zu beurteilen, wie stark seine sittliche Natur ist und
wurde. Aber jenes zu erfahren ist unmöglich.
36
Schlangenzahn. - Ob man einen Schlangenzahn
habe oder nicht, weiß man nicht eher, als bis jemand
die Ferse auf uns gesetzt hat. Eine Frau oder Mutter
würde sagen: bis jemand die Ferse auf unsern Liebling,
unser Kind gesetzt hat. - Unser Charakter wird noch
mehr durch den Mangel gewisser Erlebnisse als durch
das, was man erlebt, bestimmt.
37
Der Betrug in der Liebe. - Man vergißt manches
aus seiner Vergangenheit und schlägt es sich absichtlich
aus dem Sinn: das heißt, man will, daß unser Bild, welches
von der Vergangenheit her uns anstrahlt, uns belüge.
unserm Dünkel schmeichele - wir arbeiten fortwährend
an diesem Selbstbetruge. - Und nun meint ihr, die ihr
so viel vom "Sichselbstvergessen in der Liebe", vom "Aufgehen
des Ich in der anderen Person" redet und rühmt,
dies sei etwas wesentlich anderes? Also man zerbricht
den Spiegel, dichtet sich in eine Person hinein, die man
bewundert, und genießt nun das neue Bild seines Ich, ob
man es schon mit dem Namen der andern Person nennt -
und dieser ganze Vorgang soll nicht Selbstbetrug, nicht
Selbstsucht sein, ihr - Wunderlichen! - Ich denke, die,
welche etwas von sich vor sich verhehlen und die, welche
sich als Ganzes vor sich verhehlen, sind darin gleich, daß
sie in der Schatzkammer der Erkenntnis einen Diebstahl
verüben: woraus sich ergibt, vor welchem Vergehen der
Satz "erkenne dich selbst" warnt.
38
An den Leugner seiner Eitelkeit. - Wer die
Eitelkeit bei sich leugnet, besitzt sie gewöhnlich in so
brutaler Form, daß er instinktiv vor ihr das Auge
schließt, um sich nicht verachten zu müssen.
39
Weshalb die Dummen so oft boshaft werden.
- Auf Einwände des Gegners, gegen welche sich unser
Kopf zu schwach fühlt, antwortet unser Herz durch
Verdächtigung der Motive seiner Einwände.
40
Die Kunst der moralischen Ausnahmen. -
Einer Kunst, welche die Ausnahmefälle der Moral zeigt
und verherrlicht - dort, wo das Gute schlecht, das
Ungerechte gerecht wird -, darf man nur selten Gehör
geben: wie man von Zigeunern ab und zu etwas kauft,
doch mit Scheu, daß sie nicht viel mehr entwenden, als
der Gewinn beim Kaufe ist.
41
Genuß und Nicht-Genuß von Giften. - Das
einzige entscheidende Argument, welches zu allen Zeiten
die Menschen abgehalten hat, ein Gift zu trinken, ist
nicht, daß es tötete, sondern daß es schlecht schmeckte.
42
Die Welt ohne Sündengefühle. - Wenn nur
solche Taten getan würden, welche kein schlechtes
Gewissen erzeugen, so sähe die menschliche Welt immer
noch schlecht und schurkenhaft genug aus: aber nicht
so kränklich und erbärmlich wie jetzt. - Es lebten genug
Böse ohne Gewissen zu allen Zeiten: und vielen Guten
und Braven fehlt das Lustgefühl des guten Gewissens.
43
Die Gewissenhaften. - Seinem Gewissen folgen
ist bequemer als seinem Verstande: denn es hat bei jedem
Mißerfolg eine Entschuldigung und Aufheiterung in sich.
Darum gibt es immer noch so viele Gewissenhafte gegen
so wenig Verständige.
44
Entgegengesetzte Mittel, das Bitterwerden zu
verhüten. - Dem einen Temperament ist es von Nutzen,
seinen Verdruß in Worten auslassen zu können: im Reden
versüßt es sich. Ein anderes Temperament kommt erst
durch Aussprechen zu seiner vollen Bitterkeit: ihm ist
es rätlicher, etwas hinunterschlucken zu müssen: der
Zwang, den Menschen solcher Art sich vor Feinden oder
Vorgesetzten antun, verbessert ihren Charakter und verhütet,
daß er allzu scharf und sauer wird.
45
Nicht zu schwer nehmen. - Sich wund liegen
ist unangenehm, aber doch kein Beweis gegen die Güte
der Kur, nach der man bestimmt wurde, sich zu Bett zu
legen. - Menschen, die lange außer sich lebten und endlich
sich dem philosophischen Innen- und Binnenleben
zuwandten, wissen, daß es auch ein Sich-wund-liegen von
Gemüt und Geist gibt. Dies ist also kein Argument gegen
die gewählte Lebensweise im ganzen, macht aber einige
kleine Ausnahmen und scheinbare Rückfälligkeiten nötig.
46
Das menschliche "Ding an sich". - Das verwundbarste
Ding und doch das unbesiegbarste ist die menschliche
Eitelkeit: ja, durch die Verwundung wächst seine
Kraft und kann zuletzt riesengroß werden.
47
Die Posse vieler Arbeitsamen. - Sie erkämpfen
durch ein Übermaß von Anstrengung sich freie Zeit und
wissen nachher nichts mit ihr anzufangen als die Stunden
abzuzählen, bis sie abgelaufen sind.
48
Viel Freude haben. - Wer viel Freude hat, muß
ein guter Mensch sein: aber vielleicht ist er nicht der
klügste, obwohl er gerade das erreicht, was der Klügste
mit aller seiner Klugheit erstrebt.
49
Im Spiegel der Natur. - Ist ein Mensch nicht
ziemlich genau beschrieben, wenn man hört, daß er gern
zwischen gelben hohen Kornfeldern geht, daß er die
Waldes- und Blumenfarben des abglühenden und vergilbten
Herbstes allen andern vorzieht, weil sie auf
Schöneres hindeuten als der Natur je gelingt, daß er
unter großen fettblättrigen Nußbäumen sich ganz heimisch
wie unter Blutsverwandten fühlt, daß im Gebirge
seine größte Freude ist, jenen kleinen abgelegenen Seen
zu begegnen, aus denen ihn die Einsamkeit selber mit
ihren Augen anzusehen scheint, daß er jene graue Ruhe
der Nebel-Dämmerung liebt, welche an Herbst- und
Frühwinter-Abenden an die Fenster heranschleicht und jedes
seelenlose Geräusch wie mit Samtvorhängen ausschließt,
daß er unbehauenes Gestein als übrig gebliebene, der
Sprache begierige Zeugen der Vorzeit empfindet und von
Kind an verehrt, und zuletzt, daß ihm das Meer mit seiner
beweglichen Schlangenhaut und Raubtier-Schönheit fremd
ist und bleibt? - Ja, etwas von diesem Menschen ist
allerdings damit beschrieben: aber der Spiegel der Natur
sagt nichts darüber, daß derselbe Mensch, bei aller seiner
idyllischen Empfindsamkeit (und nicht einmal "trotz
ihrer"), ziemlich lieblos, knauserig und eingebildet sein
könnte. Horaz, der sich auf dergleichen Dinge verstand,
hat das zarteste Gefühl für das Landleben einem römischen
Wucherer in Mund und Seele gelegt, in dem
berühmten "beatus ille qui procul negotiis".
50
Macht ohne Siege. - Die stärkste Erkenntnis (die
von der völligen Unfreiheit des menschlichen Willens)
ist doch die ärmste an Erfolgen: denn sie hat immer den
stärksten Gegner, die menschliche Eitelkeit.
51
Lust und Irrtum. - Der eine teilt sich unwillkürlich
durch sein Wesen an seine Freunde wohltätig mit,
der andere willkürlich durch einzelne Handlungen. Ob
gleich das erstere als das Höhere gilt, so ist doch nur
das zweite mit dem guten Gewissen und der Lust verknüpft -
nämlich mit der Lust der Werkheiligkeit,
welche auf dem Glauben an die Willkür unsres Gut- und
Schlimmtuns, das heißt auf einem Irrtum ruht.
52
Es ist töricht, Unrecht zu tun. - Eignes Unrecht,
das man zugefügt hat, ist viel schwerer zu tragen als
fremdes, das einem zugefügt wurde (nicht gerade aus
moralischen Gründen, wohlgemerkt -); der Täter ist
eigentlich immer der Leidende, wenn er nämlich
entweder den Gewissensbissen zugänglich ist oder der Einsicht,
daß er die Gesellschaft gegen sich durch seine
Handlung bewaffnet und sich isoliert habe. Deshalb
sollte man sich, schon seines inneren Glückes wegen, also
um seines Wohlbehagens nicht verlustig zu gehen, ganz
abgesehen von allem, was Religion und Moral gebieten, vor
dem Unrecht-Tun in acht nehmen, mehr noch als vor dem
Unrecht-Erfahren: denn letzteres hat den Trost des guten
Gewissens, der Hoffnung auf Rache, auf Mitleiden und
Beifall der Gerechten, ja der ganzen Gesellschaft, welche
sich vor dem Übeltäter fürchtet. - Nicht wenige verstehen
sich auf die unsaubere Selbstüberlistung, jedes
eigne Unrecht in ein fremdes, ihnen zugefügtes umzumünzen
und für das, was sie selber getan haben, sich das
Ausnahmerecht der Notwehr zur Entschuldigung vorzubehalten:
um auf diese Weise viel leichter an ihrer Last
zu tragen.
53
Neid mit oder ohne Mundstück. - Der gewöhnliche
Neid pflegt zu gackern, sobald das beneidete Huhn
ein Ei gelegt hat: er erleichtert sich dabei und wird
milder. Es gibt aber einen noch tieferen Neid: der wird
in solchem Falle totenstill, und wünschend, daß jetzt
jeder Mund versiegelt würde, immer wütender darüber,
daß dies gerade nicht geschieht. Der schweigende Neid
wächst im Schweigen.
54
Der Zorn als Spion. - Der Zorn schöpft die Seele
aus und bringt selbst den Bodensatz ans Licht. Man muß
deshalb, wenn man sonst sich nicht Klarheit zu schaffen
weiß, seine Umgebung, seine Anhänger und Gegner in
Zorn zu versetzen wissen, um zu erfahren, was im Grunde
alles wider uns geschieht und gedacht wird.
55
Die Verteidigung moralisch schwieriger als
der Angriff. - Das wahre Helden- und Meisterstück
des guten Menschen liegt nicht darin, daß er die Sache
angreift und die Person fortfährt zu lieben, sondern in
dem viel schwereren, seine eigne Sache zu verteidigen,
ohne daß man der angreifenden Person bitteres Herzeleid
mache und machen wolle. Das Schwert des Angriffs ist
ehrlich und breit, das der Verteidigung läuft gewöhnlich
in eine Nadel aus.
56
Ehrlich gegen die Ehrlichkeit. - Einer, der
gegen sich öffentlich ehrlich ist, bildet sich zu allerletzt
etwas auf diese Ehrlichkeit ein: denn er weiß nur zu
gut, warum er ehrlich ist - aus demselben Grunde, aus
dem ein anderer den Schein und die Verstellung vorzieht.
57
Glühende Kohlen. - Glühende Kohlen auf des
andern Haupt sammeln wird gewöhnlich mißverstanden
und schlägt fehl, weil der andere sich ebenfalls im Besitze
des Rechts weiß und auch seinerseits an das Kohlensammeln
gedacht hat.
58
Gefährliche Bücher. - Da sagt einer "ich merke
es an mir selber: dies Buch ist schädlich". Aber er warte
nur ab und vielleicht gesteht er sich eines Tages, daß
dasselbe Buch ihm einen großen Dienst erwies, indem
es die versteckte Krankheit seines Herzens hervortrieb
und in die Sichtbarkeit brachte. - Veränderte Meinungen
verändern den Charakter eines Menschen nicht (oder ganz
wenig); wohl aber beleuchten sie einzelne Seiten des Gestirns
seiner Persönlichkeit, welche bisher, bei einer
andern Konstellation von Meinungen, dunkel und unerkennbar
geblieben waren.
59
Geheucheltes Mitleiden. - Man heuchelt Mitleiden,
wenn man über das Gefühl der Feindseligkeit sich
erhaben zeigen will: aber gewöhnlich umsonst. Dies
bemerkt man nicht ohne ein starkes Zunehmen jener
feindseligen Empfindung.
60
Offner Widerspruch oft versöhnend. - Im
Augenblick, wo einer seine Differenz der Lehrmeinung
in Hinsicht auf einen berühmten Parteiführer oder Lehrer
öffentlich zu erkennen gibt, glaubt alle Welt, er müsse
ihm gram sein. Mitunter hört er aber gerade da auf,
ihm gram zu sein: er wagt es, sich selber neben ihn
aufzustellen, und ist die Qual der unausgesprochenen
Eifersucht los.
61
Sein Licht leuchten sehen. - Im verfinsterten Zustande
von Trübsal, Krankheit, Verschuldung sehen wir
es gern, wenn wir anderen noch leuchten und sie an uns
die helle Mondesscheibe wahrnehmen. Auf diesem Umwege
nehmen wir an unserer eigenen Fähigkeit zu erhellen Anteil.
62
Mitfreude. - Die Schlange, die uns sticht, meint
uns wehe zu tun und freut sich dabei; das niedrigste Tier
kann sich fremden Schmerz vorstellen. Aber fremde
Freude sich vorstellen und sich dabei freuen ist das
höchste Vorrecht der höchsten Tiere und wieder unter
ihnen nur den ausgesuchtesten Exemplaren zugänglich
- also ein seltenes humanum: so daß es Philosophen
gegeben hat, welche die Mitfreude geleugnet haben.
63
Nachträgliche Schwangerschaft. - Die, welche
zu ihren Werken und Taten gekommen sind, sie wissen
nicht wie, gehen gewöhnlich hinterher um so mehr mit
ihnen schwanger: wie, um nachträglich zu beweisen, daß
es ihre Kinder und nicht die des Zufalls sind.
64
Aus Eitelkeit hartherzig. - Wie Gerechtigkeit
so häufig der Deckmantel der Schwäche ist, so greifen
billig denkende, aber schwache Menschen mitunter aus
Ehrgeiz zur Verstellung und benehmen sich ersichtlich
ungerecht und hart, um den Eindruck der Stärke zu
hinterlassen.
65
Demütigung. - Findet jemand in einem geschenkten
Sack Vorteil auch nur ein Korn Demütigung, so macht
er doch noch eine böse Miene zum guten Spiele.
66
Äußerstes Herostratentum. - Es könnte
Herostrate geben, welche den eignen Tempel anzündeten,
in dem ihre Bilder verehrt werden.
67
Die Diminutiv-Welt. - Der Umstand, daß alles
Schwache und Hilfsbedürftige zu Herzen spricht, bringt
die Gewohnheit mit sich, daß wir alles, was uns zu Herzen
spricht, mit Verkleinerungs- und Abschwächungsworten bezeichnen - also, für unsere Empfindung
schwach und hilfsbedürftig machen.
68
Üble Eigenschaft des Mitleidens. - Das
Mitleiden hat eine eigene Unverschämtheit als Gefährtin:
denn weil es durchaus helfen möchte, ist es weder über
die Mittel der Heilung, noch über Art und Ursache der
Krankheit in Verlegenheit und quacksalbert mutig auf
die Gesundheit und den Ruf seines Patienten los.
69
Zudringlichkeit. - Es gibt auch eine Zudringlichkeit
gegen Werke; und sich als Jüngling schon nachahmend
zu den erlauchtesten Werken aller Zeiten mit der
Vertraulichkeit des Du und Du zu gesellen, beweist einen
völligen Mangel an Scham. - Andre sind nur aus Ignoranz
zudringlich: sie wissen nicht, mit wem sie es zu
tun haben - so nicht selten junge und alte Philologen
im Verhältnis zu den Werken der Griechen.
70
Der Wille schämt sich des Intellektes. - Mit
aller Kälte machen wir vernünftige Entwürfe gegen unsre
Affekte: dann aber begehen wir die gröbsten Fehler dagegen,
weil wir uns häufig im Augenblick, wo der Vorsatz
ausgeführt werden sollte, jener Kälte und Besonnenheit
schämen, mit der wir ihn faßten. Und so tut man
dann gerade das Unvernünftige, aus jener Art trotziger
Großherzigkeit, welche jeder Affekt mit sich bringt.
71
Warum die Skeptiker der Moral mißfallen.
- Wer seine Moralität hoch und schwer nimmt, zürnt den
Skeptikern auf dem Gebiete der Moral: denn dort, wo
er alle seine Kraft aufwendet, soll man staunen, aber
nicht untersuchen und zweifeln. - Dann gibt es Naturen,
deren letzter Rest von Moralität eben der Glaube an
Moral ist: sie benehmen sich ebenso gegen die Skeptiker,
womöglich noch leidenschaftlicher.
72
Schüchternheit. - Alle Moralisten sind schüchtern,
weil sie wissen, daß sie mit Spionierern und Verrätern
verwechselt werden, sobald man ihren Hang ihnen anmerkt.
Sodann sind sie sich überhaupt bewußt, im Handeln
unkräftig zu sein: denn mitten im Werke ziehen
die Motive ihres Tuns ihre Aufmerksamkeit fast vom
Werke ab.
73
Eine Gefahr für die allgemeine Moralität.
- Menschen, die zugleich edel und ehrlich sind, bringen es
zu Wege, jede Teufelei, welche ihre Ehrlichkeit ausheckt,
zu vergöttlichen und die Waage des moralischen Urteils
eine Zeitlang stillzustellen.
74
Bitterster Irrtum. - Es beleidigt unversöhnlich,
zu entdecken, daß man dort, wo man überzeugt war geliebt
zu sein nur als Hausgerät und Zimmerschmuck betrachtet
wurde, an dem der Hausherr vor Gästen seine
Eitelkeit auslassen kann.
75
Liebe und Zweiheit. - Was ist denn Liebe anders
als verstehen und sich darüber freuen, daß ein andrer in
andrer und entgegengesetzter Weise als wir lebt, wirkt
und empfindet? Damit die Liebe die Gegensätze durch
Freude überbrücke, darf sie dieselben nicht aufheben,
nicht leugnen. - Sogar die Selbsthilfe enthält die unvermischbare
Zweiheit (oder Vielheit) in einer Person als
Voraussetzung.
76
Aus dem Traume deuten. - Was man mitunter
im Wachen nicht genau weiß und fühlt - ob man gegen
eine Person ein gutes oder ein schlechtes Gewissen habe -
darüber belehrt völlig unzweideutig der Traum.
77
Ausschweifung. Die Mutter der Ausschweifung
ist nicht die Freude, sondern die Freudlosigkeit.
78
Strafen und belohnen. - Niemand klagt an,
ohne den Hintergedanken an Strafe und Rache zu haben
- selbst wenn man sein Schicksal, ja sich selber anklagt.
- Alles Klagen ist Anklagen, alles Sich-freuen ist Loben:
wir mögen das eine oder das andere tun, immer machen
wir jemanden verantwortlich.
79
Zweimal ungerecht. - Wir fördern mitunter die
Wahrheit durch eine doppelte Ungerechtigkeit, dann
nämlich, wenn wir die beiden Seiten einer Sache, die wir nicht
imstande sind zusammen zu sehen, hintereinander sehen
und darstellen, doch so, daß wir jedesmal die andre Seite
verkennen oder leugnen, im Wahne, das, was wir sehen,
sei die ganze Wahrheit.
80
Mißtrauen. - Das Mißtrauen an sich selber geht
nicht mehr unsicher und scheu daher, sondern mitunter
wie tollwütig: es hat sich berauscht, um nicht zu zittern.
81
Philosophie des Parvenu. - Will man einmal
eine Person sein, so muß man auch seinen Schatten in Ehren
halten.
82
Sich rein zu waschen verstehen. - Man muß
lernen, aus unreinlichen Verhältnissen reinlicher
hervorzugehen, und sich, wenn es not tut, auch mit schmutzigem
Wasser waschen.
83
Sich gehen lassen. - Je mehr sich einer gehen läßt
um so weniger lassen ihn die andern gehen.
84
Der unschuldige Schuft. - Es gibt einen langsamen
schrittweisen Weg zu Laster und Schurkenhaftigkeit
jeder Art. Am Ende desselben haben den, welcher ihn
geht, die Insekten-Schwärme des schlechten Gewissens
völlig verlassen, und er wandelt, obschon ganz verrucht,
doch in Unschuld.
85
Pläne machen. - Pläne machen und Vorsätze fassen
bringt viel gute Empfindungen mit sich; und wer die
Kraft hätte, sein ganzes Leben lang nichts als ein
Pläne-Schmiedender zu sein, wäre ein sehr glücklicher Mensch;
aber er wird sich gelegentlich von dieser Tätigkeit ausruhen
müssen dadurch, daß er einen Plan ausführt - und
da kommt der Ärger und die Ernüchterung.
86
Womit wir das Ideal sehen. - Jeder tüchtige
Mensch ist verrannt in seine Tüchtigkeit und kann aus
ihr nicht frei hinausblicken. Hätte er sonst nicht sein gut
Teil von Unvollkommenheit, er könnte seiner Tugend
halber zu keiner geistig-sittlichen Freiheit kommen.
Unsre Mängel sind die Augen, mit denen wir das Ideal
sehen.
87
Unehrliches Lob. - Unehrliches Lob macht
hinterdrein viel mehr Gewissensbisse als unehrlicher Tadel,
wahrscheinlich nur deshalb, weil wir durch zu starkes Loben
unsere Urteilsfähigkeit viel stärker bloßgestellt haben
als durch zu starkes, selbst ungerechtes Tadeln.
88
Wie man stirbt, ist gleichgültig. - Die
ganze Art, wie ein Mensch während seines vollen Lebens,
seiner blühenden Kraft an den Tod denkt, ist freilich sehr
sprechend und zeugnisgebend für das, was man seinen
Charakter nennt; aber die Stunde des Sterbens selber,
seine Haltung auf dem Totenbette ist fast gleichgültig
dafür. Die Erschöpfung des ablaufenden Daseins, namentlich
wenn alte Leute sterben, die unregelmäßige oder
unzureichende Ernährung des Gehirns während dieser letzten
Zeit, das gelegentlich sehr Gewaltsame des Schmerzes,
das Unerprobte und Neue des ganzen Zustandes und gar
zu häufig der An- und Rückfall von abergläubischen Eindrücken
und Beängstigungen, als ob am Sterben viel gelegen
sei und hier Brücken schauerlichster Art überschritten
würden, - dies alles erlaubt es nicht, das Sterben
als Zeugnis über den Lebenden zu benutzen. Auch ist
es nicht wahr, daß der Sterbende im allgemeinen ehrlicher
wäre als der Lebende: vielmehr wird fast jeder
durch die feierliche Haltung der Umgebenden, die
zurückgehaltnen oder fließenden Tränen- und Gefühlsbäche
zu einer bald bewußten, bald unbewußten Komödie der
Eitelkeit verführt. Der Ernst, mit dem jeder Sterbende
behandelt wird, ist gewiß gar manchem armen verachteten
Teufel der feinste Genuß seines ganzen Lebens und
eine Art Schadenersatz und Abschlagszahlung für viele
Entbehrungen gewesen.
89
Die Sitte und ihr Opfer. - Der Ursprung der
Sitte geht auf zwei Gedanken zurück: "die Gemeinde ist
mehr wert als der einzelne" und "der dauernde Vorteil ist
dem flüchtigen vorzuziehen"; woraus sich der Schluß ergibt,
daß der dauernde Vorteil der Gemeinde unbedingt
dem Vorteile des einzelnen, namentlich seinem momentanen
Wohlbefinden, aber auch seinem dauernden Vorteile
und selbst seinem Weiterleben voranzustellen sei. Ob nun
der einzelne von einer Einrichtung leide, die dem Ganzen
frommt, ob er an ihr verkümmre, ihretwegen zugrunde
gehe - die Sitte muß erhalten, das Opfer gebracht werden.
Eine solche Gesinnung entsteht aber nur in denen,
welche nicht das Opfer sind - denn dieses macht in
seinem Falle geltend, daß der einzelne mehr wert sein
könne als viele, ebenso daß der gegenwärtige Genuß, der
Augenblick im Paradiese vielleicht höher anzuschlagen
sei als eine matte Fortdauer von leidlichen oder wohlhäbigen
Zuständen. Die Philosophie des Opfertiers wird
aber immer zu spät laut: und so bleibt es bei der Sitte
und der Sittlichkeit: als welche eben nur die
Empfindung für den ganzen Inbegriff von Sitten ist, unter
denen man lebt und erzogen wurde - und zwar erzogen
nicht als einzelner, sondern als Glied eines Ganzen, als
Ziffer einer Majorität. - So kommt es fortwährend vor,
daß der einzelne sich selbst, vermittels seiner Sittlichkeit,
majorisiert.
90
Das Gute und das gute Gewissen. - Ihr
meint, alle guten Dinge hätten zu aller Zeit ein gutes
Gewissen gehabt? - Die Wissenschaft, also gewißlich etwas
sehr Gutes, ist ohne ein solches und ganz bar alles Pathos
in die Welt getreten, vielmehr heimlich, auf Umwegen,
mit verhülltem oder maskiertem Haupte einherziehend,
gleich einer Verbrecherin, und immer mindestens mit
dem Gefühle einer Schleichhändlerin. Das gute Gewissen
hat als Vorstufe das böse Gewissen - nicht als Gegensatz:
denn alles Gute ist einmal neu, folglich ungewohnt, wider
die Sitte, unsittlich gewesen und nagte im Herzen des
glücklichen Erfinders wie ein Wurm.
91
Der Erfolg heiligt die Absichten. - Man
scheue sich nicht, den Weg zu einer Tugend zu gehen, selbst
wenn man deutlich einsieht, daß nichts als Egoismus -
also Nutzen, persönliches Behagen, Furcht, Rücksicht auf
Gesundheit, auf Ruf oder Ruhm - die dazu treibenden
Motive sind. Man nennt diese Motive unedel und selbstisch:
gut, aber wenn sie uns zu einer Tugend, zum Beispiel
Entsagung, Pflichttreue, Ordnung, Sparsamkeit, Maß
und Mitte anreizen, so höre man ja auf sie, wie auch ihre
Beiworte lauten mögen! Erreicht man nämlich das, wozu
sie rufen, so veredelt die erreichte Tugend,
vermöge der reinen Luft, die sie atmen läßt, und des
seelischen Wohlgefühls, das sie mitteilt, immerfort die ferneren
Motive unseres Handelns, und wir tun dieselben
Handlungen später nicht mehr aus den gleichen gröbern
Motiven, welche uns früher dazu führten. - Die Erziehung
soll deshalb die Tugenden, so gut es geht, erzwingen,
je nach der Natur des Zöglings: die Tugend
selber, als die Sonnen- und Sommerluft der Seele, mag
dann ihr eigenes Werk daran tun und Reife und Süßigkeit
hinzuschenken.
92
Christentümler, nicht Christen. - Das
wäre also euer Christentum! - Um Menschen zu ärgern,
preist ihr "Gott und seine Heiligen", und wiederum, wenn
ihr Menschen preisen wollt, so treibt ihr es so weit, daß
Gott und seine Heiligen sich ärgern müssen. - Ich
wollte, ihr lerntet wenigstens die christlichen Manieren,
da es euch so an der Manierlichkeit des christlichen
Herzens gebricht.
93
Natureindruck der Frommen und Unfrommen. -
Ein ganz frommer Mensch muß uns ein
Gegenstand der Verehrung sein: aber ebenso ein ganzer
aufrichtiger durchdrungener Unfrommer. Ist man bei Menschen
der letzteren Art wie in der Nähe des Hochgebirges,
wo die kräftigsten Ströme ihren Ursprung haben, so bei
den Frommen wie unter saftvollen, breitschattigen,
ruhigen Bäumen.
94
Justizmorde. - Die zwei größten Justizmorde in
der Weltgeschichte sind, ohne Umschweife gesprochen, verschleierte
und gut verschleierte Selbstmorde. In beiden
Fällen wollte man sterben; in beiden Fällen ließ man
sich das Schwert durch die Hand der menschlichen Ungerechtigkeit
in die Brust stoßen.
95
"Liebe". - Der feinste Kunstgriff, welchen das
Christentum vor den übrigen Religionen voraushat, ist
ein Wort: es redete von Liebe. So wurde es die
lyrische Religion (während in seinen beiden anderen
Schöpfungen das Semitentum der Welt heroisch-epische Religionen
geschenkt hat). Es ist in dem Worte Liebe etwas
so Vieldeutiges, Anregendes, zur Erinnerung, zur Hoffnung
Sprechendes, daß auch die niedrigste Intelligenz
und das kälteste Herz noch etwas von dem Schimmer
dieses Wortes fühlt. Das klügste Weib und der gemeinste
Mann denken dabei an die verhältnismäßig uneigennützigsten
Augenblicke ihres gesamten Lebens, selbst wenn
Eros nur einen niedrigen Flug bei ihnen genommen hat;
und jene Zahllosen, welche Liebe vermissen, von seiten
der Eltern, Kinder oder Geliebten, namentlich aber die
Menschen der sublimierten Geschlechtlichkeit, haben im
Christentum ihren Fund gemacht.
96
Das erfüllte Christentum. - Es gibt auch
innerhalb des Christentums eine epikureische Gesinnung,
ausgehend von dem Gedanken, daß Gott von dem Menschen,
seinem Geschöpf und Ebenbilde, nur verlangen
könne, was diesem zu erfüllen möglich sein müsse, daß
also christliche Tugend und Vollkommenheit erreichbar
und oft erreicht sei. Nun macht zum Beispiel der Glaube,
seine Feinde zu lieben - selbst wenn es eben nur
Glaube, Einbildung und durchaus keine psychologische
Wirklichkeit (also keine Liebe) ist -, unbedingt glücklich,
solange er wirklich geglaubt wird (warum? darüber
werden freilich Psycholog und Christ verschieden denken).
Und so möchte das irdische Leben durch den Glauben,
ich meine die Einbildung, nicht nur jenem Anspruche,
seine Feinde zu lieben, sondern allen übrigen christlichen
Ansprüchen zu genügen und die göttliche Vollkommenheit
nach der Aufforderung "seid vollkommen, wie euer Vater
im Himmel vollkommen ist" wirklich sich angeeignet und
einverleibt zu haben, in der Tat zu einem seligen Leben
werden. Der Irrtum kann also die Verheißung
Christi zur Wahrheit machen.
97
Von der Zukunft des Christentums. -
Über das Verschwinden des Christentums und darüber, in
welchen Gegenden es am langsamsten weichen wird, kann
man sich eine Vermutung gestatten, wenn man erwägt, aus
welchen Gründen und wo der Protestantismus so
ungestüm um sich griff. Er verhieß bekanntlich alles dasselbe
weit billiger zu leisten, was die alte Kirche leistete,
also ohne kostspielige Seelenmessen, Wallfahrten, Priester-Prunk
und Üppigkeit; er verbreitete sich namentlich
bei den nördlichen Nationen, welche nicht so tief in
der Symbolik und Formenlust der alten Kirche eingewurzelt
waren als die des Südens: bei diesen lebte ja
im Christentum das viel mächtigere religiöse Heidentum
fort, während im Norden das Christentum einen Gegensatz
und Bruch mit dem Altheimischen bedeutete und
deshalb mehr gedankenhaft als sinnfällig von Anfang an
war, eben deshalb aber auch, zu Zeiten der Gefahr,
fanatischer und trotziger. Gelingt es, vom Gedanken
aus das Christentum zu entwurzeln, so liegt auf der Hand,
wo es anfangen wird, zu verschwinden: also gerade dort,
wo es auch am allerhärtesten sich wehren wird. Anderwärts
wird es sich beugen, aber nicht brechen, entblättert
werden, aber wieder Blätter ansetzen - weil dort
die Sinne und nicht die Gedanken für dasselbe Partei
genommen haben. Die Sinne aber sind es, welche auch
den Glauben unterhalten, daß mit allem Kostenaufwand
der Kirche doch immer noch billiger und bequemer
gewirtschaftet werde als mit den strengen Verhältnissen
von Arbeit und Lohn: denn welches Preises hält
man die Muße (oder die halbe Faulheit) für wert, wenn
man sich erst an sie gewöhnt hat! Die Sinne wenden
gegen eine entchristlichte Welt ein, daß in ihr zu viel
gearbeitet werden müsse, und der Ertrag an Muße zu
klein sei: sie nehmen die Partei der Magie, daß heißt -
sie lassen lieber Gott für sich arbeiten (oremus nos,
deus laborabit!).
98
Schauspielerei und Ehrlichkeit der Ungläubigen. -
Es gibt kein Buch, welches das, was jedem
Menschen gelegentlich wohltut, - schwärmerische,
opfer- und todbereite Glücks-Innigkeit im Glauben und
Schauen seiner "Wahrheit" - so reichlich enthielte, so
treuherzig ausdrückte als das Buch, welches von Christus
redet: aus ihm kann ein Kluger alle Mittel lernen, wodurch
ein Buch zum Weltbuch, zum Jedermanns-Freund
gemacht werden kann, namentlich jenes Meister-Mittel,
alles als gefunden, nichts als kommend und ungewiß hinzustellen.
Alle wirkungsvollen Bücher versuchen, einen
ähnlichen Eindruck zu hinterlassen, als ob der weiteste geistige
und seelische Horizont hier umschrieben sei und um
die hier laufende Sonne sich jedes gegenwärtige und
zukünftige Gestirn drehen müsse. - Muß also nicht aus
demselben Grunde, aus dem solche Bücher wirkungsvoll
sind, jedes rein wissenschaftliche Buch
wirkungsarm sein? Ist es nicht verurteilt, niedrig und unter
Niedrigen zu leben, um endlich gekreuzigt zu werden
und nie wieder aufzuerstehen? Sind im Verhältnis
zu dem, was die Religiösen von ihrem "Wissen", von
ihrem "heiligen" Geiste verkünden, nicht alle Redlichen
der Wissenschaft "arm im Geiste"? Kann irgend eine
Religion mehr Entsagung verlangen, unerbittlicher den
Selbstsüchtigen aus sich hinausziehen als die Wissenschaft?
- - So und ähnlich und jedenfalls mit einiger
Schauspielerei mögen wir reden, wenn wir uns vor den
Gläubigen zu verteidigen haben; denn es ist kaum möglich,
eine Verteidigung ohne etwas Schauspielerei zu führen.
Unter uns aber muß die Sprache ehrlicher sein: wir
bedienen uns da einer Freiheit, welche jene nicht einmal,
ihres eigenen Interesses halber, verstehen dürfen. Weg
also mit der Kapuze der Entsagung! der Miene der Demut!
Viel mehr und viel besser: so klingt unsere Wahrheit!
Wenn die Wissenschaft nicht an die Lust der
Erkenntnis, an den Nutzen des Erkannten geknüpft wäre,
was läge uns an der Wissenschaft? Wenn nicht ein wenig
Glaube, Liebe und Hoffnung unsere Seele zur Erkenntnis
hinführte, was zöge uns sonst zur Wissenschaft? Und wenn
zwar in der Wissenschaft das Ich nichts zu bedeuten hat,
so bedeutet das erfinderische glückliche Ich, ja selbst schon
jedes redliche und fleißige Ich, sehr viel in der Republik
der Wissenschafts-Menschen. Achtung der Achtung-Gebenden,
Freude solcher, welchen wir wohlwollen oder
die wir verehren, unter Umständen Ruhm und eine
mäßige Unsterblichkeit der Person ist der persönliche
Preis für jene Entpersönlichung, von geringeren Aussichten
und Belohnungen hier zu schweigen, obschon gerade
ihrethalben die meisten den Gesetzen jener Republik
und überhaupt der Wissenschaft zugeschworen haben
und immerfort zuzuschwören pflegen. Wenn wir nicht in
irgend einem Maße unwissenschaftliche Menschen
geblieben wären, was könnte uns auch nur an der
Wissenschaft liegen! Alles in allem genommen und rund
glatt und voll ausgesprochen: für ein rein erkennendes
Wesen wäre die Erkenntnis gleichgültig. -
Von den Frommen und Gläubigen unterscheidet
uns nicht die Qualität, sondern die Quantität Glaubens
und Frommseins; wir sind mit wenigerem zufrieden. Aber
werden jene uns zurufen - so seid auch zufrieden und
gebt euch auch als zufrieden! - worauf wir leicht antworten
dürften: "In der Tat, wir gehören nicht zu den
Unzufriedensten. Ihr aber, wenn euer Glaube euch selig
macht, so gebt euch auch als selig! Eure Gesichter sind
immer eurem Glauben schädlicher gewesen als unsere
Gründe! Wenn jene frohe Botschaft eurer Bibel euch ins
Gesicht geschrieben wäre, ihr brauchtet den Glauben
an die Autorität dieses Buches nicht so halsstarrig zu
fordern: eure Worte, eure Handlungen sollte die Bibel
fortwährend überflüssig machen, eine neue Bibel sollte durch
euch fortwährend entstehen! So aber hat alle eure Apologie
des Christentums ihre Wurzel in eurem Unchristentum;
mit eurer Verteidigung schreibt ihr eure eigne
Anklageschrift. Solltet ihr aber wünschen, aus diesem
eurem Ungenügen am Christentum herauszukommen, so
bringt euch doch die Erfahrung von zwei Jahrtausenden
zur Erwägung: welche, in bescheidene Frageform gekleidet,
so klingt: "wenn Christus wirklich die Absicht
hatte, die Welt zu erlösen, sollte es ihm nicht mißlungen
sein?"
99
Der Dichter als Wegzeiger für die Zukunft.
- So viel noch überschüssige dichterische Kraft unter den
jetzigen Menschen vorhanden ist, welche bei der Gestaltung
des Lebens nicht verbraucht wird, so viel sollte, ohne
jeden Abzug, einem Ziele sich weihen, nicht etwa der
Abmalung des Gegenwärtigen, der Wiederbeseelung und
Verdichtung der Vergangenheit, sondern dem Wegweisen
für die Zukunft: - und dies nicht in dem Verstande,
als ob der Dichter gleich einem phantastischen Nationalökonomen
günstigere Volks- und Gesellschafts-Zustände
und deren Ermöglichung im Bilde vorwegnehmen sollte.
Vielmehr wird er, wie früher die Künstler an den Götterbildern
fortdichteten, so an dem schönen Menschenbilde
fortdichten und jene Fälle auswittern, wo mitten
in unserer modernen Welt und Wirklichkeit, wo ohne jede
künstliche Abwehr und Entziehung von derselben, die
schöne große Seele noch möglich ist, dort wo sie sich auch
jetzt noch in harmonische, ebenmäßige Zustände einzuverleiben
vermag, durch sie Sichtbarkeit, Dauer und Vorbildlichkeit
bekommt und also, durch Erregung von Nachahmung
und Neid, die Zukunft schaffen hilft. Dichtungen
solcher Dichter würden dadurch sich auszeichnen, daß
sie gegen die Luft und Glut der Leidenschaften
abgeschlossen und verwahrt erschienen: der unverbesserliche
Fehlgriff, das Zertrümmern des ganzen menschlichen
Saitenspiels, Hohnlachen und Zähneknirschen und alles
Tragische und Komische im alten gewohnten Sinne würde
in der Nähe dieser neuen Kunst als lästige archaisierende
Vergröberung des Menschen-Bildes empfunden werden.
Kraft, Güte, Milde, Reinheit und ungewolltes, eingeborenes
Maß in den Personen und deren Handlungen:
ein geebneter Boden, welcher dem Fuße Ruhe und Lust
gibt: ein leuchtender Himmel auf Gesichtern und Vorgängen
sich abspiegelnd: das Wissen und die Kunst zu
neuer Einheit zusammengeflossen: der Geist ohne Anmaßung
und Eifersucht mit seiner Schwester, der Seele,
zusammenwohnend und aus dem Gegensätzlichen die Grazie
des Ernstes, nicht die Ungeduld des Zwiespaltes herauslockend:
- dies alles wäre das Umschließende, Allgemeine,
Goldgrundhafte, auf dem jetzt erst die zarten
Unterschiede der verkörperten Ideale das eigentliche
Gemälde - das der immer wachsenden menschlichen
Hoheit - machen würden. - Von Goethe aus führt
mancher Weg in diese Dichtung der Zukunft: aber es
bedarf guter Pfadfinder und vor allem einer weit größern
Macht, als die jetzigen Dichter, das heißt die unbedenklichen
Darsteller des Halbtiers und der mit Kraft und
Natur verwechselten Unreife und Unmäßigkeit, besitzen.
100
Die Muse als Penthesilea. - "Lieber verwesen
als ein Weib sein, das nicht reizt." Wenn die Muse erst
einmal so denkt, so ist das Ende ihrer Kunst wieder in der
Nähe. Aber es kann ein Tragödien- und auch ein
Komödien-Ausgang sein.
101
Was der Umweg zum Schönen ist. - Wenn
das Schöne gleich dem Erfreuenden ist - und so sangen
es ja einmal die Musen -, so ist das Nützliche der oftmals
notwendige Umweg zum Schönen und kann den
kurzsichtigen Tadel der Augenblicks-Menschen, die nicht
warten wollen und alles Gute ohne Umwege zu erreichen
denken, mit gutem Rechte zurückweisen.
102
Zur Entschuldigung mancher Schuld. -
Das unablässige Schaffen-Wollen und Nach-außen-Spähen
des Künstlers hält ihn davon ab, als Person schöner und
besser zu werden, also sich selber zu schaffen -
es sei denn, daß seine Ehrsucht groß genug ist, um ihn zu
zwingen, daß er sich auch im Leben mit andern der wachsenden
Schönheit und Größe seiner Werke immer entsprechend
gewachsen zeige. In allen Fällen hat er nur ein
bestimmtes Maß von Kraft: was er davon auf sich verwendet
- wie könnte dies noch seinem Werke zugute
kommen? - Und umgekehrt.
103
Den Besten genug tun. - Wenn man mit seiner
Kunst "den Besten seiner Zeit genug-getan", so ist dies
ein Anzeichen davon, daß man den Besten der nächsten
Zeit mit ihr nicht genug-tun wird: "gelebt" freilich
"hat man für alle Zeiten" - der Beifall der Besten sichert
den Ruhm.
104
Aus einem Stoffe. - Ist man aus einem Stoffe
mit einem Buche oder Kunstwerk, so meint man ganz innerlich,
es müsse vortrefflich sein, und ist beleidigt, wenn
andere es häßlich, überwürzt oder großtuerisch finden.
105
Sprache und Gefühl. - Daß die Sprache uns
nicht zur Mitteilung des Gefühls gegeben ist, sieht man
daraus, daß alle einfachen Menschen sich schämen, Worte
für ihre tieferen Erregungen zu suchen: die Mitteilung
derselben äußert sich nur in Handlungen, und selbst hier
gibt es ein Erröten darüber, wenn der andere ihre Motive
zu erraten scheint. Unter den Dichtern, welchen im allgemeinen
die Gottheit diese Scham versagte, sind doch die
edleren in der Sprache des Gefühls einsilbiger und lassen
einen Zwang merken: während die eigentlichen Gefühls-Dichter
im praktischen Leben meistens unverschämt sind.
106
Irrtum über eine Entbehrung. - Wer sich
nicht von einer Kunst lange Zeit völlig entwöhnt hat,
sondern immer in ihr zu Hause ist, kann nicht von ferne
begreifen, wie wenig man entbehrt, wenn man ohne diese
Kunst lebt.
107
Dreiviertelskraft. - Ein Werk, das den Eindruck
des Gesunden machen soll, darf höchstens mit Dreiviertel
der Kraft seines Urhebers hervorgebracht sein. Ist
er dagegen bis an seine äußerste Grenze gegangen, so regt
das Werk den Betrachtenden auf und ängstigt ihn durch
seine Spannung. Alle guten Dinge haben etwas Lässiges
und liegen wie Kühe auf der Wiese.
108
Den Hunger als Gast abweisen. - Weil dem
Hungrigen die feinere Speise so gut und um nichts besser
als die gröbste dient, so wird der anspruchvollere Künstler
nicht darauf denken, den Hungrigen zu seiner Mahlzeit
einzuladen.
109
Ohne Kunst und Wein leben. - Mit den Werken
der Kunst steht es wie mit dem Weine: noch besser ist
es, wenn man beide nicht nötig hat, sich an Wasser hält
und das Wasser aus innerem Feuer, innerer Süße der Seele
immer wieder von selber in Wein verwandelt.
110
Das Raub-Genie. - Das Raub-Genie in den Künsten,
das selbst feine Geister zu täuschen weiß, entsteht,
wenn jemand unbedenklich von jung an alles Gute, welches
nicht geradezu vom Gesetz als Eigentum einer bestimmten
Person in Schutz genommen ist, als freie Beute
betrachtet. Nun liegt alles Gute vergangener Zeiten und
Meister frei umher, eingehegt und behütet durch die verehrende
Scheu der wenigen, die es erkennen: diesen wenigen
bietet jenes Genie, kraft seines Mangels an Scham,
Trotz und häuft sich einen Reichtum auf, der selber wieder
Verehrung und Scheu erzeugt.
111
An die Dichter der großen Städte. - Den
Gärten der heutigen Poesie merkt man es an, daß die
großstädtischen Kloaken zu nahe dabei sind: mitten in den
Blütengeruch mischt sich etwas, das Ekel und Fäulnis verrät.
- Mit Schmerz frage ich: habt ihr es so nötig, ihr
Dichter, den Witz und den Schmutz immer zu Gevatter
zu bitten, wenn irgend eine unschuldige schöne Empfindung
von euch getauft werden soll? Müßt ihr durchaus
eurer edlen Göttin eine Fratzen- und Teufelskappe aufsetzen?
Woher aber diese Not, dieses Müssen? - Eben
daher, daß ihr den Kloaken zu nahe wohnt.
112
Vom Salz der Rede. - Niemand hat noch erklärt,
warum die griechischen Schriftsteller von den Mitteln des
Ausdrucks, welche ihnen in unerhörter Fülle und Kraft
zu Gebote standen, nur so übersparsamen Gebrauch gemacht
haben, daß jedes nachgriechische Buch dagegen grell,
bunt und überspannt erscheint. - Man hört, daß dem Nordpol-Eise
zu ebenso wie in den heißesten Ländern der
Gebrauch des Salzes spärlicher werde, daß dagegen die
Ebenen- und Küstenanwohner im Erdgürtel der mäßigeren
Sonnenwärme am reichlichsten Gebrauch von ihm
machen. Sollten die Griechen aus doppelten Gründen, weil
zwar ihr Intellekt kälter und klarer, ihre leidenschaftliche
Grundnatur aber um vieles tropischer war als die unsrige,
des Salzes und Gewürzes nicht in dem Maße nötig
gehabt haben als wir?
113
Der freieste Schriftsteller. - Wie dürfte in
einem Buche für freie Geister Lorenz Sterne ungenannt
bleiben, er, den Goethe als den freiesten Geist seines
Jahrhunderts geehrt hat! Möge er hier mit der Ehre fürlieb
nehmen, der freieste Schriftsteller aller Zeiten genannt zu
werden, in Vergleich mit welchem alle anderen steif, vierschrötig,
unduldsam und bäurisch-geradezu erscheinen. An
ihm dürfte nicht die geschlossene klare, sondern die
"unendliche Melodie" gerühmt werden: wenn mit diesem
Worte ein Stil der Kunst zu einem Namen kommt,
bei dem die bestimmte Form fortwährend gebrochen,
verschoben, in das Unbestimmte zurückübersetzt wird,
so daß sie das eine und zugleich das andere bedeutet.
Sterne ist der große Meister der Zweideutigkeit
- dies Wort billigerweise viel weiter genommen als man
gemeinhin tut, wenn man dabei an geschlechtliche Beziehungen
denkt. Der Leser ist verloren zu geben, der jederzeit
genau wissen will, was Sterne eigentlich über eine
Sache denkt, ob er bei ihr ein ernsthaftes oder ein
lächelndes Gesicht macht: denn er versteht sich auf beides
in einer Faltung seines Gesichts; er versteht es ebenfalls
und will es sogar, zugleich recht und unrecht zu
haben, den Tiefsinn und die Posse zu verknäueln. Seine
Abschweifungen sind zugleich Forterzählungen und Weiterentwicklungen
der Geschichte; seine Sentenzen enthalten
zugleich eine Ironie auf alles Sentenziöse, sein Widerwille
gegen das Ernsthafte ist einem Hange angeknüpft,
keine Sache nur flach und äußerlich nehmen zu können.
So bringt er bei dem rechten Leser ein Gefühl von Unsicherheit
darüber hervor, ob man gehe, stehe oder liege:
ein Gefühl, welches dem des Schwebens am verwandtesten
ist. Er, der geschmeidigste Autor, teilt auch seinem
Leser etwas von dieser Geschmeidigkeit mit. Ja, Sterne
verwechselt unversehens die Rollen und ist bald ebenso
Leser, als er Autor ist; sein Buch gleicht einem Schauspiel
im Schauspiel, einem Theaterpublikum vor einem
andern Theaterpublikum. Man muß sich der Sternischen
Laune auf Gnade und Ungnade ergeben - und kann
übrigens erwarten, daß sie gnädig, immer gnädig ist. -
Seltsam und belehrend ist es, wie ein so großer Schriftsteller
wie Diderot sich zu dieser allgemeinen Zweideutigkeit
Sternes gestellt hat: nämlich ebenfalls zweideutig -
und das eben ist echt Sternischer Überhumor. Hat er jenen,
in seinem Jacques le fataliste, nachgeahmt, bewundert,
verspottet, parodiert? - man kann es nicht völlig herausbekommen, -
und vielleicht hat gerade dies sein Autor
gewollt. Gerade dieser Zweifel macht die Franzosen gegen
das Werk eines ihrer ersten Meister (der sich vor keinem
Alten und Neuen zu schämen braucht) ungerecht. Die
Franzosen sind eben zum Humor - und namentlich zu
diesem Humoristischnehmen des Humors selber - zu
ernsthaft. - Sollte es nötig sein hinzuzufügen, daß Sterne
unter allen großen Schriftstellern das schlechteste Muster
und der eigentlich unvorbildliche Autor ist, und daß selbst
Diderot sein Wagnis büßen mußte? Das, was die guten
Franzosen und vor ihnen einzelne Griechen als Prosaiker
wollten und konnten, ist genau das Gegenteil von dem,
was Sterne will und kann: er erhebt sich eben als meisterhafte
Ausnahme über, das, was alle schriftstellerischen
Künstler von sich fordern: Zucht, Geschlossenheit, Charakter,
Beständigkeit der Absichten, Überschaulichkeit,
Schlichtheit, Haltung in Gang und Miene. - Leider
scheint der Mensch Sterne mit dem Schriftsteller Sterne
nur zu verwandt gewesen zu sein: seine Eichhorn-Seele
sprang mit unbeständiger Unruhe von Zweig zu Zweig;
was nur zwischen Erhaben und Schuftig liegt, war ihm
bekannt; auf jeder Stelle hatte er gesessen, immer mit dem
unverschämten wäßrigen Auge und dem empfindsamen
Mienenspiele. Er war, wenn die Sprache von einer solchen
Zusammenstellung nicht erschrecken wollte, von einer
hartherzigen Gutmütigkeit und hatte in den Genüssen
einer barocken, ja verderbten Einbildungskraft fast die
blöde Anmut der Unschuld. Eine solche fleisch- und seelenhafte
Zweideutigkeit, eine solche Freigeisterei bis in jede
Faser und Muskel des Leibes hinein, wie er diese
Eigenschaften hatte, besaß vielleicht kein anderer Mensch.
114
Gewählte Wirklichkeit. - Wie der gute
Prosaschriftsteller nur Worte nimmt, welche der Umgangssprache
angehören, doch lange nicht alle Worte derselben
- wodurch eben der gewählte Stil entsteht -, so wird
der gute Dichter der Zukunft nur Wirkliches darstellen
und von allen phantastischen, abergläubischen,
halbredlichen, abgeklungenen Gegenständen, an denen frühere
Dichter ihre Kraft zeigten, völlig absehen. Nur Wirklichkeit,
aber lange nicht jede Wirklichkeit! - sondern
eine gewählte Wirklichkeit!
115
Abarten der Kunst. - Neben den echten Gattungen
der Kunst, der der großen Ruhe und der der großen
Bewegung, gibt es Abarten - die ruhesüchtige, blasierte
Kunst und die aufgeregte Kunst: beide wünschen, daß
man ihre Schwäche für Stärke nehme und sie mit den
echten Gattungen verwechsele.
116
Zum Heros fehlt jetzt die Farbe. - Die
eigentlichen Dichter und Künstler der Gegenwart lieben es,
ihre Gemälde auf einen rot, grün, grau und goldig flackernden
Grund aufzutragen, auf den Grund der nervösen
Sinnlichkeit: auf diese verstehen sich ja die
Kinder dieses Jahrhunderts. Dies hat den Nachteil -
wenn man nämlich nicht mit den Augen des Jahrhunderts
auf jene Gemälde sieht -, daß die größten Gestalten,
welche jene hinmalen, etwas Flimmerndes, Zitterndes, Wirbelndes
an sich zu haben scheinen: so daß man ihnen heroische
Taten eigentlich nicht zutraut, sondern höchstens
herorisierende, prahlerische Untaten.
117
Stil der Überladung. - Der überladene Stil in
der Kunst ist die Folge einer Verarmung der organisierenden
Kraft bei verschwenderischem Vorhandensein von Mitteln
und Absichten. - In den Anfängen der Kunst findet
sich mitunter das gerade Gegenstück dazu.
118
Pulchrum est paucorum hominum. - Die
Historie und die Erfahrung sagt uns, daß die bedeutsame
Ungeheuerlichkeit, welche die Phantasie geheimnisvoll anregt
und über das Wirkliche und Alltägliche fortträgt,
älter ist und reichlicher wächst als das Schöne in der
Kunst und dessen Verehrung - und daß es sofort wieder
in Überfülle ausschlägt, wenn der Sinn für Schönheit sich
verdunkelt. Es scheint für die Mehr- und Überzahl der
Menschen ein höheres Bedürfnis zu sein als das Schöne:
wohl deshalb, weil es das gröbere Narcoticum enthält.
119
Ursprünge des Geschmacks an Kunstwerken. -
Denkt man an die anfänglichen Keime des künstlerischen
Sinnes und fragt sich, welche verschiedentlichen
Arten der Freude durch die Erstlinge der Kunst, zum Beispiel
bei wilden Völkerschaften, hervorgebracht werden, so
findet man zuerst die Freude, zu verstehen, was ein
andrer meint; die Kunst ist hier eine Art Rätselaufgeben,
das dem Erratenden Genuß am eigenen Schnell- und
Scharfsinn verschafft. - Sodann erinnert man sich beim
rohesten Kunstwerk an das, was einem in der Erfahrung
angenehm war und hat insofern Freude, zum Beispiel
wenn der Künstler auf Jagd, Sieg, Hochzeit hingedeutet
hat. - Wiederum kann man sich durch das Dargestellte
erregt, gerührt, entflammt fühlen, beispielsweise bei
Verherrlichung von Rache und Gefahr. Hier liegt der Genuß
in der Erregung selber, im Siege über die Langeweile.
- Auch die Erinnerung an das Unangenehme, insofern es
überwunden ist, oder insofern es uns selber als Gegenstand
der Kunst vor dem Zuhörer interessant erscheinen
läßt (wie wenn der Sänger die Unfälle eines verwegenen
Seefahrers beschreibt), kann große Freude machen,
welche man dann der Kunst zugute rechnet. - Feinerer
Art ist schon jene Freude, welche beim Anblick alles
Regelmäßigen und Symmetrischen, in Linien, Punkten
Rhythmen, entsteht; denn durch eine gewisse Ähnlichkeit
wird die Empfindung für alles Geordnete und Regelmäßige
im Leben, dem man ja ganz allein alles Wohlbefinden
zu danken hat, wachgerufen: im Kultus des
Symmetrischen verehrt man also unbewußt die Regel und
das Gleichmaß als Quelle seines bisherigen Glücks; die
Freude ist eine Art Dankgebet. Erst bei einer gewissen
Übersättigung an dieser letzterwähnten Freude entsteht
das noch feinere Gefühl, daß auch im Durchbrechen des
Symmetrischen und Geregelten Genuß liegen könne; wenn
es zum Beispiel anreizt, Vernunft in der scheinbaren
Unvernunft zu suchen: wodurch es dann, als eine Art
ästhetischen Rätselratens, wie eine höhere Gattung der zuerst
erwähnten Kunstfreude dasteht. - Wer dieser Betrachtung
weiter nachhängt, wird wissen, auch welche Art
von Hypothesen hier zur Erklärung der ästhetischen
Erscheinungen grundsätzlich verzichtet wird.
120
Nicht zu nahe. - Es ist ein Nachteil für gute
Gedanken, wenn sie zu rasch aufeinander folgen; sie verdecken
sich gegenseitig die Aussicht. - Deshalb haben
die größten Künstler und Schriftsteller reichlichen
Gebrauch vom Mittelmäßigen gemacht.
121
Roheit und Schwäche. - Die Künstler aller
Zeiten haben die Entdeckung gemacht, daß in der Roheit
eine gewisse Kraft liegt und daß nicht jeder roh sein kann,
der es wohl sein möchte; ebenso daß manche Arten von
Schwäche stark auf das Gefühl wirken. Hieraus sind
nicht wenig Kunstmittel-Surrogate abgeleitet worden,
deren sich völlig zu enthalten selbst den größten und
gewissenhaftesten Künstlern schwer wird.
122
Das gute Gedächtnis. - Mancher wird nur deshalb
kein Denker, weil sein Gedächtnis zu gut ist.
123
Hungermachen statt Hungerstillen. -
Große Künstler wähnen, sie hätten durch ihre Kunst eine
Seele völlig in Besitz genommen und ausgefüllt: in Wahrheit,
und oft zu ihrer schmerzlichen Enttäuschung, ist jene
Seele dadurch nur um so umfänglicher und unausfüllbarer
geworden, so daß zehn größere Künstler sich nur in ihre
Tiefe hinabstürzen könnten, ohne sie zu sättigen.
124
Künstler-Angst. - Die Angst, man möchte ihren
Figuren nicht glauben, daß sie leben, kann Künstler
des absinkenden Geschmacks verführen, diese so zu bilden,
daß sie sich wie toll benehmen: wie andererseits aus
derselben Angst griechische Künstler des ersten Aufgangs
selbst Sterbenden und Schwerverwundeten jenes Lächeln
geben, welches sie als lebhaftestes Zeichen des Lebens
kannten, - unbekümmert darum, was die Natur in
solchem Falle des Noch-Lebens, des Fast-nicht-mehr-Lebens
bildet.
125
Der Kreis soll fertig werden. - Wer einer
Philosophie oder Kunstart bis an das Ende ihrer Bahn und
um das Ende herum nachgegangen ist, begreift aus einem
innern Erlebnis, warum die nachfolgenden Meister und
Lehrer sich von ihr, oft mit abschätziger Miene, zu einer
neuen Bahn fortwandten. Der Kreis muß eben umschrieben
werden - aber der Einzelne, und sei es der Größte, sitzt
auf seinem Punkte der Peripherie fest, mit einer unerbittlichen
Miene der Hartnäckigkeit, als ob der Kreis nie
geschlossen werden dürfe.
126
Ältere Kunst und die Seele der Gegenwart. -
Weil jede Kunst zum Ausdruck seelischer Zustände,
der bewegteren, zarteren, drastischeren,
leidenschaftlicheren, immer befähigter wird, so empfinden die
späteren Meister, durch diese Ausdrucks-Mittel verwöhnt,
ein Unbehagen bei den Kunstwerken der älteren Zeit, wie
als ob es den Alten eben nur an den Mitteln gefehlt habe,
ihre Seele deutlich reden zu lassen, vielleicht gar an einigen
technischen Vorbedingungen; und sie meinen hier nachhelfen
zu müssen - denn sie glauben an die Gleichheit
ja Einheit aller Seelen. In Wahrheit ist aber die Seele jener
Meister selber noch eine andere gewesen, größer
vielleicht, aber kälter und dem Reizvoll-Lebendigen noch
abhold: das Maß, die Symmetrie, die Geringachtung des
Holden und Wonnigen, eine unbewußte Herbe und Morgenkühle,
ein Ausweichen vor der Leidenschaft, wie als
ob an ihr die Kunst zugrunde gehen werde, - dies macht
die Gesinnung und Moralität aller älteren Meister aus,
welche ihre Ausdrucks-Mittel nicht zufällig, sondern notwendig
mit der gleichen Moralität wählten und durchgeisteten.
- Soll man aber, bei dieser Erkenntnis, den
später Kommenden das Recht versagen, die älteren Werke
nach ihrer Seele zu beseelen? Nein, denn nur dadurch,
daß wir ihnen unsere Seele geben, vermögen sie fortzuleben:
erst unser Blut bringt sie dazu, zu uns zu reden.
Der wirklich "historische" Vortrag würde gespenstisch zu
Gespenstern reden. - Man ehrt die großen Künstler der
Vergangenheit weniger durch jene unfruchtbare Scheu,
welche jedes Wort, jede Note so liegen läßt, wie sie
gestellt ist, als durch tätige Versuche, ihnen immer von
neuem wieder zum Leben zu verhelfen. - Freilich: dächte
man sich Beethoven plötzlich wiederkommend und eins
seiner Werke gemäß der modernsten Beseeltheit und
Nerven-Verfeinerung, welche unsern Meistern des Vortrags
zum Ruhme dient, vor ihm ertönend: er würde wahrscheinlich
lange stumm sein, schwankend, ob er die Hand
zum Fluchen oder Segnen erheben solle, endlich aber vielleicht
sprechen: "Nun! Nun! Das ist weder Ich noch
Nicht-Ich, sondern etwas Drittes - es scheint mir auch
etwas Rechtes, wenn es gleich nicht das Rechte ist.
Ihr mögt aber zusehen, wie ihr's treibt, da ihr ja jedenfalls
zuhören müßt, - und der Lebende hat recht, sagt
ja unser Schiller. So habt denn recht und laßt mich
wieder hinab."
127
Gegen die Tadler der Kürze. - Etwas Kurz-Gesagtes
kann die Frucht und Ernte von vielem Lang-Gedachten
sein: aber der Leser, der auf diesem Felde
Neuling ist und hier noch gar nicht nachgedacht hat, sieht
in allem Kurz-Gesagten etwas Embryonisches, nicht ohne
einen tadelnden Wink an den Autor, daß er dergleichen
Unausgewachsenes, Ungereiftes ihm zur Mahlzeit mit auf
den Tisch setze.
128
Gegen die Kurzsichtigen. - Meint ihr denn,
es müsse Stückwerk sein, weil man es euch in Stücken
gibt (und geben muß)?
129
Sentenzen-Leser. - Die schlechtesten Leser von
Sentenzen sind die Freunde ihres Urhebers, im Fall sie
beflissen sind, aus dem Allgemeinen wieder auf das
Besondere zurückzuraten, dem die Sentenz ihren Ursprung
verdankt: denn durch diese Topfguckerei machen sie die
ganze Mühe des Autors zunichte, so daß sie nun
verdientermaßen anstatt einer philosophischen Stimmung
und Belehrung besten- oder schlimmstenfalls nichts als
die Befriedigung der gemeinen Neugierde zum Gewinn
erhalten.
130
Unarten des Lesers. - Die doppelte Unart des
Lesers gegen den Autor besteht darin, das zweite Buch
desselben auf Unkosten des ersten zu loben (oder
umgekehrt) und dabei zu verlangen, daß der Autor ihm
dankbar sei.
131
Das Aufregende in der Geschichte der
Kunst. - Verfolgt man die Geschichte einer Kunst, zum
Beispiel die der griechischen Beredsamkeit, so gerät man,
von Meister zu Meister fortgehend, bei dem Anblick dieser
immer gesteigerten Besonnenheit, um den alten und neu
hinzugefügten Gesetzen und Selbstbeschränkungen insgesamt
zu gehorchen, zuletzt in eine peinliche Spannung:
man begreift, daß der Bogen brechen muß und daß die
sogenannte unorganische Komposition, mit den wundervollsten
Mitteln des Ausdrucks überhängt und maskiert -
in jenem Falle der Barockstil des Asianismus -, einmal eine
Notwendigkeit und fast eine Wohltat war.
132
An die Großen der Kunst. - Jene Begeisterung
für eine Sache, welche du Großer in die Welt hineinträgst,
läßt den Verstand vieler verkrüppeln, dies zu wissen
demütigt. Aber der Begeisterte trägt seinen Höcker mit
Stolz und Lust: insofern hast du den Trost, daß durch
dich das Glück in der Welt vermehrt ist.
133
Die ästhetisch Gewissenlosen. - Die eigentlichen
Fanatiker einer künstlerischen Partei sind jene völlig
unkünstlerischen Naturen, welche selbst in die Elemente
der Kunstlehre und des Kunstkönnens nicht eingedrungen
sind, aber auf das stärkste von allen elementarischen
Wirkungen einer Kunst ergriffen werden. Für sie
gibt es kein ästhetisches Gewissen - und daher nichts,
was sie vom Fanatismus zurückhalten könnte.
134
Wie nach der neueren Musik sich die Seele
bewegen soll. - Die künstlerische Absicht, welche die
neuere Musik in dem verfolgt, was jetzt, sehr stark aber
undeutlich, als "unendliche Melodie" bezeichnet wird,
kann man sich dadurch klarmachen, daß man ins Meer
geht, allmählich den sicheren Schritt auf dem Grunde verliert
und sich endlich dem wogenden Elemente auf Gnade
und Ungnade übergibt: man soll schwimmen. In der
bisherigen älteren Musik mußte man, im zierlichen oder
feierlichen oder feurigen Hin und Wieder, Schneller und
Langsamer, tanzen: wobei das hierzu nötige Maß, das
Einhalten bestimmter gleichwiegender Zeit- und Kraftgrade
von der Seele des Zuhörers eine fortwährende Besonnenheit
erzwang: auf dem Widerspiele dieses kühleren
Luftzuges, welcher von der Besonnenheit herkam,
und des durchwärmten Atems musikalischer Begeisterung
ruhte der Zauber jener Musik. - Richard Wagner wollte
eine andere Art Bewegung der Seele, welche, wie
gesagt, dem Schwimmen und Schweben verwandt ist. Vielleicht
ist dies das wesentlichste seiner Neuerungen. Sein
berühmtes Kunstmittel, diesem Wollen entsprungen und
angepaßt - die "unendliche Melodie" - bestrebt sich,
alle mathematische Zeit- und Kraft-Ebenmäßigkeit zu
brechen, mitunter selbst zu verhöhnen; und er ist überreich
in der Erfindung solcher Wirkungen, welche dem
älteren Ohre wie rhythmische Paradoxien und Lästerreden
klingen. Er fürchtet die Versteinerung, die Kristallisation,
den Übergang der Musik in das Architektonische
- und so stellt er dem zweitaktigen Rhythmus einen
dreitaktigen entgegen, führt nicht selten den Fünf- und
Siebentakt ein, wiederholt dieselbe Phrase sofort, aber
mit einer Dehnung, daß sie die doppelte und dreifache
Zeitdauer bekommt. Aus einer bequemen Nachahmung
solcher Kunst kann eine große Gefahr für die Musik
entstehen: immer hat neben der Überreife des rhythmischen
Gefühls die Verwilderung, der Verfall der
Rhythmik im Versteck gelauert. Sehr groß wird zumal
diese Gefahr, wenn eine solche Musik sich immer enger
an eine ganz naturalistische, durch keine höhere Plastik
erzogene und beherrschte Schauspielerkunst und Gebärdensprache
anlehnt, - welche in sich kein Maß hat und
dem sich ihr anschmiegenden Elemente, dem allzuweiblichen
Wesen der Musik, auch kein Maß mitzuteilen
vermag.
135
Dichter und Wirklichkeit. - Die Muse des
Dichters, der nicht in die Wirklichkeit verliebt ist, wird
eben nicht die Wirklichkeit sein und ihm hohläugige und
allzu zartknochichte Kinder gebären.
136
Mittel und Zweck. - In der Kunst heiligt der
Zweck die Mittel nicht: aber heilige Mittel können hier
den Zweck heiligen.
137
Die schlechtesten Leser. - Die schlechtesten
Leser sind die, welche wie plündernde Soldaten verfahren:
sie nehmen sich einiges, was sie brauchen können, heraus,
beschmutzen und verwirren das übrige und lästern auf
das Ganze.
138
Merkmale des guten Schriftstellers. - Die
guten Schriftsteller haben zweierlei gemeinsam; sie
ziehen vor, lieber verstanden als angestaunt zu werden;
und sie schreiben nicht für die spitzen und überscharfen
Leser.
139
Die gemischten Gattungen. - Die gemischten
Gattungen in den Künsten legen Zeugnis über das Mißtrauen
ab, welches ihre Urheber gegen ihre eigne Kraft
empfanden; sie suchten Hilfsmächte, Anwälte, Verstecke
- so der Dichter, der die Philosophie, der Musiker, der
das Drama, der Denker, der die Rhetorik zu Hilfe ruft.
140
Mundhalten. - Der Autor hat den Mund zu halten,
wenn sein Werk den Mund auftut.
141
Abzeichen des Ranges. - Alle Dichter und
Schriftsteller, welche in den Superlativ verliebt sind, wollen
mehr als sie können.
142
Kalte Bücher. - Der gute Denker rechnet auf
Leser, welche das Glück nachempfinden, das im guten Denken
liegt: so daß ein Buch, welches sich kalt und nüchtern
ausnimmt, durch die rechten Augen gesehen, vom Sonnenscheine
der geistigen Heiterkeit umspielt und als ein rechter
Seelentrost erscheinen kann.
143
Kunstgriff der Schwerfälligen. - Der
schwerfällige Denker wählt gewöhnlich die Geschwätzigkeit
oder die Feierlichkeit zur Bundesgenossin: durch die
erstere meint er sich Beweglichkeit und leichten Fluß anzueignen,
durch die letztere erweckt er den Schein, als ob
seine Eigenschaft eine Wirkung des freien Willens, der
künstlerischen Absicht sei, zum Zwecke der Würde, welche
Langsamkeit der Bewegung fordert.
144
Vom Barockstile. - Wer sich als Denker und
Schriftsteller zur Dialektik und Auseinanderfaltung der
Gedanken nicht geboren oder erzogen weiß, wird unwillkürlich
nach dem Rhetorischen und Dramatischen
greifen: denn zuletzt kommt es ihm darauf an,
sich verständlich zu machen und dadurch Gewalt zu
gewinnen, gleichgültig ob er das Gefühl auf ebenem Pfade
zu sich leitet oder unversehens überfällt - als Hirt oder
als Räuber. Dies gilt auch in den bildenden wie musischen
Künsten; wo das Gefühl mangelnder Dialektik oder
des Ungenügens in Ausdruck und Erzählung, zusammen
mit einem überreichen, drängenden Formentriebe, jene
Gattung des Stiles zutage fördert, welche man Barockstil
nennt. - Nur die Schlechtunterrichteten und Anmaßenden
werden übrigens bei diesem Wort sogleich eine
abschätzige Empfindung haben. Der Barockstil entsteht
jedesmal beim Abblühen jeder großen Kunst, wenn die
Anforderungen in der Kunst des klassischen Ausdrucks
allzu groß geworden sind, als ein Natur-Ereignis, dem
man wohl mit Schwermut, - weil es der Nacht voranläuft -
zusehen wird, aber zugleich mit Bewunderung
für die ihm eigentümlichen Ersatzkünste des Ausdrucks
und der Erzählung. Dahin gehört schon die Wahl von
Stoffen und Vorwürfen höchster dramatischer Spannung,
bei denen auch ohne Kunst das Herz zittert, weil Himmel
und Hölle der Empfindung allzu nahe sind: dann die
Beredsamkeit der starken Affekte und Gebärden, des
Häßlich-Erhabenen, der großen Massen, überhaupt der
Quantität an sich - wie dies sich schon bei Michelangelo,
dem Vater oder Großvater der italienischen Barockkünstler,
ankündigt -: die Dämmerungs-, Verklärungs- oder
Feuerbrunstlichter auf so starkgebildeten Formen: dazu
fortwährend neue Wagnisse in Mitteln und Absichten,
vom Künstler für die Künstler kräftig unterstrichen, während
der Laie wähnen muß, das beständige unfreiwillige
Überströmen aller Füllhörner einer ursprünglichen Natur-Kunst
zu sehen: diese Eigenschaften alle, in denen
jener Stil seine Größe hat, sind in den früheren, vorklassischen
und klassischen Epochen einer Kunstart nicht
möglich, nicht erlaubt: solche Köstlichkeiten hängen
lange als verbotene Früchte am Baume. - Gerade jetzt,
wo die Musik in diese letzte Epoche übergeht, kann
man das Phänomen des Barockstils in einer besonderen
Pracht kennenlernen und vieles durch Vergleichung daraus
für frühere Zeiten lernen: denn es hat von den
griechischen Zeiten ab schon oftmals einen Barockstil gegeben,
in der Poesie, Beredsamkeit, im Prosastile, in der
Skulptur ebensowohl als bekanntermaßen in der Architektur -
und jedesmal hat dieser Stil, ob es ihm gleich
am höchsten Adel, an dem einer unschuldigen, unbewußten,
sieghaften Vollkommenheit gebricht, auch vielen
von den Besten und Ernstesten seiner Zeit wohlgetan:
- weshalb es, wie gesagt, anmaßend ist, ohne
weiteres ihn abschätzig zu beurteilen; so sehr sich jeder
glücklich preisen darf, dessen Empfindung durch ihn
nicht für den reineren und größeren Stil unempfindlich
gemacht wird.
145
Wert ehrlicher Bücher. - Ehrliche Bücher machen
den Leser ehrlich, wenigstens indem sie seinen Haß
und Widerwillen herauslocken, welchen die verschmitzte
Klugheit sonst am besten zu verstecken weiß. Gegen ein
Buch aber läßt man sich gehen, wenn man sich auch noch
so sehr gegen Menschen zurückhält.
146
Wodurch die Kunst Partei macht. - Einzelne
schöne Stellen, ein erregender Gesamtverlauf und
hinreißende erschütternde Schlußstimmungen - soviel
wird auch den meisten Laien von einem Kunstwerk noch
zugänglich sein: und in einer Periode der Kunst, in der
man die große Masse der Laien auf die Seite der Künstler
hinüberziehen, also eine Partei, vielleicht zur
Erhaltung der Kunst überhaupt, machen will, wird der
Schaffende gut tun, auch nicht mehr zu geben: damit er
nicht zum Verschwender seiner Kraft werde auf Gebieten,
wo niemand ihm Dank weiß. Das übrige nämlich zu leisten -
die Natur in ihrem organischen Bilden und
Wachsenlassen nachzuahmen - hieße in jenem Falle: auf
Wasser säen.
147
Zum Schaden der Historie groß werden.
- Jeder spätere Meister, welcher den Geschmack der Kunst-Genießenden
in seine Bahn lenkt, bringt unwillkürlich
eine Auswahl und Neu-Abschätzung der älteren Meister
und ihrer Werke hervor: das ihm Gemäße und Verwandte,
das ihn Vorschmeckende und Ankündigende in
jenen gilt von jetzt ab als das eigentlich Bedeutende
an ihnen und ihren Werken - eine Frucht, in der gewöhnlich
ein großer Irrtum als Wurm verborgen steckt.
148
Wie ein Zeitalter zur Kunst geködert
wird. - Man lerne mit Hilfe aller Künstler- und
Denker-Zaubereien die Menschen an, vor ihren Mängeln, ihrer
geistigen Armut, ihren unsinnigen Verblendungen und
Leidenschaften Verehrung zu empfinden - und dies ist
möglich -, man zeige vom Verbrechen und vom Wahne
nur die erhabene Seite, von der Schwäche der Willenlosen
und Blind-Ergebnen nur das Rührende und Zu-Herzen-Sprechende
eines solchen Zustandes - auch dies ist oft
genug geschehen -: so hat man das Mittel angewendet,
auch einem ganz unkünstlerischen und unphilosophischen
Zeitalter schwärmerische Liebe zu Philosophie und Kunst
(namentlich zu den Künstlern und Denkern als Personen)
einzuflößen, und, in schlimmen Umständen, vielleicht das
einzige Mittel, die Existenz so zarter und gefährdeter
Gebilde zu wahren.
149
Kritik und Freude. - Kritik, einseitige und
ungerechte ebensogut wie verständige, macht dem, der sie
übt, so viel Vergnügen, daß die Welt jedem Werk, jeder
Handlung Dank schuldig ist, welche viel und viele zur
Kritik auffordert: denn hinter ihr her zieht sich ein
blitzender Schweif von Freude, Witz, Selbstbewunderung,
Stolz, Belehrung, Vorsatz zum Bessermachen. - Der Gott
der Freude schuf das Schlechte und Mittelmäßige aus dem
gleichen Grunde, aus dem er das Gute schuf.
150
Über seine Grenze hinaus. - Wenn ein Künstler
mehr sein will als ein Künstler, zum Beispiel der moralische
Erwecker seines Volkes, so verliebt er sich, zur Strafe,
zuletzt in ein Ungetüm von moralischem Stoff - und die
Muse lacht dazu: denn diese so gutherzige Göttin kann
aus Eifersucht auch boshaft werden. Man denke an Milton
und Klopstock.
151
Gläsernes Auge. - Die Richtung des Talentes auf
moralische Stoffe, Personen, Motive, auf die schöne
Seele des Kunstwerks ist mitunter nur das gläserne Auge,
welches der Künstler, dem es an der schönen Seele gebricht,
sich einsetzt: mit dem sehr seltenen Erfolge, daß
dies Auge zuletzt doch lebendige Natur wird, wenn auch
etwas verkümmert blickende Natur, - aber mit dem gewöhnlichen
Erfolge, daß alle Welt Natur zu sehen meint,
wo kaltes Glas ist.
152
Schreiben und Siegen-wollen. - Schreiben
sollte immer einen Sieg anzeigen, und zwar eine Überwindung
seiner selbst, welche anderen zum Nutzen mitgeteilt
werden muß; aber es gibt dyspeptische Autoren,
welche gerade nur schreiben, wenn sie etwas nicht verdauen
können, ja wenn dies ihnen schon in den Zähnen hängengeblieben
ist: sie suchen unwillkürlich mit ihrem Ärger
auch dem Leser Verdruß zu machen und so eine Gewalt
über ihn auszuüben, das heißt: auch sie wollen siegen,
aber über andere.
153
"Gut Buch will Weile haben." - Jedes gute
Buch schmeckt herb, wenn es erscheint: es hat den Fehler
der Neuheit. Zudem schadet ihm sein lebender Autor, falls
er bekannt ist und manches von ihm verlautet: denn alle
Welt pflegt den Autor und sein Werk zu verwechseln.
Was in diesem an Geist, Süße und Goldglanz ist, muß sich
erst mit den Jahren entwickeln, unter der Pflege wachsender,
dann alter, zuletzt überlieferter Verehrung. Manche
Stunde muß darüber hinlaufen, manche Spinne ihr Netz
daran gewoben haben. Gute Leser machen ein Buch immer
besser und gute Gegner klären es ab.
154
Maßlosigkeit als Kunstmittel. - Künstler
verstehen wohl, was es sagen will: die Maßlosigkeit als
Kunstmittel zu benutzen, um den Eindruck des Reichtums
hervorzubringen. Es gehört das zu den unschuldigen
Listen der Seelenverführung, auf welche sich die Künstler
verstehen müssen: denn in ihrer Welt, in der es auf Schein
abgesehen ist, brauchen auch die Mittel des Scheins nicht
notwendig echt zu sein.
155
Der versteckte Leierkasten. - Die Genies
verstehen sich besser als die Talente darauf, den Leierkasten
zu verstecken, vermöge ihres umfänglicheren Faltenwurfs;
aber im Grunde können sie auch nicht mehr, als ihre
alten sieben Stücke wieder spielen.
156
Der Name auf dem Titelblatt. - Daß der
Name des Autors auf dem Buche steht, ist zwar jetzt Sitte
und fast Pflicht; doch ist es eine Hauptursache davon, daß
Bücher so wenig wirken. Sind sie nämlich gut, so sind sie
mehr wert als die Personen, als deren Quintessenzen; sobald
aber der Autor sich durch den Titel zu erkennen gibt,
wird die Quintessenz wieder von seiten des Lesers mit dem
Persönlichen, ja Persönlichsten diluiert und somit der Zweck
des Buches vereitelt. Es ist der Ehrgeiz des Intellektes,
nicht mehr individuell zu erscheinen.
157
Schärfste Kritik. - Man kritisiert einen Menschen,
ein Buch am schärfsten, wenn man das Ideal desselben hinzeichnet.
158
Wenig und ohne Liebe. - Jedes gute Buch ist
für einen bestimmten Leser und dessen Art geschrieben und
wird eben deshalb von allen übrigen Lesern, der großen
Mehrzahl, ungünstig angesehn: weshalb sein Ruf auf
schmaler Grundlage ruht und nur langsam aufgebaut
werden kann.-- Das mittelmäßige und schlechte Buch
ist es eben dadurch, daß es vielen zu gefallen sucht und
auch gefällt.
159
Musik und Krankheit. - Die Gefahr in der
neuen Musik liegt darin, daß sie uns den Becher des Wonnigen
und Großartigen so hinreißend und mit einem Anscheine
von sittlicher Ekstase an die Lippen setzt, daß auch
der Mäßige und Edle immer einige Tropfen zu viel von
ihr trinkt. Diese Minimal-Ausschweifung, fortwährend
wiederholt, kann aber zuletzt eine tiefere Erschütterung
und Untergrabung der geistigen Gesundheit zuwege bringen,
als irgend ein großer Exzeß es vermöchte: so daß
nichts übrigbleibt, als eines Tages die Nymphengrotte zu
fliehen und, durch Meereswogen und Gefahren, nach dem
Rauch von Ithaka und nach den Umarmungen der schlichteren
und menschlicheren Gattin sich den Weg zu bahnen.
160
Vorteil für die Gegner. - Ein Buch voller
Geist teilt auch an seine Gegner davon mit.
161
Jugend und Kritik. - Ein Buch kritisieren -
das heißt für die Jungen nur: keinen einzigen produktiven
Gedanken desselben an sich herankommen lassen und sich,
mit Händen und Füßen, seiner Haut wehren. Der Jüngling
lebt gegen alles Neue, das er nicht in Bausch und
Bogen lieben kann, im Stande der Notwehr und begeht
jedesmal dabei, so oft er nur kann, ein überflüssiges Verbrechen.
162
Wirkung der Quantität. - Die größte Paradoxie
in der Geschichte der Dichtkunst liegt darin, daß in
allem, worin die alten Dichter ihre Größe haben, einer
ein Barbar, nämlich fehlerhaft und verwachsen vom Wirbel
bis zur Zehe, sein kann und dennoch der größte
Dichter bleibt. So steht es ja mit Shakespeare, der, mit
Sophokles zusammengehalten, einem Bergwerke voll einer
Unermeßlichkeit an Gold, Blei und Geröll gleicht, während
jener nicht nur Gold, sondern Gold in der edelsten
Gestaltung ist, die seinen Wert als Metall fast vergessen
macht. Aber die Quantität, in ihren höchsten Steigerungen,
wirkt als Qualität. Das kommt Shakespeare
zugute.
163
Aller Anfang ist Gefahr. - Der Dichter hat
die Wahl, entweder das Gefühl von einer Stufe zur andern
zu heben und es so zuletzt sehr hoch zu steigern - oder
es mit einem Überfalle zu versuchen und gleich von Beginn
an mit aller Gewalt am Glockenstrang zu ziehn. Beides
hat seine Gefahren: im ersten Falle läuft ihm vielleicht
sein Zubehör vor Langerweile, im zweiten vor Schrecken
davon.
164
Zugunsten der Kritiker. - Die Insekten stechen,
nicht aus Bosheit, sondern weil sie auch leben wollen:
ebenso unsere Kritiker; sie wollen unser Blut, nicht
unseren Schmerz.
165
Erfolg von Sentenzen. - Die Unerfahrnen
meinen immer, wenn ihnen eine Sentenz sofort durch ihre
schlichte Wahrheit einleuchtet, sie sei alt und bekannt, und
blicken dabei scheel auf den Urheber, als habe er das
Gemeingut aller stehlen wollen: während sie an gewürzten
Halbwahrheiten Freude haben und dies dem Autor zu
erkennen geben. Dieser weiß einen solchen Wink zu würdigen
und errät daraus leicht, wo es ihm gelungen und wo
mißlungen ist.
166
Siegen-wollen. - Ein Künstler, der in allem, was
er unternimmt, über seine Kräfte hinausgeht, wird doch
zuletzt, durch das Schauspiel des gewaltigen Ringens, das
er gewährt, die Menge mit sich fortreißen: denn der Erfolg
ist nicht immer nur beim Siege, sondern mitunter schon
beim Siegen-wollen.
167
Sibi scribere. - Der vernünftige Autor schreibt
für keine andere Nachwelt als für seine eigene, das heißt
für sein Alter, um auch dann noch an sich Freude haben
zu können.
168
Lob der Sentenz. - Eine gute Sentenz ist zu hart
für den Zahn der Zeit und wird von allen Jahrtausenden
nicht aufgezehrt, obwohl sie jeder Zeit zur Nahrung dient:
dadurch ist sie das große Paradoxon in der Literatur,
das Unvergängliche inmitten des Wechselnden, die Speise,
welche immer geschätzt bleibt wie das Salz, und niemals,
wie selbst dieses, dumm wird.
169
Kunstbedürfnis zweiten Ranges. - Das
Volk hat wohl etwas von dem, was man Kunstbedürfnis
nennen darf, aber es ist wenig und wohlfeil zu befriedigen.
Im Grunde genügt hierfür der Abfall der
Kunst: das soll man ehrlich sich eingestehen. Man erwäge
doch nur zum Beispiel, an was für Melodien und Liedern
jetzt unsere kraftvollsten, unverdorbensten, treuherzigsten
Schichten der Bevölkerung ihre rechte Herzensfreude
haben, man lebe unter Hirten, Sennen, Bauern,
Jägern, Soldaten, Seeleuten und gebe sich die Antwort.
Und wird nicht in der kleinen Stadt, gerade in den Häusern,
welche der Sitz altvererbter Bürgertugend sind, jene
allerschlechteste Musik geliebt, ja gehätschelt, welche überhaupt
jetzt hervorgebracht wird? Wer von tieferm Bedürfnisse,
von unausgefülltem Begehren nach Kunst in
Beziehung auf das Volk, wie es ist, redet, der faselt oder
schwindelt. Seid ehrlich! Nur bei Ausnahme-Menschen
gibt es jetzt ein Kunstbedürfnis in hohem
Stile - weil die Kunst überhaupt wieder einmal im
Rückgange ist und die menschlichen Kräfte und Hoffnungen
sich für eine Zeit auf andere Dinge geworfen
haben. - Außerdem, nämlich abseits vom Volke, besteht
freilich noch ein breiteres, umfänglicheres Kunstbedürfnis,
aber zweiten Ranges, in den höheren und höchsten
Schichten der Gesellschaft: hier ist etwas wie eine künstlerische
Gemeinde, die es aufrichtig meint, möglich. Aber
man sehe sich die Elemente an! Es sind im allgemeinen die
feineren Unzufriednen, die an sich zu keiner rechten
Freude kommen: der Gebildete, der nicht frei genug geworden
ist, um der Tröstungen der Religion entraten zu
können, und doch ihre Öle nicht wohlriechend genug
findet: der Halbedle, der zu schwach ist, den einen Grundfehler
seines Lebens oder den schädlichen Hang seines
Charakters zu brechen, durch heroisches Umkehren oder
Verzichtleisten: der Reichbegabte, der zu vornehm von
sich denkt, um durch bescheidene Tätigkeit zu nützen,
und zu träge zur ernsten aufopfernden Arbeit ist: das
Mädchen, welches sich keinen genügenden Kreis von
Pflichten zu schaffen weiß: die Frau, die durch eine
leichtsinnige oder frevelhafte Ehe sich band und nicht
genug gebunden weiß: der Gelehrte, Arzt, Kaufmann,
Beamte, der zu zeitig in das einzelne eingekehrt und
seiner ganzen Natur niemals vollen Lauf gegönnt hat,
dafür aber mit einem Wurm im Herzen seine immerhin
tüchtige Arbeit tut: endlich alle unvollständigen Künstler
- dies sind jetzt die noch wahrhaften
Kunstbedürftigen! Und was begehren sie eigentlich von der
Kunst? Sie soll ihnen für Stunden und Augenblicke das
Unbehagen, die Langeweile, das halbschlechte Gewissen
verscheuchen und womöglich den Fehler ihres Lebens und
Charakters als Fehler des Welten-Schicksals ins Große
umdeuten - sehr verschieden von den Griechen, welche
in ihrer Kunst das Aus- und Überströmen ihres eignen
Wohl- und Gesundseins empfanden und es liebten, ihre
Vollkommenheit noch einmal außer sich zu sehen: -
sie führte der Selbstgenuß zur Kunst, diese unsere
Zeitgenossen - der Selbstverdruß.
170
Die Deutschen im Theater. - Das eigentliche
Theatertalent der Deutschen war Kotzebue; er und seine
Deutschen, die der höheren sowohl als die der mittleren
Gesellschaft, gehörten notwendig zusammen, und die
Zeitgenossen hätten von ihm im Ernste sagen dürfen: "in
ihm leben, weben und sind wir". Hier war nichts Erzwungenes,
Angebildetes, Halb- und Angenießendes: was
er wollte und konnte, wurde verstanden, ja bis jetzt ist
der ehrliche Theater-Erfolg auf deutschen Bühnen im
Besitze der verschämten oder unverschämten Erben Kotzebueischer
Mittel und Wirkungen, namentlich soweit das
Lustspiel noch in einiger Blüte steht; woraus sich ergibt,
daß viel von dem damaligen Deutschtum, zumal abseits
von der großen Stadt, immer noch fortlebt. Gutmütig,
in kleinen Genüssen unenthaltsam, tränenlüstern, mit
dem Wunsche, wenigstens im Theater sich der eingebornen
pflichtstrengen Nüchternheit entschlagen zu dürfen
und hier lächelnde, ja lachende Duldung zu üben, das
Gute und das Mitleid verwechselnd und in eins zusammenwerfend
- wie es das Wesentliche der deutschen Sentimentalität
ist -, überglücklich bei einer schönen großmütigen
Handlung, im übrigen unterwürfig nach oben,
neidisch gegeneinander, und doch im Innersten sich selbst
genügend - so waren sie, so war er. - Das zweite
Theatertalent war Schiller: dieser entdeckte eine Klasse
von Zuhörern, welche bis dahin nicht in Betracht gekommen
waren; er fand sie in den unreifen Lebensaltern,
im deutschen Mädchen und Jüngling. Ihren höheren,
edleren, stürmischeren, wenn auch unklareren Regungen,
ihrer Lust am Klingklang sittlicher Worte (welche in
den dreißiger Jahren des Lebens zu verschwinden pflegt)
kam er mit seinen Dichtungen entgegen und errang sich
dadurch, gemäß der Leidenschaftlichkeit und Parteisucht
jener Altersklasse, einen Erfolg, der allmählich auch auf
die reiferen Lebensalter mit Vorteil einwirkte: Schiller
hat im allgemeinen die Deutschen verjüngt. - Goethe
stand über den Deutschen in jeder Beziehung und steht
es auch jetzt noch: er wird ihnen nie angehören. Wie
könnte auch je ein Volk der Goethischen Geistigkeit.
im Wohl-Sein und Wohl-Wollen gewachsen
sein! Wie Beethoven über die Deutschen weg Musik machte,
wie Schopenhauer über die Deutschen weg philosophierte,
so dichtete Goethe seinen Tasso, seine Iphigenie über die
Deutschen weg. Ihm folgte eine sehr kleine Schar
Höchstgebildeter, durch Altertum, Leben und Reisen Erzogener,
über deutsches Wesen hinaus Gewachsener: -
er selber wollte es nicht anders. - Als dann die Romantiker
ihren zweckbewußten Goethe-Kultus aufrichteten,
als ihre erstaunliche Kunstfertigkeit des Anschmeckens
dann auf die Schüler Hegels, die eigentlichen Erzieher
der Deutschen dieses Jahrhunderts, überging, als der
erwachende nationale Ehrgeiz auch dem Ruhme der deutschen
Dichter zugute kam und der eigentliche Maßstab
des Volkes, ob es sich ehrlich an etwas freuen könne,
unerbittlich dem Urteile der einzelnen und jenem nationalen
Ehrgeize untergeordnet wurde - das heißt, als
man anfing sich freuen zu müssen -, da entstand jene
Verlogenheit und Unechtheit der deutschen Bildung,
welche sich Kotzebues schämte, welche Sophokles, Calderon
und selbst Goethes Faust-Fortsetzung auf die Bühne
brachte und welche ihrer belegten Zunge, ihres verschleimten
Magens wegen, zuletzt nicht mehr weiß, was
ihr schmeckt, was ihr langweilig ist. - Selig sind die,
welche Geschmack haben, wenn es auch ein schlechter
Geschmack ist! - Und nicht nur selig, auch weise kann
man nur vermöge dieser Eigenschaft werden: weshalb die
Griechen, die in solchen Dingen sehr fein waren, den
Weisen mit einem Wort bezeichneten, das den Mann des
Geschmacks bedeutet, und Weisheit, künstlerische
sowohl wie erkennende, geradezu "Geschmack" (sophia) benannten.
171
Die Musik als Spätling jeder Kultur. -
Die Musik kommt von allen Künsten, welche auf einem
bestimmten Kultur-Boden, unter bestimmten sozialen und
politischen Verhältnissen jedesmal aufzuwachsen pflegen,
als die letzte aller Pflanzen zum Vorschein, im Herbst
und Abblühen der zu ihr gehörigen Kultur: während gewöhnlich
die ersten Boten und Anzeichen eines neuen
Frühlings schon bemerkbar sind; ja mitunter läutet die
Musik wie die Sprache eines versunkenen Zeitalters in
eine erstaunte und neue Welt hinein und kommt zu spät.
Erst in der Kunst der Niederländer Musiker fand die
Seele des christlichen Mittelalters ihren vollen Klang:
ihre Ton-Baukunst ist die nachgeborne, aber echt- und
ebenbürtige Schwester der Gotik. Erst in Händels Musik
erklang das beste von Luthers und seiner Verwandten
Seele, der große jüdisch-heroische Zug, welcher die ganze
Reformations-Bewegung schuf. Erst Mozart gab dem Zeitalter
Ludwig des Vierzehnten und der Kunst Racines und
Claude Lorrains in klingendem Golde heraus. Erst
in Beethovens und Rossinis Musik sang sich das achtzehnte
Jahrhundert aus, das Jahrhundert der Schwärmerei,
der zerbrochnen Ideale und des flüchtigen Glücks.
So möchte denn ein Freund empfindsamer Gleichnisse
sagen, jede wahrhaft bedeutende Musik sei Schwanengesang.
- Die Musik ist eben nicht eine allgemeine
überzeitliche Sprache, wie man so oft zu ihrer Ehre gesagt
hat, sondern entspricht genau einem Gefühls-Wärme- und
Zeitmaß, welches eine ganz bestimmte einzelne, zeitlich
und örtlich gebundene Kultur als inneres Gesetz in sich
trägt: die Musik Palestrinas würde für einen Griechen
völlig unzugänglich sein, und wiederum - was würde
Palestrina bei der Musik Rossinis hören? - Vielleicht,
daß auch unsere neueste deutsche Musik, so sehr sie
herrscht und herrschlustig ist, in kurzer Zeitspanne nicht
mehr verstanden wird: denn sie entsprang aus einer Kultur,
die im raschen Absinken begriffen ist; ihr Boden ist
jene Reaktions- und Restaurations-Periode, in welcher
ebenso ein gewisser Katholizismus des Gefühls
wie die Lust an allem heimisch-nationalen Wesen
und Urwesen zur Blüte kam und über Europa
einen gemischten Duft ausgoß: welche beide Richtungen
des Empfindens, in größter Stärke erfaßt und bis in die
entferntesten Enden fortgeführt, in der Wagnerischen
Kunst zuletzt zum Erklingen gekommen sind. Wagners
Aneignung der altheimischen Sagen, sein veredelndes Schalten
und Walten unter deren so fremdartigen Göttern und
Helden - welche eigentlich souveräne Raubtiere sind, mit
Anwandlungen von Tiefsinn, Großherzigkeit und Lebensüberdruß
-, die Neubeseelung dieser Gestalten, denen er
den christlich-mittelalterlichen Durst nach verzückter
Sinnlichkeit und Entsinnlichung dazugab, dieses ganze
Wagnerische Nehmen und Geben in Hinsicht auf Stoffe, Seelen,
Gestalten und Worte spricht deutlich auch den Geist
seiner Musik aus, wenn diese, wie alle Musik, von sich
selber nicht völlig unzweideutig zu reden vermöchte:
dieser Geist führt den allerletzten Kriegs- und
Reaktionszug an gegen den Geist der Aufklärung, welcher
aus dem vorigen Jahrhundert in dieses hineinwehte, ebenso
gegen die übernationalen Gedanken der französischen
Umsturz-Schwärmerei und der englisch-amerikanischen
Nüchternheit im Umbau von Staat und Gesellschaft. -
Ist es aber nicht ersichtlich, daß die hier - bei Wagner
selbst und seinem Anhange - noch zurückgedrängt
erscheinenden Gedanken- und Empfindungskreise längst
von neuem wieder Gewalt bekommen haben, und daß
jener späte musikalische Protest gegen sie zumeist in
Ohren hineinklingt, die andere und entgegengesetzte Töne
lieber hören? so daß eines Tages jene wunderbare und
hohe Kunst ganz plötzlich unverständlich werden und
sich Spinnweben und Vergessenheit über sie legen könnten.
- Man darf sich über diese Sachlage nicht durch
jene flüchtigen Schwankungen beirren lassen, welche als
Reaktion innerhalb der Reaktion, als ein zeitweiliges
Einsinken des Wellenbergs inmitten der gesamten Bewegung
erscheinen; so mag dieses Jahrzehnt der nationalen
Kriege, des ultramontanen Martyriums und der
sozialistischen Beängstigung in seinen feineren Nachwirkungen
auch der genannten Kunst zu einer plötzlichen
Glorie verhelfen - ohne ihr damit die Bürgschaft dafür
zu geben, daß sie "Zukunft habe", oder gar, daß sie die
Zukunft habe. - Es liegt im Wesen der Musik, daß
die Früchte ihrer großen Kultur-Jahrgänge zeitiger
unschmackhaft werden und rascher verderben als die
Früchte der bildenden Kunst oder gar die auf dem
Baume der Erkenntnis gewachsenen: unter allen Erzeugnissen
des menschlichen Kunstsinns sind nämlich Gedanken
das Dauerhafteste und Haltbarste.
172
Die Dichter keine Lehrer mehr. - So fremd
es unserer Zeit klingen mag: es gab Dichter und Künstler,
deren Seele über die Leidenschaften und deren Krämpfe
und Entzückungen hinaus war und die deshalb an reinlicheren
Stoffen, würdigeren Menschen, zarteren Verknüpfungen
und Lösungen ihre Freude hatten. Sind die
jetzigen großen Künstler meistens Entfesseler des Willens
und unter Umständen eben dadurch Befreier des
Lebens, so waren jene - Willens-Bändiger, Tier-Verwandeler,
Menschen-Schöpfer und überhaupt Bildner, Um-
und Fortbildner des Lebens: während der Ruhm der jetzigen
im Abschirren, Kettenlösen, Zertrümmern liegen mag.
- Die älteren Griechen verlangten vom Dichter, er solle
der Lehrer der Erwachsenen sein: aber wie müßte sich
jetzt ein Dichter schämen, wenn man dies von ihm verlangte,
- er, der selber sich kein guter Lehrer war
und daher selbst kein gutes Gedicht, kein schönes Gebilde
wurde, sondern im günstigen Falle gleichsam der scheue,
anziehende Trümmerhaufen eines Tempels, aber zugleich
eine Höhle der Begierden, mit Blumen, Stechpflanzen,
Giftkräutern ruinenhaft überwachsen, von Schlangen,
Gewürm, Spinnen und Vögeln bewohnt und besucht
- ein Gegenstand zum trauernden Nachsinnen darüber,
warum jetzt das Edelste und Köstlichste sogleich als Ruine,
ohne die Vergangenheit und Zukunft des Vollkommenseins,
emporwachsen muß? -
173
Vor- und Rückblick. - Eine Kunst, wie sie aus
Homer, Sophokles, Theokrit, Calderon, Racine, Goethe
ausströmt, als Überschuß einer weisen und harmonischen
Lebensführung - das ist das Rechte, nach dem
wir endlich greifen lernen, wenn wir selber weiser und
harmonischer geworden sind: nicht jene barbarische,
wenngleich noch so entzückende Aussprudelung hitziger
und bunter Dinge aus einer ungebändigten, chaotischen
Seele, welche wir früher als Jünglinge unter Kunst
verstanden. Es begreift sich aber aus sich selber, daß für
gewisse Lebenszeiten eine Kunst der Überspannung, der
Erregung, des Widerwillens gegen das Geregelte, Eintönige,
Einfache, Logische ein notwendiges Bedürfnis ist,
welchem Künstler entsprechen müssen, damit die Seele
solcher Lebenszeiten sich nicht auf anderem Weg, durch
allerlei Unfug und Unart, entlade. So bedürfen die Jünglinge,
wie sie meistens sind, voll, gärend, von nichts mehr
als von der Langeweile gepeinigt, - so bedürfen Frauen,
denen eine gute, die Seele füllende Arbeit fehlt, jener
Kunst der entzückenden Unordnung. Um so heftiger noch
entflammt sich ihre Sehnsucht nach einem Genügen ohne
Wechsel, einem Glück ohne Betäubung und Rausch.
174
Gegen die Kunst der Kunstwerke. - Die
Kunst soll vor allem und zuerst das Leben verschönern,
also uns selber den anderen erträglich, womöglich
angenehm machen: mit dieser Aufgabe vor Augen mäßigt
sie und hält uns im Zaume, schafft Formen des Umgangs,
bindet die Unerzogenen an Gesetze des Anstands, der
Reinlichkeit, der Höflichkeit, des Redens und Schweigens
zur rechten Zeit. Sodann soll die Kunst alles Häßliche
verbergen oder umdeuten, jenes Peinliche,
Schreckliche, Ekelhafte, welches trotz allem Bemühen immer wieder,
gemäß der Herkunft der menschlichen Natur, herausbrechen
wird: sie soll so namentlich in Hinsicht auf die
Leidenschaften und seelischen Schmerzen und Ängste verfahren
und im unvermeidlich oder unüberwindlich Häßlichen
das Bedeutende durchschimmern lassen. Nach
dieser großen, ja übergroßen Aufgabe der Kunst ist die
sogenannte eigentliche Kunst, die der Kunstwerke,
nur ein Anhängsel. Ein Mensch, der einen Überschuß
von solchen verschönernden, verbergenden und umdeutenden
Kräften in sich fühlt, wird sich zuletzt noch in
Kunstwerken dieses Überschusses zu entladen suchen;
ebenso, unter besonderen Umständen, ein ganzes Volk.
- Aber gewöhnlich fängt man jetzt die Kunst am Ende
an, hängt sich an ihren Schweif und meint, die Kunst
der Kunstwerke sei das Eigentliche, von ihr aus solle das
Leben verbessert und umgewandelt werden - wir Toren!
Wenn wir die Mahlzeit mit dem Nachtisch beginnen und
Süßigkeiten über Süßigkeiten kosten, was wunders, wenn
wir uns den Magen und selbst den Appetit für die gute,
kräftige, nährende Mahlzeit, zu der uns die Kunst
einladet, verderben!
175
Fortbestehen der Kunst. - Wodurch besteht
jetzt im Grunde eine Kunst der Kunstwerke fort? Dadurch,
daß die meisten, welche Mußestunden haben - und nur
für diese gibt es ja eine solche Kunst -, nicht glauben,
ohne Musik, Theater- und Galerien-Besuch, ohne Roman-
und Gedichte-lesen mit ihrer Zeit fertig zu werden. Gesetzt,
man könnte sie von dieser Befriedigung abhalten,
so würden sie entweder nicht so eifrig nach Muße streben
und der neiderregende Anblick der Reichen würde seltener
- ein großer Gewinn für den Bestand der Gesellschaft;
oder sie hätten Muße, lernten aber nachdenken -
was man lernen und verlernen kann -, über ihre
Arbeit zum Beispiel, ihre Verbindungen, über Freuden,
die sie erweisen könnten: alle Welt, mit Ausnahme der
Künstler, hätte in beiden Fällen den Vorteil davon. -
Es gibt gewiß manchen kraft- und sinnvollen Leser, der
hier einen guten Einwand zu machen versteht. Der Plumpen
und Böswilligen halber soll es doch einmal gesagt
werden, daß es hier wie so oft in diesem Buche dem
Autor eben auf den Einwand ankommt, und daß manches
in ihm zu lesen ist, was nicht gerade darin geschrieben
steht.
176
Das Mundstück der Götter. -- Der Dichter
spricht die allgemeinen höheren Meinungen aus, welche ein
Volk hat, er ist deren Mundstück und Flöte - aber er
spricht sie, vermöge des Metrums und aller anderen künstlerischen
Mittel so aus, daß das Volk sie wie etwas ganz
Neues und Wunderhaftes nimmt und es vom Dichter allen
Ernstes glaubt, er sei das Mundstück der Götter. Ja,
in der Umwölkung des Schaffens vergißt der Dichter selber,
wo er alle seine geistige Weisheit her hat - von
Vater und Mutter, von Lehrern und Büchern aller Art,
von der Straße und namentlich von den Priestern; ihn
täuscht seine eigene Kunst und er glaubt wirklich, in naiver
Zeit, daß ein Gott durch ihn rede, daß er im Zustande
einer religiösen Erleuchtung schaffe, - während er eben
nur sagt, was er gelernt hat, Volks-Weisheit und Volks-Torheit
miteinander. Also: insofern der Dichter wirklich
vox populi ist, gilt er als vox dei.
177
Was alle Kunst will und nicht kann. - Die
schwerste und letzte Aufgabe des Künstlers ist die Darstellung
des Gleichbleibenden, in sich Ruhenden, Hohen,
Einfachen, vom Einzelreiz weit Absehenden; deshalb werden
die höchsten Gestaltungen sittlicher Vollkommenheit
von den schwächeren Künstlern selbst als unkünstlerische
Vorwürfe abgelehnt, weil ihrem Ehrgeize der Anblick
dieser Früchte gar zu peinlich ist: sie glänzen ihnen aus
den äußersten Ästen der Kunst entgegen, aber es fehlt
ihnen Leiter, Mut und Handgriff, um sich so hoch wagen
zu dürfen. An sich ist ein Phidias als Dichter recht
wohl möglich, aber, in Anbetracht der modernen Kraft,
fast nur im Sinne des Wortes, daß bei Gott kein Ding
unmöglich ist. Schon der Wunsch nach einem dichterischen
Claude Lorrain ist ja gegenwärtig eine Unbescheidenheit,
so sehr einen das Herz danach verlangen heißt. - Der
Darstellung des höchsten Menschen, das heißt des
einfachsten und zugleich vollsten, war bis
jetzt kein Künstler gewachsen; vielleicht aber haben die
Griechen, im Ideal der Athene, am weitesten von
allen bisherigen Menschen den Blick geworfen.
178
Kunst und Restauration. - Die rückläufigen
Bewegungen in der Geschichte, die sogenannten Restaurationszeiten,
welche einem geistigen und gesellschaftlichen
Zustand, der vor dem zuletzt bestehenden lag, wieder Leben
zu geben suchen und denen eine kurze Toten-Erweckung
auch wirklich zu gelingen scheint, haben den Reiz
gemütvoller Erinnerung, sehnsüchtigen Verlangens nach fast
Verlorenem, hastigen Umarmens von minutenlangem
Glücke. Wegen dieser seltsamen Vertiefung der Stimmung
finden gerade in solchen flüchtigen, fast traumhaften
Zeiten Kunst und Dichtung einen natürlichen
Boden: wie an steil absinkenden Bergeshängen die zartesten
und seltensten Pflanzen wachsen. - So treibt es
manchen guten Künstler unvermerkt zu einer Restaurations-Denkweise
in Politik und Gesellschaft, für welche er sich,
auf eigene Faust, ein stilles Winkelchen und Gärtchen
zurechtmacht: wo er dann die menschlichen Überreste jener
ihn anheimelnden Geschichtsepoche um sich sammelt und
vor lauter Toten, Halbtoten und Sterbensmüden sein Saitenspiel
ertönen läßt, vielleicht mit dem erwähnten Erfolge
einer kurzen Toten-Erweckung.
179
Glück der Zeit. - In zwei Beziehungen ist unsere
Zeit glücklich zu preisen. In Hinsicht auf die Vergangenheit
genießen wir alle Kulturen und deren Hervorbringungen
und nähren uns mit dem edelsten Blute aller
Zeiten, wir stehen noch dem Zauber der Gewalten, aus
deren Schoße jene geboren wurden, nahe genug, um uns
vorübergehend ihnen mit Lust und Schauder unterwerfen
zu können: während frühere Kulturen nur sich selber
zu genießen vermochten und nicht über sich hinaussahen,
vielmehr wie von einer weiter oder enger gewölbten
Glocke überspannt waren, aus welcher zwar Licht auf sie
herabströmte, durch welche aber kein Blick hindurchdrang.
In Hinsicht auf die Zukunft erschließt sich uns
zum ersten Male in der Geschichte der ungeheure Weitblick
menschlich-ökumenischer, die ganze bewohnte Erde
umspannender Ziele. Zugleich fühlen wir uns der Kräfte
bewußt, diese neue Aufgabe ohne Anmaßung selber in die
Hand nehmen zu dürfen, ohne übernatürlicher Beistände
zu bedürfen; ja, möge unser Unternehmen ausfallen wie
es wolle, mögen wir unsere Kräfte überschätzt haben,
jedenfalls gibt es niemanden, dem wir Rechenschaft schuldeten
als uns selbst: die Menschheit kann von nun an
durchaus mit sich anfangen, was sie will. - Es gibt
freilich sonderbare Menschen-Bienen, welche aus dem
Kelche aller Dinge immer nur das Bitterste und Ärgerlichste
zu saugen verstehen; - und in der Tat, alle Dinge
enthalten etwas von diesem Nicht-Honig in sich. Diese
mögen über das geschilderte Glück unseres Zeitalters in
ihrer Art empfinden und an ihrem Bienen-Korb des Mißbehagens
weiterbauen.
180
Eine Vision. - Lehr- und Betrachtungsstunden für
Erwachsene, Reife und Reifste, und diese täglich, ohne
Zwang, aber nach dem Gebot der Sitte von jedermann
besucht: die Kirchen als die würdigsten und erinnerungsreichsten
Stätten dazu: gleichsam alltägliche Festfeiern
der erreichten und erreichbaren menschlichen Vernunftwürde:
ein neueres und volleres Auf- und Ausblühen des
Lehrer-Ideals, in welches der Geistliche, der Künstler und
der Arzt, der Wissende und der Weise hineinverschmelzen,
wie deren Einzel-Tugenden als Gesamt-Tugend auch in
der Lehre selber, in ihrem Vortrag, ihrer Methode zum
Vorschein kommen müßten, - dies ist meine Vision, die
mir immer wiederkehrt und von der ich fest glaube, daß
sie einen Zipfel des Zukunfts-Schleiers gehoben hat.
181
Erziehung Verdrehung. - Die außerordentliche
Unsicherheit alles Unterrichtswesens, auf Grund deren
jetzt jeder Erwachsene das Gefühl bekommt, sein einziger
Erzieher sei der Zufall gewesen, - das Windfahnenhafte
der erzieherischen Methoden und Absichten erklärt sich
daraus, daß jetzt die ältesten und die neuesten
Kulturmächte wie in einer wilden Volksversammlung mehr
gehört als verstanden werden wollen und um jeden Preis
durch ihre Stimme, ihr Geschrei beweisen wollen, daß sie
noch existieren oder daß sie schon existieren.
Die armen Lehrer und Erzieher sind bei diesem widersinnigen
Lärm erst betäubt, dann still und endlich stumpf
geworden und lassen alles über sich ergehen, wie sie nun
wieder auch alles über ihre Zöglinge ergehen lassen. Sie
selbst sind nicht erzogen: wie sollten sie erziehen? Sie
selbst sind keine gerade gewachsenen, kräftigen, saftvollen
Stämme: wer sich an sie anschließen will, wird sich winden
und krümmen müssen und zuletzt verdreht und verwachsen
erscheinen.
182
Philosophen und Künstler der Zeit. -
Wüstheit und Kaltsinn, Brand der Begierden, Abkühlung
des Herzens - dies widerliche Nebeneinander findet sich
im Bilde der höheren europäischen Gesellschaft der Gegenwart.
Da glaubt der Künstler schon viel zu erreichen,
wenn er durch seine Kunst neben dem Brande der Begierde
auch einmal den Brand des Herzens aufflammen
macht: und ebenso der Philosoph, wenn er bei der Kühle
des Herzens, die er mit seiner Zeit gemein hat, auch die
Hitze der Begierde durch sein weltverneinendes Urteilen
in sich und jener Gesellschaft abkühlt.
183
Nicht ohne Not Soldat der Kultur sein. -
Endlich, endlich lernt man, was nicht zu wissen einem in
jüngeren Jahren so viel Einbuße macht: daß man zuerst
das Vortreffliche tun, zu zweit das Vortreffliche aufsuchen
müsse, wo und unter welchen Namen es auch zu
finden sei: daß man dagegen allem Schlechten und Mittelmäßigen
sofort aus dem Wege gehe, ohne es zu bekämpfen,
und daß schon der Zweifel an der Güte einer
Sache - wie er bei geübterem Geschmacke schnell entsteht -
uns als Argument gegen sie und als Anlaß, ihr
völlig auszuweichen, gelten dürfe: auf die Gefahr hin,
einige Male dabei zu irren und das schwerer zugängliche
Gute mit dem Schlechten und Unvollkommenen zu verwechseln.
Nur wer nichts Besseres kann, soll den Schlechtigkeiten
der Welt zu Leibe gehn, als der Soldat der Kultur.
Aber der Nähr- und Lehrstand derselben richtet sich
zugrunde, wenn er in Waffen einhergehen will und den
Frieden seines Berufs und Hauses durch Vorsorge, Nachtwachen
und böse Träume in unheimliche Friedlosigkeit
umkehrt.
184
Wie Naturgeschichte zu erzählen ist. -
Die Naturgeschichte, als die Kriegs- und Siegesgeschichte
der sittlich-geistigen Kraft im Widerstande gegen Angst,
Einbildung, Trägheit, Aberglaube, Narrheit, sollte so erzählt
werden, daß jeder, der sie hört, zum Streben nach
geistig-leiblicher Gesundheit und Blüte, zum Frohgefühl,
Erbe und Fortsetzer des Menschlichen zu sein, und zu
einem immer edleren Unternehmungs-Bedürfnis unaufhaltsam
fortgerissen würde. Bis jetzt hat sie ihre rechte
Sprache noch nicht gefunden, weil die spracherfinderischen
und beredten Künstler - denn deren bedarf es hierzu -
gegen sie ein verstocktes Mißtrauen nicht loswerden und
vor allem nicht gründlich von ihr lernen wollen. Immerhin
ist den Engländern zuzugestehen, daß sie in ihren
naturwissenschaftlichen Lehrbüchern für die niederen
Volksschichten bewunderungswürdige Schritte nach jenem Ideale
hin gemacht haben: dafür werden diese auch von ihren
ausgezeichnetsten Gelehrten - ganzen, vollen und füllenden
Naturen - gemacht, nicht, wie bei uns, von den
Mittelmäßigkeiten der Forschung.
185
Genialität der Menschheit. - Wenn Genialität,
nach Schopenhauers Beobachtung, in der zusammenhängenden
und lebendigen Erinnerung an das Selbst-Erlebte
besteht, so möchte im Streben nach Erkenntnis des
gesamten historischen Gewordenseins - welches immer
mächtiger die neuere Zeit gegen alle früheren abhebt und
zum ersten Male zwischen Natur und Geist, Mensch und
Tier, Moral und Physik die alten Mauern zerbrochen hat
- ein Streben nach Genialität der Menschheit im ganzen
zu erkennen sein. Die vollendet gedachte Historie wäre
kosmisches Selbstbewußtsein.
186
Kultus der Kultur. - Großen Geistern ist das
abschreckende Allzumenschliche ihres Wesens, ihrer Blindheiten,
Verkrümmungen, Maßlosigkeiten beigegeben, damit
ihr mächtiger, leicht allzumächtiger Einfluß fortwährend
durch das Mißtrauen, welches jene Eigenschaften einflößen,
in Schranken gehalten werde. Denn das System
alles dessen, was die Menschheit zu ihrem Fortbestehen
nötig hat, ist so umfassend und nimmt so verschiedenartige
und zahlreiche Kräfte in Anspruch, daß für jede
einseitige Bevorzugung, sei es der Wissenschaft oder
des Staates oder der Kunst oder des Handels, wozu
jene Einzelnen treiben, die Menschheit als Ganzes harte
Buße zahlen muß. Es ist immer das größte Verhängnis
der Kultur gewesen, wenn Menschen angebetet wurden:
in welchem Sinn man sogar mit dem Spruche des mosaischen
Gesetzes zusammenfühlen darf, welcher verbietet,
neben Gott andere Götter zu haben. - Dem Kultus
des Genius und der Gewalt muß man, als Ergänzung und
Heilmittel, immer den Kultus der Kultur zur Seite stellen:
welcher auch dem Stofflichen, Geringen, Niedrigen, Verkannten,
Schwachen, Unvollkommnen, Einseitigen, Halben,
Unwahren, Scheinenden, ja dem Bösen und Furchtbaren
eine verständnisvolle Würdigung und das Zugeständnis,
daß dies alles nötig sei, zu schenken
weiß; denn der Zusammen- und Fortklang alles Menschlichen,
durch erstaunliche Arbeiten und Glücksfälle erreicht,
und ebenso sehr das Werk von Zyklopen und Ameisen
als von Genies, soll nicht wieder verloren gehen: wie
dürften wir da des gemeinsamen tiefen, oft unheimlichen
Grundbasses entraten können, ohne den ja Melodie
nicht Melodie zu sein vermag?
187
Die alte Welt und die Freude. - Die Menschen
der alten Welt wußten sich besser zu freuen: wir,
uns weniger zu betrüben; jene machten immerfort
neue Anlässe, sich wohl zu fühlen und Feste zu feiern,
ausfindig, mit allem ihrem Reichtum von Scharfsinn und
Nachdenken: während wir unsern Geist auf Lösung von
Aufgaben verwenden, welche mehr die Schmerzlosigkeit,
die Beseitigung von Unlustquellen im Auge haben. In
betreff des leidenden Daseins suchten die Alten zu vergessen
oder die Empfindung ins Angenehme irgendwie
umzubiegen: so daß sie hierin palliativisch zu helfen
suchten, während wir den Ursachen des Leidens zu Leibe
gehen und im ganzen lieber prophylaktisch wirken. -
Vielleicht bauen wir nur die Grundlagen, auf denen spätere
Menschen auch wieder den Tempel der Freude errichten.
188
Die Musen als Lügnerinnen. - "Wir verstehen
uns darauf, viele Lügen zu sagen" - so sangen einstmals
die Musen, als sie sich vor Hesiod offenbarten. - Es
führt zu wesentlichen Entdeckungen, wenn man den Künstler
einmal als Betrüger faßt.
189
Wie paradox Homer sein kann. - Gibt es
etwas Verwegeneres, Schauerlicheres, Unglaublicheres, das
über Menschenschicksal, gleich der Wintersonne, so hinleuchtet,
wie jener Gedanke, der sich bei Homer findet:
- das ja fügte der Götter Beschluß und verhängte den Menschen
- Untergang, daß es wär' ein Gesang auch späten Geschlechtern.
Also: wir leiden und gehen zugrunde, damit es den Dichtern
nicht an Stoff fehle - und dies ordnen geradeso
die Götter Homers an, welchen an der Lustbarkeit der
kommenden Geschlechter sehr viel gelegen scheint, aber
allzu wenig an uns, den Gegenwärtigen. - Daß je solche
Gedanken in den Kopf eines Griechen gekommen sind!
190
Nachträgliche Rechtfertigung des Daseins.
- Manche Gedanken sind als Irrtümer und Phantasmen
in die Welt getreten, aber zu Wahrheiten geworden,
weil die Menschen ihnen hinterdrein ein wirkliches
Substrat untergeschoben haben.
191
Pro und Contra nötig. - Wer nicht begriffen
hat, daß jeder große Mann nicht nur gefördert, sondern
auch, der allgemeinen Wohlfahrt wegen, bekämpft
werden muß, ist gewiß noch ein großes Kind - oder selber
ein großer Mann.
192
Ungerechtigkeit des Genies. - Das Genie ist
am ungerechtesten gegen die Genies, falls sie seine Zeitgenossen
sind: einmal glaubt es sie nicht nötig zu haben
und hält sie deshalb überhaupt für überflüssig - denn
es ist ohne sie, was es ist -, sodann kreuzt ihr Einfluß
die Wirkung seines elektrischen Stroms: weshalb es sie
sogar schädlich nennt.
193
Schlimmstes Schicksal eines Propheten.
Er arbeitete zwanzig Jahre daran, seine Zeitgenossen von
sich zu überzeugen - es gelingt ihm endlich; aber inzwischen
war es seinen Gegnern auch gelungen: er war
nicht mehr von sich überzeugt.
194
Drei Denker gleich einer Spinne. - In jeder
philosophischen Sekte folgen drei Denker in diesem Verhältnisse
aufeinander: der erste erzeugt aus sich den Saft
und Samen, der zweite zieht ihn zu Fäden aus und
spinnt ein künstliches Netz, der dritte lauert in diesem
Netz auf Opfer, die sich hier verfangen - und sucht von
der Philosophie zu leben.
195
Aus dem Verkehre mit Autoren. - Es ist eine
ebenso schlechte Manier, mit einem Autor umzugehn,
wenn man ihn an der Nase faßt, wie wenn man ihn an
seinem Horne faßt - und jeder Autor hat sein Horn.
196
Zweigespann. - Unklarheit des Denkens und
Gefühlsschwärmerei sind ebenso häufig mit dem rücksichtslosen
Willen, sich selber mit allen Mitteln durchzusetzen,
sich allein gelten zu lassen, verbunden wie herzhaftes Helfen,
Gönnen und Wohlwollen mit dem Triebe nach Helle
und Reinlichkeit des Denkens, nach Mäßigung und Ansichhalten
des Gefühls.
197
Das Bindende und das Trennende. - Liegt
nicht im Kopfe das, was die Menschen verbindet - das
Verständnis für gemeinsamen Nutzen und Nachteil -, und
im Herzen das, was sie trennt - das blinde Auswählen
und Zutappen in Liebe und Haß, die Hinwendung zu
einem auf Unkosten aller und die daraus entspringende
Verachtung des allgemeinen Nutzens?
198
Schützen und Denker. - Es gibt kuriose Schützen,
welche zwar das Ziel verfehlen, aber mit dem heimlichen
Stolz vom Schießstande abtreten, daß ihre Kugel
jedenfalls sehr weit (allerdings über das Ziel hinaus) geflogen
ist, oder daß sie zwar nicht das Ziel, aber etwas anderes
getroffen haben. Und ebensolche Denker gibt es.
199
Von zwei Seiten aus. - Man feindet eine geistige
Richtung und Bewegung an, wenn man ihr überlegen ist
und ihr Ziel mißbilligt, oder wenn ihr Ziel zu hoch und
unserem Auge unerkennbar, also wenn sie uns überlegen
ist. So kann dieselbe Partei von zwei Seiten aus, von
oben und von unten her, bekämpft werden; und nicht
selten schließen die Angreifenden aus gemeinsamem Haß
ein Bündnis miteinander, das widerlicher ist als alles,
was sie hassen.
200
Original. - Nicht daß man etwas Neues zuerst sieht,
sondern daß man das Alte, Altbekannte, von jedermann
Gesehene und Übersehene wie neu sieht, zeichnet die
eigentlich originalen Köpfe aus. Der erste Entdecker ist
gemeinhin jener ganz gewöhnliche und geistlose Phantast
- der Zufall.
201
Irrtum der Philosophen. - Der Philosoph
glaubt, der Wert seiner Philosophie liege im Ganzen, im
Bau: die Nachwelt findet ihn im Stein, mit dem er baute
und mit dem, von da an, noch oft und besser gebaut wird:
also darin, daß jener Bau zerstört werden kann und doch
noch als Material Wert hat.
202
Witz. - Der Witz ist das Epigramm auf den Tod
eines Gefühls.
203
Im Augenblicke vor der Lösung. - In der
Wissenschaft kommt es alle Tage und Stunden vor, daß
einer unmittelbar vor der Lösung stehen bleibt, überzeugt,
jetzt sei sein Bemühen völlig umsonst gewesen, - gleich
einem, der, eine Schleife aufziehend, im Augenblicke, wo
sie der Lösung am nächsten ist, zögert: denn da gerade
sieht sie einem Knoten am ähnlichsten.
204
Unter die Schwärmergehen. - Der besonnene
und seines Verstandes sichere Mensch kann mit Gewinnst
ein Jahrzehnt unter die Phantasten gehen und sich in
dieser heißen Zone einer bescheidenen Tollheit überlassen.
Damit hat er ein gutes Stück Wegs gemacht, um zuletzt
zu jenem Kosmopolitismus des Geistes zu gelangen, welcher
ohne Anmaßung sagen darf: "nichts Geistiges ist mir
mehr fremd".
205
Scharfe Luft. - Das Beste und Gesündeste in der
Wissenschaft wie im Gebirge ist die scharfe Luft, die in
ihnen weht. - Die Geistig-Weichlichen (wie die Künstler)
scheuen und verlästern dieser Luft halber die Wissenschaft.
206
Warum Gelehrte edler als Künstler sind.
- Die Wissenschaft bedarf edlerer Naturen als die
Dichtkunst: sie müssen einfacher, weniger ehrgeizig, enthaltsamer,
stiller, nicht so auf Nachruhm bedacht sein und
sich über Sachen vergessen, welche selten dem Auge vieler
eines solchen Opfers der Persönlichkeit würdig erscheinen.
Dazu kommt eine andre Einbuße, deren sie sich bewußt
sind: die Art ihrer Beschäftigung, die fortwährende Aufforderung
zur größten Nüchternheit schwächt ihren Willen,
das Feuer wird nicht so stark unterhalten wie auf
dem Herde der dichterischen Naturen: und deshalb verlieren
sie häufig in früheren Lebensjahren als jene ihre
höchste Kraft und Blüte - und, wie gesagt, sie wissen
um diese Gefahr. Unter allen Umständen erscheinen
sie unbegabter, weil sie weniger glänzen, und werden für
weniger gelten, als sie sind.
207
Inwiefern die Pietät verdunkelt. - Dem
großen Manne macht man, in späteren Jahrhunderten, alle
großen Eigenschaften und Tugenden seines Jahrhunderts
zum Geschenk - und so wird alles Beste fortwährend
durch die Pietät verdunkelt, welche es als ein heiliges
Bild ansieht, an dem man Weihgeschenke aller Art aufhängt
und aufstellt - bis es endlich ganz durch dieselben
verdeckt und umhüllt wird und fürderhin mehr ein Gegenstand
des Glaubens als des Schauens ist.
208
Auf dem Kopfe stehen. - Wenn wir die Wahrheit
auf den Kopf stellen, bemerken wir gewöhnlich nicht,
daß auch unser Kopf nicht dort steht, wo er stehen sollte.
209
Ursprung und Nutzen der Mode. - Die ersichtliche
Selbstzufriedenheit des einzelnen mit seiner
Form macht die Nachahmung rege und erschafft allmählich
die Form der Vielen, das heißt die Mode: diese Vielen
wollen durch die Mode eben jene so wohltuende Selbstzufriedenheit
mit der Form und erlangen sie auch. - Wenn
man erwägt, wie viel Gründe zur Ängstlichkeit und schüchternem
Sichverstecken jeder Mensch hat und wie Dreiviertel
seiner Energie und seines guten Willens durch jene Gründe
gelähmt und unfruchtbar werden können, so muß man
der Mode vielen Dank zollen, insofern sie jenes Dreiviertel
entfesselt und Selbstvertrauen und gegenseitiges
heiteres Entgegenkommen denen mitteilt, welche sich untereinander
an ihr Gesetz gebunden wissen. Auch törichte
Gesetze geben Freiheit und Ruhe des Gemüts, sofern sich
nur viele ihnen unterworfen haben.
210
Zungenlöser. - Der Wert mancher Menschen und
Bücher beruht allein in der Eigenschaft, jedermann zum
Aussprechen des Verborgensten, Innersten zu nötigen: es
sind Zungenlöser und Brecheisen für die verbissensten
Zähne. Auch manche Ereignisse und Übeltaten, welche
scheinbar nur zum Fluche der Menschheit da sind, haben
jenen Wert und Nutzen.
211
Freizügige Geister. - Wer von uns würde sich
einen freien Geist zu nennen wagen, wenn er nicht auf
seine Art jenen Männern, denen man diesen Namen als
Schimpf anhängt, eine Huldigung darbringen möchte,
indem er etwas von jener Last der öffentlichen Mißgunst
und Beschimpfung auf seine Schultern ladet? Wohl aber
dürften wir uns "freizügige Geister" in allem Ernste (und
ohne diesen hoch- oder großmütigen Trotz) nennen, weil
wir den Zug zur Freiheit als stärksten Trieb unseres Geistes
fühlen und im Gegensatz zu den gebundenen und
festgewurzelten Intellekten unser Ideal fast in einem geistigen
Nomadentum sehen - um einen bescheidenen und fast
abschätzigen Ausdruck zu gebrauchen.
212
Ja die Gunst der Musen! - Was Homer darüber
sagt, greift ins Herz, so wahr, so schrecklich ist es: "herzlich
liebt' ihn die Muse und gab ihm Gutes und Böses;
denn die Augen entnahm sie und gab ihm süßen Gesang
ein." - Dies ist ein Text ohne Ende für den Denkenden:
Gutes und Böses gibt sie, das ist ihre Art von herzlicher
Liebe! Und jeder wird es sich besonders auslegen, warum
wir Denker und Dichter unsre Augen darangeben
müssen.
213
Gegen die Pflege der Musik. - Die künstlerische
Ausbildung des Auges von Kindheit an, durch
Zeichnen und Malen, durch Skizzieren von Landschaften,
Personen, Vorgängen, bringt nebenbei den für das Leben
unschätzbaren Gewinn mit sich, das Auge zum Beobachten
von Menschen und Lagen scharf, ruhig und ausdauernd
zu machen. Ein ähnlicher Neben-Vorteil erwächst
aus der künstlerischen Pflege des Ohres nicht: weshalb
Volksschulen im allgemeinen gut tun werden, der
Kunst des Auges von der des Ohres den Vorzug zu geben.
214
Die Entdecker von Trivialitäten. - Subtile
Geister, denen nichts ferner liegt als eine Trivialität,
entdecken oft nach allerlei Umschweifen und Gebirgspfaden
eine solche und haben große Freude daran, zur
Verwunderung der Nicht-Subtilen.
215
Moral der Gelehrten. - Ein regelmäßiger und
schneller Fortschritt der Wissenschaften ist nur möglich,
wenn der einzelne nicht zu mißtrauisch sein muß,
um jede Rechnung und Behauptung anderer nachzuprüfen,
auf Gebieten, die ihm ferner liegen: dazu aber ist die
Bedingung, daß jeder auf seinem eigenen Felde Mitbewerber
hat, die äußerst mißtrauisch sind und ihm
scharf auf die Finger sehen. Aus diesem Nebeneinander
von "nicht zu mißtrauisch" und "äußerst mißtrauisch" entsteht
die Rechtschaffenheit in der Gelehrten-Republik.
216
Grund der Unfruchtbarkeit. - Es gibt höchst
begabte Geister, welche nur deshalb immer unfruchtbar
sind, weil sie, aus einer Schwäche des Temperamentes, zu
ungeduldig sind, ihre Schwangerschaft abzuwarten.
217
Verkehrte Welt der Tränen. - Das vielfache
Mißbehagen, welches die Ansprüche der höheren Kultur dem
Menschen machen, verkehrt endlich die Natur so weit, daß
er für gewöhnlich starr und stoisch sich hält und nur noch
für die seltenen Anfälle des Glücks die Tränen übrig
hat, ja daß mancher schon bei dem Genusse der Schmerzlosigkeit
weinen muß: - nur im Glücke schlägt sein
Herz noch.
218
Die Griechen als Dolmetscher. - Wenn wir
von den Griechen reden, reden wir unwillkürlich zugleich
von heute und gestern: ihre allbekannte Geschichte ist ein
blanker Spiegel, der immer etwas widerstrahlt, das nicht
im Spiegel selbst ist. Wir benutzen die Freiheit, von ihnen
zu reden, um von anderen schweigen zu dürfen - damit
jene nun selber dem sinnenden Leser etwas ins Ohr
sagen. So erleichtern die Griechen dem modernen Menschen
das Mitteilen von mancherlei schwer Mitteilbarem
und Bedenklichem.
219
Vom erworbenen Charakter der Griechen.
- Wir lassen uns leicht durch die berühmte griechische
Helle, Durchsichtigkeit, Einfachheit und Ordnung, durch
das Kristallhaft-Natürliche und zugleich Kristallhaft-Künstliche
griechischer Werke verführen zu glauben, das
sei alles den Griechen geschenkt: sie hätten zum Beispiel
gar nicht anders gekonnt als gut schreiben, wie dies
Lichtenberg einmal ausspricht. Aber nichts ist voreiliger
und unhaltbarer. Die Geschichte der Prosa von Gorgias
bis Demosthenes zeigt ein Arbeiten und Ringen aus dem
Dunklen, Überladnen, Geschmacklosen heraus zum Lichte
hin, daß man an die Mühsal der Heroen erinnert wird,
welche die ersten Wege durch Wald und Sümpfe zu
bahnen hatten. Der Dialog der Tragödie ist die eigentliche
Tat der Dramatiker, wegen seiner ungemeinen Helle
und Bestimmtheit, bei einer Volksanlage, welche im Symbolischen
und Andeutenden schwelgte und durch die
große chorische Lyrik dazu noch eigens erzogen war:
wie es die Tat Homers ist, die Griechen von dem asiatischen
Pomp und dem dumpfen Wesen befreit und die
Helle der Architektur, im großen und einzelnen, errungen
zu haben. Es galt auch keineswegs für leicht, etwas recht
rein und leuchtend zu sagen; woher sonst die hohe Bewunderung
für das Epigramm des Simonides, das ja so
schlicht sich gibt, ohne vergoldete Spitzen, ohne Arabesken
des Witzes - aber es sagt, was es zu sagen hat,
deutlich, mit der Ruhe der Sonne, nicht mit der Effekthascherei
eines Blitzes. Weil das Zustreben zum Lichte
aus einer gleichsam eingeborenen Dämmerung griechisch
ist, so geht ein Frohlocken durch das Volk beim Hören
einer lakonischen Sentenz, bei der Sprache der Elegie,
den Sprüchen der sieben Weisen. - Deshalb wurde das
Vorschriftengeben in Versen, das uns anstößig ist, so
geliebt, als eigentliche apollinische Aufgabe für den hellenischen
Geist, um über die Gefahren des Metrons, über
die Dunkelheit, welche der Poesie sonst eigen ist, Sieger
zu werden. Die Schlichtheit, die Geschmeidigkeit, die
Nüchternheit sind der Volksanlage angerungen, nicht
mitgegeben - die Gefahr eines Rückfalls ins Asiatische
schwebte immer über den Griechen, und wirklich kam es
von Zeit zu Zeit über sie wie ein dunkler überschwemmender
Strom mystischer Regungen, elementarer Wildheit
und Finsternis. Wir sehen sie untertauchen, wir sehen
Europa gleichsam weggespült, überflutet - denn Europa
war damals sehr klein -, aber immer kommen sie auch
wieder ans Licht, gute Schwimmer und Taucher wie sie
sind, das Volk des Odysseus.
220
Das eigentlich Heidnische. - Vielleicht gibt
es nichts Befremdenderes für den, welcher sich die
griechische Welt ansieht, als zu entdecken, daß die Griechen
allen ihren Leidenschaften und bösen Naturhängen von
Zeit zu Zeit gleichsam Feste gaben und sogar eine Art
Festordnung ihres Allzumenschlichen von Staats wegen
einrichteten: es ist dies das eigentlich Heidnische ihrer
Welt, vom Christentume aus nie begriffen, nie zu begreifen
und stets auf das härteste bekämpft und verachtet.
- Sie nahmen jenes Allzumenschliche als unvermeidlich
und zogen vor, statt es zu beschimpfen, ihm eine Art
Recht zweiten Ranges durch Einordnung in die Bräuche
der Gesellschaft und des Kultus zu geben: ja alles, was
im Menschen Macht hat, nannten sie göttlich und
schrieben es an die Wände ihres Himmels. Sie leugnen
den Naturtrieb, der in den schlimmen Eigenschaften
sich ausdrückt, nicht ab, sondern ordnen ihn ein und beschränken
ihn auf bestimmte Kulte und Tage, nachdem
sie genug Vorsichtsmaßregeln erfunden haben, um jenen
wilden Gewässern einen möglichst unschädlichen Abfluß
geben zu können. Dies ist die Wurzel aller moralistischen
Freisinnigkeit des Altertums. Man gönnte dem Bösen
und Bedenklichen, dem Tierisch-Rückständigen ebenso
wie dem Barbaren, Vor-Griechen und Asiaten, welcher
im Grunde des griechischen Wesens noch lebte, eine mäßige
Entladung und strebte nicht nach seiner völligen Vernichtung.
Das ganze System solcher Ordnungen umfaßte
der Staat, der nicht auf einzelne Individuen oder Kasten,
sondern auf die gewöhnlichen menschlichen Eigenschaften
hin konstruiert war. In seinem Bau zeigen die
Griechen jenen wunderbaren Sinn für das Typisch-Tatsächliche,
der sie später befähigte, Naturforscher, Historiker,
Geographen und Philosophen zu werden. Es war
nicht ein beschränktes priesterliches oder kastenmäßiges
Sittengesetz, welches bei der Verfassung des Staates und
Staats-Kultus zu entscheiden hatte: sondern die umfänglichste
Rücksicht auf die Wirklichkeit alles
Menschlichen. - Woher haben die Griechen diese
Freiheit, diesen Sinn für das Wirkliche? Vielleicht von
Homer und den Dichtern vor ihm; denn gerade die Dichter,
deren Natur nicht die gerechteste und weiseste zu sein
pflegt, besitzen dafür jene Lust am Wirklichen, Wirkenden
jeder Art und wollen selbst das Böse nicht völlig verneinen:
es genügt ihnen, daß es sich mäßige und nicht
alles totschlage oder innerlich giftig mache - das heißt,
sie denken ähnlich wie die griechischen Staatenbildner und
sind deren Lehrmeister und Wegebahner gewesen.
221
Ausnahme-Griechen. - In Griechenland waren
die tiefen, gründlichen, ernsten Geister die Ausnahme: der
Instinkt des Volkes ging vielmehr dahin, das Ernste und
Gründliche als eine Art von Verzerrung zu empfinden.
Die Formen aus der Fremde entlehnen, nicht schaffen,
aber zum schönsten Schein umbilden - das ist griechisch:
nachahmen, nicht zum Gebrauch, sondern zur künstlerischen
Täuschung, über den aufgezwungenen Ernst
immer wieder Herr werden, ordnen, verschönern, verflachen -
so geht es fort von Homer bis zu den Sophisten
des dritten und vierten Jahrhunderts der neuen Zeitrechnung,
welche ganz Außenseite, pomphaftes Wort, begeisterte
Gebärde sind und sich an lauter ausgehöhlte
schein-, klang- und effektlüsterne Seelen wenden. - Und
nun würdige man die Größe jener Ausnahme-Griechen,
welche die Wissenschaft schufen! Wer von ihnen
erzählt, erzählt die heldenhafteste Geschichte des menschlichen
Geistes!
222
Das Einfache nicht das erste, noch das
letzte der Zeit nach. - In die Geschichte der religiösen
Vorstellungen wird viel falsche Entwicklung und
Allmählichkeit hineingedichtet, bei Dingen, die in Wahrheit
nicht aus- und hintereinander, sondern nebeneinander
und getrennt aufgewachsen sind; namentlich ist das Einfache
viel zu sehr noch im Rufe, das Älteste und Anfänglichste
zu sein. Nicht wenig Menschliches entsteht durch
Subtraktion und Division und gerade nicht durch Verdopplung,
Zusatz, Zusammenbildung. - Man glaubt zum
Beispiel immer noch an eine allmähliche Entwicklung der
Götterdarstellung von jenen ungefügen Holzklötzen
und Steinen aus bis zur vollen Vermenschlichung
hinauf: und doch steht es gerade so, daß, solange die
Gottheit in Bäume, Holzstücke, Steine, Tiere hinein verlegt
und empfunden wurde, man sich vor einer Anmenschlichung
ihrer Gestalt wie vor einer Gottlosigkeit scheute.
Erst die Dichter haben, abseits vom Kultus und dem
Banne der religiösen Scham, die innere Phantasie der
Menschen daran gewöhnen, dafür willig machen müssen;
überwogen aber wieder frömmere Stimmungen und
Augenblicke, so trat dieser befreiende Einfluß der Dichter
wieder zurück und die Heiligkeit verblieb nach wie vor
auf Seite des Ungetümlichen, Unheimlichen, ganz eigentlich
Unmenschlichen. Selbst aber vieles von dem, was
die innere Phantasie sich zu bilden wagt, würde doch
noch, in äußere leibhafte Darstellung übersetzt, peinlich
wirken: das innere Auge ist um vieles kühner und
weniger schamhaft als das äußere (woraus sich die bekannte
Schwierigkeit und teilweise Unmöglichkeit ergibt,
epische Stoffe in dramatische umzuwandeln). Die religiöse
Phantasie will lange Zeit durchaus nicht an die Identität
des Gottes mit einem Bilde glauben: das Bild soll das
numen der Gottheit in irgend einer geheimnisvollen, nicht
völlig auszudenkenden Weise hier als tätig, als örtlich
gebannt erscheinen lassen. Das älteste Götterbild soll den
Gott bergen und zugleich verbergen - ihn
andeuten, aber nicht zur Schau stellen. Kein Grieche hat
je innerlich seinen Apollo als Holz-Spitzsäule, seinen Eros
als Steinklumpen angeschaut; es waren Symbole,
welche gerade Angst vor der Veranschaulichung machen
sollten. Ebenso steht es noch mit jenen Hölzern, denen
mit dürftigster Schnitzerei einzelne Glieder, mitunter in der
Überzahl, angebildet waren: wie ein lakonischer Apollo
vier Hände und vier Ohren hatte. In dem Unvollständigen
Andeutenden oder Übervollständigen liegt eine grausenhafte
Heiligkeit, welche abwehren soll, an Menschliches,
Menschenartiges zu denken. Es ist nicht eine embryonische
Stufe der Kunst, in der man so etwas bildet: als
ob man in der Zeit, wo man solche Bilder verehrte, nicht
hätte deutlicher reden, sinnfälliger darstellen können.
Vielmehr scheut man gerade eines: das direkte Heraussagen.
Wie die Cella das Allerheiligste, das eigentliche
numen der Gottheit birgt und in geheimnisvolles Halbdunkel
versteckt, doch nicht ganz; wie wiederum der
peripterische Tempel die Cella birgt, gleichsam mit einem
Schirm und Schleier vor dem ungescheuten Auge schützt,
aber nicht ganz: so ist das Bild die Gottheit und
zugleich Versteck der Gottheit. - Erst als außerhalb des
Kultus, in der profanen Welt des Wettkampfes, die
Freude an dem Sieger im Kampfe so hoch gestiegen war,
daß die hier erregten Wellen in den See der religiösen
Empfindungen hinüberschlugen, erst als das Standbild des
Siegers in den Tempelhöfen aufgestellt wurde und der
fromme Besucher des Tempels freiwillig oder unfreiwillig
sein Auge wie seine Seele an diesen unumgänglichen Anblick
menschlicher Schönheit und Überkraft gewöhnen
mußte, so daß, bei der räumlichen und seelischen
Nachbarschaft, Mensch- und Gottverehrung ineinander
überklangen: da erst verliert sich auch die Scheu vor der
eigentlichen Vermenschlichung des Götterbildes, und der
große Tummelplatz für die große Plastik wird aufgetan:
auch jetzt noch mit der Beschränkung, daß überall, wo
angebetet werden soll, die uralte Form und Häßlichkeit
bewahrt und vorsichtig nachgebildet wird. Aber der
weihende und schenkende Hellene darf seiner
Lust, Gott Mensch werden zu lassen, jetzt in aller Seligkeit
nachhängen.
223
Wohin man reisen muß. - Die unmittelbare
Selbstbeobachtung reicht lange nicht aus, um sich kennen zu
lernen: wir brauchen Geschichte, denn die Vergangenheit
strömt in hundert Wellen in uns fort; wir selber sind
ja nichts als das, was wir in jedem Augenblick von diesem
Fortströmen empfinden. Auch hier sogar, wenn wir in
den Fluß unseres anscheinend eigensten und persönlichsten
Wesens hinabsteigen wollen, gilt Heraklits Satz:
man steigt nicht zweimal in denselben Fluß. - Das ist
eine Weisheit, die allmählich zwar altbacken geworden,
aber trotzdem ebenso kräftig und nahrhaft geblieben ist,
wie sie es je war: ebenso wie jene, daß, um Geschichte zu
verstehen, man die lebendigen Überreste geschichtlicher
Epochen aufsuchen müsse - daß man reisen müsse, wie
Altvater Herodot reiste, zu Nationen - diese sind ja nur
festgewordene ältere Kulturstufen, auf die man sich
stellen kann -, zu sogenannten wilden und halbwilden
Völkerschaften namentlich, dorthin, wo der Mensch das
Kleid Europas ausgezogen oder noch nicht angezogen hat.
Nun gibt es aber noch eine feinere Kunst und Absicht
des Reisens, welche es nicht immer nötig macht, von Ort
zu Ort und über Tausende von Meilen hin den Fuß zu
setzen. Es leben sehr wahrscheinlich die letzten drei Jahrhunderte
in allen ihren Kulturfärbungen und -Strahlenbrechungen
auch in unsrer Nähe noch fort: sie wollen
nur entdeckt werden. In manchen Familien, ja in einzelnen
Menschen liegen die Schichten schön und übersichtlich
noch übereinander: anderswo gibt es schwieriger
zu verstehende Verwerfungen des Gesteins. Gewiß hat
sich in abgelegenen Gegenden, in weniger bekannten Gebirgstälern,
umschlossenern Gemeinwesen ein ehrwürdiges
Musterstück sehr viel älterer Empfindung leichter erhalten
können und muß hier aufgespürt werden: während
es zum Beispiel unwahrscheinlich ist, in Berlin, wo der
Mensch ausgelaugt und abgebrüht zur Welt kommt, solche
Entdeckungen zu machen. Wer, nach langer Übung in
dieser Kunst des Reisens, zum hundertäugigen Argos geworden
ist, der wird seine Jo - ich meine sein ego -
endlich überall hinbegleiten und in Ägypten und Griechenland,
Byzanz und Rom, Frankreich und Deutschland, in
der Zeit der wandernden oder der festsitzenden Völker,
in Renaissance und Reformation, in Heimat und Fremde,
ja in Meer, Wald, Pflanze und Gebirge die Reise-Abenteuer
dieses werdenden und verwandelten ego wieder
entdecken. - So wird Selbst-Erkenntnis zur All-Erkenntnis
in Hinsicht auf alles Vergangene: wie, nach einer anderen,
hier nur anzudeutenden Betrachtungskette, Selbstbestimmung
und Selbsterziehung in den freiesten und
weitest blickenden Geistern einmal zur All-Bestimmung,
in Hinsicht auf alles zukünftige Menschentum, werden
könnte.
224
Balsam und Gift. - Man kann es nicht gründlich
genug erwägen: das Christentum ist die Religion des
altgewordenen Altertums, seine Voraussetzung sind entartete
alte Kulturvölker; auf diese vermochte und vermag
es wie ein Balsam zu wirken. In Zeitaltern, wo die
Ohren und Augen "voller Schlamm" sind, so daß sie die
Stimme der Vernunft und Philosophie nicht mehr zu vernehmen,
die leibhaft wandelnde Weisheit, trage sie nun
den Namen Epiktet oder Epikur, nicht mehr zu sehen vermögen:
da mag vielleicht noch das aufgerichtete Marterkreuz
und die "Posaune des jüngsten Gerichts" wirken,
um solche Völker noch zu einem anständigen Ausleben
zu bewegen. Man denke an das Rom Juvenals, an
diese Giftkröte mit den Augen der Venus: - da lernt
man, was es heißt, ein Kreuz vor der "Welt" schlagen, da
verehrt man die stille christliche Gemeinde und ist dankbar
für ihr Überwuchern des griechisch-römischen Erdreichs.
Wenn die meisten Menschen damals gleich mit der
Verknechtung der Seele, mit der Sinnlichkeit von Greisen
geboren wurden: welche Wohltat, jenen Wesen zu begegnen,
die mehr Seelen als Leiber waren und welche die
griechische Vorstellung von den Hadesschatten zu verwirklichen
schienen: scheue, dahinhuschende, zirpende,
wohlwollende Gestalten, mit einer Anwartschaft auf das
"bessere Leben" und dadurch so anspruchslos, so still-verachtend,
so stolz-geduldig geworden! - Dies Christentum
als Abendläuten des guten Altertums, mit zersprungener
müder und doch wohltönender Glocke, ist
selbst noch für den, welcher jetzt jene Jahrhunderte nur
historisch durchwandert, ein Ohrenbalsam: was muß es
für jene Menschen selber gewesen sein! - Dagegen ist
das Christentum für junge, frische Barbarenvölker Gift;
in die Helden-, Kinder- und Tierseele des alten Deutschen
zum Beispiel die Lehre von der Sündhaftigkeit und Verdammnis
hineinpflanzen, heißt nichts anderes als sie vergiften;
eine ganz ungeheuerliche chemische Gärung und
Zersetzung, ein Durcheinander von Gefühlen und Urteilen,
ein Wuchern und Bilden des Abenteuerlichsten
mußte die Folge sein und also im weiteren Verlaufe eine
gründliche Schwächung solcher Barbarenvölker. - Freilich:
was hätten wir, ohne diese Schwächung, noch von
der griechischen Kultur! was von der ganzen Kultur-Vergangenheit
des Menschengeschlechts! - denn die vom
Christentume unangetasteten Barbaren verstanden
gründlich mit alten Kulturen aufzuräumen: wie es zum
Beispiel die heidnischen Eroberer des romanisierten Britannien
mit furchtbarer Deutlichkeit bewiesen haben.
Das Christentum hat wider seinen Willen helfen müssen,
die antike "Welt" unsterblich zu machen. - Nun bleibt
auch hier wieder eine Gegenfrage und die Möglichkeit
einer Gegenrechnung übrig: wäre vielleicht, ohne jene
Schwächung durch das erwähnte Gift, eine oder die
andere jener frischen Völkerschaften, etwa die deutsche,
imstande gewesen, allmählich von selber eine höhere Kultur
zu finden, eine eigene, neue? - von welcher somit
der Menschheit selbst der entfernteste Begriff verloren
gegangen wäre? - So steht es auch hier wie überall: man
weiß nicht, christlich zu reden, ob Gott dem Teufel oder
der Teufel Gott mehr Dank dafür schuldig ist, daß alles
so gekommen ist, wie es ist.
225
Glaube macht selig und verdammt. - Ein
Christ, der auf unerlaubte Gedankengänge gerät, könnte
sich wohl einmal fragen: ist es eigentlich nötig, daß es
einen Gott, nebst einem stellvertretenden Sündenlamme,
wirklich gibt, wenn schon der Glaube an das Dasein
dieser Wesen ausreicht, um die gleichen Wirkungen hervorzubringen?
Sind es nicht überflüssige Wesen, falls
sie doch existieren sollten? Denn alles Wohltuende, Tröstliche,
Versittlichende, ebenso wie alles Verdüsternde und
Zermalmende, welches die christliche Religion der menschlichen
Seele gibt, geht von jenem Glauben aus und nicht
von den Gegenständen jenes Glaubens. Es steht hier nicht
anders als bei dem bekannten Falle: zwar hat es keine
Hexen gegeben, aber die furchtbaren Wirkungen des
Hexenglaubens sind dieselben gewesen, wie wenn es wirklich
Hexen gegeben hätte. Für alle jene Gelegenheiten,
wo der Christ das unmittelbare Eingreifen eines Gottes
erwartet, aber umsonst erwartet - weil es keinen Gott
gibt, ist seine Religion erfinderisch genug in Ausflüchten
und Gründen zur Beruhigung: hierin ist es sicherlich eine
geistreiche Religion. - Zwar hat der Glaube bisher noch
keine wirklichen Berge versetzen können, obschon dies ich
weiß nicht wer behauptet hat, aber er vermag Berge dorthin
zu setzen, wo keine sind.
226
Tragikomödie von Regensburg. - Hier und
da kann man mit einer erschreckenden Deutlichkeit das
Possenspiel der Fortuna sehen, wie sie an wenig Tage, an
einen Ort, an die Zustände und Meinungen eines Kopfes
das Seil der nächsten Jahrhunderte anknüpft, an dem sie
diese tanzen lassen will. So liegt das Verhängnis der
neueren deutschen Geschichte in den Tagen jener Disputation
von Regensburg: der friedliche Ausgang der
kirchlichen und sittlichen Dinge, ohne Religionskriege,
Gegenreformation schien gewährleistet, ebenso die Einheit
der deutschen Nation; der tiefe milde Sinn des Contarini
schwebte einen Augenblick über dem theologischen
Gezänk, siegreich, als Vertreter der reiferen italienischen
Frömmigkeit, welche die Morgenröte der geistigen Freiheit
auf ihren Schwingen widerstrahlte. Aber der knöcherne
Kopf Luthers, voller Verdächtigungen und unheimlicher
Ängste, sträubte sich: weil die Rechtfertigung
durch die Gnade ihm als sein größter Fund und Wahlspruch
erschien, glaubte er diesem Satze nicht im Munde
von Italienern: während diese ihn, wie es bekannt ist,
schon viel früher gefunden und durch ganz Italien in
tiefer Stille verbreitet hatten. Luther sah in dieser
scheinbaren Übereinstimmung die Tücken des Teufels und
verhinderte das Friedenswerk, so gut er konnte: wodurch
er die Absichten der Feinde des Reiches ein gutes Stück
vorwärts brachte. - Und nun nehme man, um den Eindruck
des schauerlich Possenhaften noch mehr zu haben,
hinzu, daß keiner der Sätze, über welche man sich damals
in Regensburg stritt, weder der von der Erbsünde, noch
der von der Erlösung durch Stellvertretung, noch der
von der Rechtfertigung im Glauben, irgendwie wahr ist,
oder auch nur mit der Wahrheit zu tun hat, daß sie
alle jetzt als undiskutierbar erkannt sind: - und doch
wurde darüber die Welt in Flammen gesetzt, also über
Meinungen, denen gar keine Dinge und Realitäten entsprechen;
während in betreff von rein philologischen
Fragen, zum Beispiel nach der Erklärung der Einsetzungs-Worte
des Abendmahls, doch wenigstens ein
Streit erlaubt ist, weil hier die Wahrheit gesagt werden
kann. Aber wo nichts ist, da hat auch die Wahrheit ihr
Recht verloren. - Zuletzt bleibt nichts übrig zu sagen,
als daß damals allerdings Kraftquellen entsprungen
sind, so mächtig, daß ohne sie alle Mühlen der modernen
Welt nicht mit gleicher Stärke getrieben würden. Und
erst kommt es auf Kraft an, dann erst auf Wahrheit,
oder auch dann noch lange nicht - nicht wahr, meine
lieben Zeitgemäßen?
227
Goethes Irrungen. - Goethe ist darin die große
Ausnahme unter den großen Künstlern, daß er nicht in
der Borniertheit seines wirklichen Vermögens
lebte, als ob dasselbe an ihm selber und für alle Welt
das Wesentliche und Auszeichnende, das Unbedingte und
Letzte sein müsse. Er meinte zweimal etwas Höheres
zu besitzen, als er wirklich besaß - und irrte sich, in
der zweiten Hälfte seines Lebens, wo er ganz durchdrungen
von der Überzeugung erscheint, einer der größten
wissenschaftlichen Entdecker und Lichtbringer zu
sein. Und ebenso schon in der ersten Hälfte seines Lebens:
er wollte von sich etwas Höheres, als die Dichtkunst
ihm schien - und irrte sich schon darin. Die Natur
habe aus ihm einen bildenden Künstler machen wollen
- das war sein innerlich glühendes und versengendes
Geheimnis, das ihn endlich nach Italien trieb, damit er
sich in diesem Wahne noch recht austobe und ihm jedes
Opfer bringe. Endlich entdeckte er, der Besonnene, allem
Wahnschaffnen an sich ehrlich Abholde, wie ein trügerischer
Kobold von Begierde ihn zum Glauben an diesen
Beruf gereizt habe, wie er von der größten Leidenschaft
seines Wollens sich losbinden und Abschied nehmen
müsse. Die schmerzlich schneidende und wühlende Überzeugung,
es sei nötig, Abschied zu nehmen, ist völlig
in der Stimmung des Tasso ausgeklungen: über ihm, dem
"gesteigerten Werther", liegt das Vorgefühl von Schlimmerem
als der Tod ist, wie wenn sich einer sagt: "nun ist
es aus - nach diesem Abschiede; wie soll man weiter
leben, ohne wahnsinnig zu werden!" - Diese beiden
Grundirrtümer seines Lebens gaben Goethe angesichts
einer rein literarischen Stellung zur Poesie, wie damals
die Welt allein sie kannte, eine so unbefangene und fast
willkürlich erscheinende Haltung. Abgesehn von der
Zeit, wo Schiller - der arme Schiller, der keine Zeit
hatte und keine Zeit ließ - ihn aus der enthaltsamen
Scheu vor der Poesie, aus der Furcht vor allem literarischen
Wesen und Handwerk heraustrieb, erscheint
Goethe wie ein Grieche, der hier und da eine Geliebte
besucht, mit dem Zweifel, ob es nicht eine Göttin sei,
der er keinen rechten Namen zu geben wisse. Allem
seinem Dichten merkt man die anhauchende Nähe der
Plastik und der Natur an: die Züge dieser ihm vorschwebenden
Gestalten - und er meinte vielleicht immer
nur den Verwandlungen einer Göttin auf der Spur zu
sein - wurden ohne Willen und Wissen die Züge sämtlicher
Kinder seiner Kunst. Ohne die Umschweife des
Irrtums wäre er nicht Goethe geworden: das heißt, der
einzige deutsche Künstler der Schrift, der jetzt noch nicht
veraltet ist - weil er ebensowenig Schriftsteller als Deutscher
von Beruf sein wollte.
228
Reisende und ihre Grade. - Unter den Reisenden
unterscheide man nach fünf Graden: die des ersten
niedrigsten Grades sind solche, welche reisen und dabei
gesehen werden - sie werden eigentlich gereist und
sind gleichsam blind; die nächsten sehen wirklich selber
in die Welt; die dritten erleben etwas infolge des Sehens;
die vierten leben das Erlebte in sich hinein und tragen
es mit sich fort; endlich gibt es einige Menschen der
höchsten Kraft, welche alles Gesehene, nachdem es erlebt
und eingelebt worden ist, endlich auch notwendig wieder
aus sich herausleben müssen, in Handlungen und Werken,
sobald sie nach Hause zurückgekehrt sind. - Diesen
fünf Gattungen von Reisenden gleich gehen Überhaupt
alle Menschen durch die ganze Wanderschaft des Lebens,
die niedrigsten als reine Passiva, die höchsten als die Handelnden
und Auslebenden ohne allen Rest zurückbleibender
innerer Vorgänge.
229
Im Höher-Steigen. - Sobald man höher steigt
als die, welche einen bisher bewunderten, so erscheint man
eben denen als gesunken und herabgefallen: denn sie vermeinten
unter allen Umständen, bisher mit uns (sei es
auch durch uns) auf der Höhe zu sein.
230
Maß und Mitte. - Von zwei ganz hohen Dingen:
Maß und Mitte, redet man am besten nie. Einige wenige
kennen ihre Kräfte und Anzeichen, aus den Mysterien-Pfaden
innerer Erlebnisse und Umkehrungen: sie verehren
in ihnen etwas Göttliches und scheuen das laute
Wort. Alle übrigen hören kaum zu, wenn davon gesprochen
wird, und wähnen, es handele sich um Langeweile
und Mittelmäßigkeit: jene etwa noch ausgenommen, welche
einen anmahnenden Klang aus jenem Reiche einmal
vernommen, aber gegen ihn sich die Ohren verstopft
haben. Die Erinnerung daran macht sie nun böse und
aufgebracht.
231
Humanität der Freund- und Meisterschaft.
- "Gehe du gen Morgen: so werde ich gen
Abend ziehen" - so zu empfinden ist das hohe Merkmal
von Humanität im engeren Verkehre: ohne diese Empfindung
wird jede Freundschaft, jede Jünger- und Schülerschaft
irgendwann einmal zur Heuchelei.
232
Die Tiefen. - Tiefdenkende Menschen kommen sich
im Verkehr mit anderen als Komödianten vor, weil sie
sich da, um verstanden zu werden, immer erst eine Oberfläche
anheucheln müssen.
233
Für die Verächter der "Herden-Menschheit".
- Wer die Menschen als Herde betrachtet und vor
ihnen so schnell er kann flieht, den werden sie gewiß einholen
und mit ihren Hörnern stoßen.
234
Hauptvergehen gegen den Eitlen. - Wer
einem anderen in der Gesellschaft Gelegenheiten macht, sein
Wissen, Fühlen, Erfahren glücklich darzulegen, stellt sich
über ihn und begeht also, falls er nicht als Höherstehender
von jenem ohne Einschränkung empfunden wird, ein
Attentat auf dessen Eitelkeit - während er gerade derselben
Befriedigung zu geben glaubte.
235
Enttäuschung. - Wenn ein langes Leben und Tun
samt Reden und Schriften von einer Person öffentlich
Zeugnis ablegt, so pflegt der Umgang mit ihr zu enttäuschen,
aus doppeltem Grunde: einmal weil man zuviel
von einer kurzen Zeitspanne Verkehrs erwartet -
nämlich alles das, was erst die tausend Gelegenheiten des
Lebens sichtbar werden ließen -, und sodann weil jeder
Anerkannte sich keine Mühe gibt, im einzelnen noch um
Anerkennung zu buhlen. Er ist zu nachlässig - und wir
sind zu gespannt.
236
Zwei Quellen der Güte. - Alle Menschen mit
gleichmäßigem Wohlwollen behandeln und ohne Unterschied
der Person gütig sein kann ebenso sehr der Ausfluß
tiefer Menschenverachtung als gründlicher Menschenliebe
sein.
237
Der Wanderer im Gebirge zu sich selber.
- Es gibt sichere Anzeichen dafür, daß du vorwärts und
höher hinauf gekommen bist: es ist jetzt freier und aussichtsreicher
um dich als vordem, die Luft weht dich
kühler, aber auch milder an - du hast ja die Torheit
verlernt, Milde und Wärme zu verwechseln -, dein Gang
ist lebhafter und fester geworden, Mut und Besonnenheit
sind zusammen gewachsen: - aus allen diesen Gründen
wird dein Weg jetzt einsamer sein dürfen und jedenfalls
gefährlicher sein als dein früherer, wenn auch gewiß nicht
in dem Maße, als die glauben, welche dich Wanderer vom
dunstigen Tale aus auf dem Gebirge schreiten sehen.
238
Ausgenommen der Nächste. - Offenbar steht
mein Kopf nur auf meinem eigenen Halse nicht recht; denn
jeder andere weiß bekanntlich besser, was ich zu tun und
zu lassen habe: nur mir selber weiß ich armer Schelm
nicht zu helfen. Sind wir nicht alle wie Bildsäulen,
denen falsche Köpfe aufgesetzt wurden? Nicht wahr,
mein geliebter Nachbar? - Doch nein, du gerade bist die
Ausnahme.
239
Vorsicht. - Mit Personen, denen die Scheu vor dem
Persönlichen fehlt, muß man nicht umgehen oder unerbittlich
ihnen vorher die Handschellen der Konvenienz
anlegen.
240
Eitel erscheinen wollen. - Im Gespräche mit
Unbekannten oder Halbbekannten nur ausgewählte Gedanken
äußern, von seinen berühmten Bekanntschaften,
bedeutenden Erlebnissen und Reisen reden, ist ein Anzeichen
davon, daß man nicht stolz ist, mindestens daß
man nicht so scheinen möchte. Die Eitelkeit ist die Höflichkeits-Maske
des Stolzen.
241
Die gute Freundschaft. - Die gute Freundschaft
entsteht, wenn man den anderen sehr achtet, und
zwar mehr als sich selbst, wenn man ebenfalls ihn liebt,
jedoch nicht so sehr als sich, und wenn man endlich, zur
Erleichterung des Verkehrs, den zarten Anstrich und
Flaum der Intimität hinzuzutun versteht, zugleich aber
sich der wirklichen und eigentlichen Intimität und der
Verwechslung von Ich und Du weislich enthält.
242
Die Freunde als Gespenster. - Wenn wir uns
stark verwandeln, dann werden unsere Freunde, die nicht
verwandelten, zu Gespenstern unserer eignen Vergangenheit:
ihre Stimme tönt schattenhaft-schauerlich zu uns
heran - als ob wir uns selber hörten, aber jünger, härter,
ungereifter.
243
Ein Auge und zwei Blicke. - Dieselben Personen,
welche das Naturspiel des gunst- und gönnersuchenden
Blicks haben, haben gewöhnlich auch, infolge ihrer
häufigen Demütigungen und Rachegefühle, den unverschämten Blick.
244
Die blaue Ferne. - Zeitlebens ein Kind - das
klingt sehr rührend, ist aber nur das Urteil aus der Ferne;
in der Nähe gesehen und erlebt, heißt es immer: zeitlebens knabenhaft.
245
Vorteil und Nachteil im gleichen Mißverständnis. -
Die verstummende Verlegenheit des
feinen Kopfes wird gewöhnlich von seiten der Unfeinen als
schweigende Überlegenheit gedeutet und sehr gefürchtet:
während die Wahrnehmung von Verlegenheit Wohlwollen
erzeugen würde.
246
Der Weise sich als Narren gebend. - Die
Menschenfreundlichkeit des Weisen bestimmt ihn mitunter
sich erregt, erzürnt, erfreut zu stellen, um seiner
Umgebung durch die Kälte und Besonnenheit seines wahren
Wesens nicht weh zu tun.
247
Sich zur Aufmerksamkeit zwingen. - Sobald
wir merken, daß jemand im Umgange und Gespräche
mit uns sich zur Aufmerksamkeit zwingen muß, haben
wir einen vollgültigen Beweis dafür, daß er uns nicht oder
nicht mehr liebt.
248
Weg zu einer christlichen Tugend. - Von
seinen Feinden zu lernen ist der beste Weg dazu, sie zu
lieben: denn es stimmt uns dankbar gegen sie.
249
Kriegslist des Zudringlichen. - Der Zudringliche
gibt auf unsre Konventionsmünze in Goldmünze
heraus und will uns dadurch nachträglich nötigen, unsre
Konvention als Versehen und ihn als Ausnahme zu behandeln.
250
Grund der Abneigung. - Wir werden manchem
Künstler oder Schriftsteller feindlich, nicht weil wir endlich
merken, daß er uns hintergangen hat, sondern weil
er nicht feinere Mittel für nötig befand, um uns zu
fangen.
251
Im Scheiden. - Nicht darin, wie eine Seele sich
der andern nähert, sondern wie sie sich von ihr entfernt,
erkenne ich ihre Verwandtschaft und Zusammengehörigkeit
mit der andern.
252
Silentium. - Man darf über seine Freunde nicht
reden: sonst verredet man sich das Gefühl der Freundschaft.
253
Unhöflichkeit. - Unhöflichkeit ist häufig das
Merkmal einer ungeschickten Bescheidenheit, welche bei
einer Überraschung den Kopf verliert und durch Grobheit
dies verbergen möchte.
254
Verrechnung in der Ehrlichkeit. - Das
bisher von uns Verschwiegene erfahren mitunter gerade
unsere neuesten Bekannten zuerst: wir meinen dabei törichterweise,
es sei unser Vertrauens-Beweis die stärkste Fessel,
mit welcher wir sie festhalten könnten, - aber sie wissen
nicht genug von uns, um das Opfer unseres Aussprechens
so stark zu empfinden, und verraten unsere Geheimnisse an
andere, ohne an Verrat zu denken: so daß wir vielleicht
darüber unsere alten Bekannten verlieren.
255
Im Vorzimmer der Gunst. - Alle Menschen, die
man lange im Vorzimmer seiner Gunst stehen läßt, geraten
in Gärung und werden sauer.
256
Warnung an die Verachteten. - Wenn man
unverkennbar in der Achtung der Menschen gesunken ist,
so halte man mit den Zähnen an der Scham im Verkehre
fest: sonst verrät man den andern, daß man auch in seiner
eigenen Achtung gesunken ist. Der Zynismus im Verkehre
ist ein Anzeichen, daß der Mensch in der Einsamkeit sich
selber als Hund behandelt.
257
Manche Unkenntnis adelt. - In Hinsicht auf
die Achtung der Achtung-Gebenden ist es vorteilhafter, gewisse
Dinge ersichtlich nicht zu verstehen. Auch die Unwissenheit
gibt Vorrechte.
258
Der Widersacher der Grazie. - Der Unduldsame
und Hochmütige mag die Grazie nicht und empfindet
sie wie einen leibhaft sichtbaren Vorwurf gegen sich; denn
sie ist Toleranz des Herzens in Bewegung und Gebärde.
259
Beim Wiedersehen. - Wenn alte Freunde nach
langer Trennung einander wiedersehen, ereignet es sich
oft, daß sie sich bei Erwähnung von Dingen teilnahmsvoll
stellen, die für sie ganz gleichgültig geworden sind: und
mitunter merken es beide, wagen aber nicht den Schleier
zu heben - aus einem traurigen Zweifel. So entstehen
Gespräche wie im Totenreiche.
260
Nur Arbeitsame sich zu Freunden machen.
- Der Müßige ist seinen Freunden gefährlich: denn
weil er nicht genug zu tun hat, redet er davon, was seine
Freunde tun und nicht tun, mischt sich endlich hinein und
macht sich beschwerlich: weshalb man klugerweise nur mit
Arbeitsamen Freundschaft schließen soll.
261
Eine Waffe doppelt soviel als zwei. - Es
ist ein ungleicher Kampf, wenn der eine mit Kopf und
Herz, der andre nur mit dem Kopfe für seine Sache
spricht: der erstere hat gleichsam Sonne und Wind gegen
sich und seine beiden Waffen stören sich gegenseitig: er
verliert den Preis - in den Augen der Wahrheit. Dafür
ist freilich der Sieg des zweiten mit seiner einen Waffe
selten ein Sieg nach dem Herzen aller andern Zuschauer
und macht bei ihnen unbeliebt.
262
Tiefe und Trübe. - Das Publikum verwechselt
leicht den, welcher im Trüben fischt, mit dem, welcher aus
der Tiefe schöpft.
263
An Freund und Feind seine Eitelkeit demonstrieren.
- Mancher mißhandelt aus Eitelkeit
selbst seine Freunde, wenn Zeugen zugegen sind, denen
er sein Übergewicht deutlich machen will: und andere übertreiben
den Wert ihrer Feinde, um mit Stolz darauf hinzuweisen,
daß sie solcher Feinde wert sind.
264
Abkühlung. - Die Erhitzung des Herzens ist gewöhnlich
mit der Krankheit von Kopf und Urteil verbunden.
Wem für einige Zeit an der Gesundheit des
letzteren gelegen ist, der muß also wissen, was er abzukühlen
hat: unbesorgt für die Zukunft seines Herzens!
Denn ist man überhaupt der Erwärmung fähig, so wird
man auch wieder warm werden und seinen Sommer haben
müssen.
265
Zur Mischung der Gefühle. - Gegen die Wissenschaft
empfinden Frauen und selbstsüchtige Künstler
etwas, das aus Neid und Sentimentalität zusammengesetzt ist.
266
Wenn die Gefahr am größten ist. - Man
bricht das Bein selten, solange man im Leben mühsam aufwärts
steigt - aber wenn man anfängt, es sich leicht zu
machen und die bequemen Wege zu wählen.
267
Nicht zu zeitig. - Man muß sich in acht nehmen,
nicht zu zeitig scharf zu werden, - weil man zugleich
damit zu zeitig dünn wird.
268
Freude am Widerspenstigen. - Der gute Erzieher
kennt Fälle, wo er stolz darauf ist, daß sein Zögling
wider ihn sich selber treu bleibt: da nämlich, wo
der Jüngling den Mann nicht verstehen darf oder zu
seinem Schaden verstehen würde.
269
Versuch der Ehrlichkeit. - Jünglinge, die ehrlicher
werden wollen als sie waren, suchen sich einen anerkannt
Ehrlichen zum Opfer, das sie zuerst anfallen,
indem sie sich zu seiner Höhe hinaufzuschimpfen suchen
- mit dem Hintergedanken, daß dieser erste Versuch
jedenfalls ungefährlich sei; denn gerade jener dürfe die
Unverschämtheit des Ehrlichen nicht züchtigen.
270
Das ewige Kind. - Wir meinen, das Märchen und
das Spiel gehöre zur Kindheit: wir Kurzsichtigen! Als
ob wir in irgend einem Lebensalter ohne Märchen und
Spiel leben möchten! Wir meinen's und empfinden's freilich
anders, aber gerade dies spricht dafür, daß es dasselbe
ist - denn auch das Kind empfindet das Spiel als seine
Arbeit und das Märchen als seine Wahrheit. Die Kürze
des Lebens sollte uns vor dem pedantischen Scheiden der
Lebensalter bewahren - als ob jedes etwas Neues brächte
-, und ein Dichter einmal den Menschen von zweihundert
Jahren, den, der wirklich ohne Märchen und Spiel lebt,
vorführen.
271
Jede Philosophie ist Philosophie eines
Lebensalters. - Das Lebensalter, in dem ein Philosoph
seine Lehre fand, klingt aus ihr heraus, er kann es
nicht verhüten, so erhaben er sich auch über Zeit und
Stunde fühlen mag. So bleibt Schopenhauers Philosophie
das Spiegelbild der hitzigen und schwermütigen Jugend
- es ist keine Denkweise für ältere Menschen; so erinnert
Platos Philosophie an die mittlern dreißiger Jahre, wo
ein kalter und ein heißer Strom aufeinander zuzubrausen
pflegen, so daß Staub und zarte Wölkchen und, unter günstigen
Umständen und Sonnenblicken, ein bezauberndes
Regenbogenbild entsteht.
272
Vom Geiste der Frauen. - Die geistige Kraft
einer Frau wird am besten dadurch bewiesen, daß sie aus
Liebe zu einem Manne und dessen Geiste ihren eigenen
zum Opfer bringt und daß trotzdem ihr auf dem neuen,
ihrer Natur ursprünglich fremden Gebiete, wohin die Sinnesart
des Mannes sie drängt, sofort ein zweiter
Geist nachwächst.
273
Erhöhung und Erniedrigung im Geschlechtlichen.
- Der Sturm der Begierde reißt
den Mann mitunter in eine Höhe hinauf, wo alle Begierde
schweigt: dort wo er wirklich liebt und noch mehr in
einem besseren Sein als besserem Wollen lebt. Und wiederum
steigt ein gutes Weib häufig aus wahrer Liebe bis hinab
zur Begierde und erniedrigt sich dabei vor sich selber.
Namentlich das letztere gehört zu dem herzbewegendsten,
was die Vorstellung einer guten Ehe mit sich zu bringen
vermag.
274
Das Weib erfüllt, der Mann verheißt. -
Durch das Weib zeigt die Natur, womit sie bis jetzt bei
ihrer Arbeit am Menschenbilde fertig wurde; durch den
Mann zeigt sie, was sie dabei zu überwinden hatte, aber
auch, was sie noch alles mit dem Menschen vorhat. -
Das vollkommene Weib jeder Zeit ist der Müßiggang des
Schöpfers an jedem siebenten Tage der Kultur, das Ausruhen
des Künstlers in seinem Werke.
275
Umpflanzung. - Hat man seinen Geist verwendet,
um über die Maßlosigkeit der Affekte Herr zu werden,
so geschieht es vielleicht mit dem leidigen Erfolge, daß man
die Maßlosigkeit auf den Geist überträgt und fürderhin
im Denken und Erkennen-wollen ausschweift.
276
Das Lachen als Verräterei. - Wie und wann
eine Frau lacht, das ist ein Merkmal ihrer Bildung: aber
im Klange des Lachens enthüllt sich ihre Natur, bei sehr
gebildeten Frauen vielleicht sogar der letzte unlösbare
Rest ihrer Natur, - Deshalb wird der Menschenprüfer
sagen wie Horaz aber aus verschiedenem Grunde: ridete
puellae.
277
Aus der Seele der Jünglinge. - Jünglinge
wechseln in bezug auf dieselbe Person mit Hingebung und
Unverschämtheit, ab: weil sie im Grunde nur sich in
dem andern verehren und verachten, und zwischen beiden
Empfindungen in bezug auf sich selber hin und her taumeln
müssen, solange sie noch nicht in der Erfahrung das
Maß ihres Wollens und Könnens gefunden haben.
278
Zur Verbesserung der Welt. - Wenn man den
Unzufriedenen, Schwarzgalligen und Murrköpfen die Fortpflanzung
verwehrte, so könnte man schon die Erde
in einen Garten des Glücks verzaubern. - Dieser Satz
gehört in eine praktische Philosophie für das weibliche
Geschlecht.
279
Seinem Gefühle nicht mißtrauen. - Die
frauenhafte Wendung, man solle seinem Gefühle nicht
mißtrauen, bedeutet nicht viel mehr als: man solle essen,
was einem gut schmeckt. Dies mag auch, namentlich für
maßvolle Naturen, eine gute Alltagsregel sein. Andere
Naturen müssen aber nach einem anderen Satze leben: "du
mußt nicht nur mit dem Munde, sondern auch mit dem
Kopfe essen, damit dich nicht die Naschhaftigkeit des Mundes
zugrunde richte."
280
Grausamer Einfall der Liebe. - Jede große
Liebe bringt den grausamen Gedanken mit sich, den Gegenstand
der Liebe zu töten, damit er ein für allemal dem
frevelhaften Spiele des Wechsels entrückt sei: denn vor
dem Wechsel graut der Liebe mehr als vor der Vernichtung.
281
Türen. - Das Kind sieht ebenso wie der Mann in
allem, was erlebt, erlernt wird, Türen: aber jenem sind
es Zugänge, diesem immer nur Durchgänge.
282
Mitleidige Frauen. - Das Mitleiden der Frauen,
welches geschwätzig ist, trägt das Bett des Kranken auf
offnen Markt.
283
Frühzeitiges Verdienst. - Wer jung schon
sich ein Verdienst erwirbt, verlernt gewöhnlich dabei die
Scheu vor dem Alter und dem Älteren, und schließt sich
damit, zu seinem größten Nachteile, von der Gesellschaft
der Reifen, Reife Gebenden aus: so daß er trotz frühzeitigerem
Verdienste länger als andre grün, zudringlich und
knabenhaft bleibt.
284
Bausch- und Bogen-Seelen. - Die Frauen und
die Künstler meinen, daß, wo man ihnen nicht widerspreche,
man nicht widersprechen könne; Verehrung in
zehn Punkten und stillschweigende Nichtbilligung in anderen
zehn scheint ihnen nebeneinander unmöglich, weil sie
Bausch- und Bogen-Seelen haben.
285
Junge Talente. - In Hinsicht auf junge Talente
muß man streng nach der Goetheschen Maxime verfahren,
daß man oft dem Irrtume nicht schaden dürfe, um der
Wahrheit nicht zu schaden. Ihr Zustand ist gleich den
Krankheiten der Schwangerschaft und bringt seltsame
Gelüste mit sich: welche man ihnen, so gut es gehen will,
befriedigen und nachsehen sollte, um der Frucht willen,
die man von ihnen hofft. Freilich muß man, als Krankenwärter
dieser wunderlichen Kranken, die schwere Kunst
der freiwilligen SeIbst-Demütigung verstehen.
286
Ekel an der Wahrheit. - Die Frauen sind so
geartet, daß alle Wahrheit (in bezug auf Mann, Liebe,
Kind, Gesellschaft, Lebensziel) ihnen Ekel macht - und
daß sie sich an jedem zu rächen suchen, welcher ihnen das
Auge öffnet.
287
Die Quelle der großen Liebe. - Woher die
plötzlichen Leidenschaften eines Mannes für ein Weib entstehen,
die tiefen, innerlichen? Aus Sinnlichkeit allein am
wenigsten: aber wenn der Mann Schwäche, Hilfsbedürftigkeit
und zugleich Übermut in einem Wesen zusammen
findet, so geht etwas in ihm vor, wie wenn seine Seele
überwallen wollte: er ist im selben Augenblick gerührt
und beleidigt. Auf diesem Punkte entspringt die Quelle
der großen Liebe.
288
Reinlichkeit. - Man soll den Sinn für Reinlichkeit
im Kinde bis zur Leidenschaft entfachen: später erhebt
er sich, in immer neuen Verwandlungen, fast zu jeder
Tugend hinauf und erscheint zuletzt, als Kompensation
alles Talents, wie eine Lichtfülle von Reinheit, Mäßigkeit,
Milde, Charakter - Glück in sich tragend, Glück um sich
verbreitend.
289
Von eitlen alten Männern. - Der Tiefsinn
gehört der Jugend, der Klarsinn dem Alter zu: wenn
trotzdem alte Männer mitunter in der Art der Tiefsinnigen
reden und schreiben, so tun sie es aus Eitelkeit, in
dem Glauben, daß sie damit den Reiz des Jugendlichen,
Schwärmerischen, Werdenden, Ahnungs- und Hoffnungsvollen
annehmen.
290
Benutzung des Neuen. - Männer benutzen Neu-Erlerntes
oder -Erlebtes fürderhin als Pflugschar, vielleicht
auch als Waffe: aber Weiber machen sofort daraus einen
Putz für sich zurecht.
291
Recht haben bei den zwei Geschlechtern.
- Gibt man einem Weibe zu, daß es recht habe, so
kann es sich nicht versagen, erst noch die Ferse triumphierend
auf den Nacken des Unterworfenen zu setzen, - es
muß den Sieg auskosten; während Mann gegen Mann sich
in solchem Falle gewöhnlich des Rechthabens schämt. Dafür
ist der Mann an das Siegen gewöhnt, das Weib erlebt
damit eine Ausnahme.
292
Entsagung im Willen zur Schönheit. -
Um schön zu werden, darf ein Weib nicht für hübsch
gelten wollen: das heißt, es muß in neunundneunzig Fällen,
wo es gefallen könnte, es verschmähen und hintertreiben
zu gefallen, um einmal das Entzücken dessen einzuernten,
dessen Seelenpforte groß genug ist, um Großes
aufzunehmen.
293
Unbegreiflich, unausstehlich. - Ein Jüngling
kann nicht begreifen, daß ein Älterer seine Entzückungen,
Gefühls-Morgenröten, Gedanken-Wendungen,
und -Aufschwünge auch einmal durchlebt habe: es beleidigt
ihn schon zu denken, daß sie zweimal existiert hätten, -
aber ganz feindselig stimmt es ihn zu hören, daß,
um fruchtbar zu werden, er jene Blüten verlieren,
ihren Duft entbehren müsse.
294
Partei mit der Miene der Dulderin. - Jede
Partei, die sich die Miene der Dulderin zu geben weiß,
zieht die Herzen der Gutmütigen zu sich hinüber und gewinnt
dadurch selber die Miene der Gutmütigkeit - zu
ihrem größten Vorteil.
295
Behaupten sicherer als beweisen. - Eine
Behauptung wirkt stärker als ein Argument, wenigstens
bei der Mehrzahl der Menschen: denn das Argument
weckt Mißtrauen. Deshalb suchen die Volksredner die
Argumente ihrer Partei durch Behauptungen zu sichern.
296
Die besten Hehler. - Alle regelmäßig Erfolgreichen
besitzen eine tiefe Verschlagenheit darin, ihre Fehler
und Schwächen immer nur als anscheinende Stärken
zum Vorschein zu bringen; weshalb sie dieselben ungewöhnlich
gut und deutlich kennen müssen.
297
Von Zeit zu Zeit. - Er setzte sich in das Stadttor
und sagte zu einem, der hindurchging, dies eben sei
das Stadttor. Jener entgegnete, es sei das eine Wahrheit,
aber man dürfe nicht zuviel recht haben, wenn man
Dank dafür haben wolle. O, antwortete er, ich will auch
keinen Dank; aber von Zeit zu Zeit ist es doch sehr angenehm,
nicht nur recht zu haben, sondern auch recht zu
behalten.
298
Die Tugend ist nicht von den Deutschen
erfunden. - Goethes Vornehmheit und Neidlosigkeit,
Beethovens edle einsiedlerische Resignation, Mozarts Anmut
und Grazie des Herzens, Händels unbeugsame Männlichkeit
und Freiheit unter dem Gesetz, Bachs getrostes
und verklärtes Innenleben, welches nicht einmal nötig hat,
auf Glanz und Erfolg zu verzichten, - sind denn dies
deutsche Eigenschaften? - Wenn aber nicht, so zeigt
es wenigstens, wonach Deutsche streben sollen und was
sie erreichen können.
299
Pia fraus oder etwas anderes. - Möchte ich
mich irren: aber mich dünkt, im gegenwärtigen Deutschland
werde eine doppelte Art von Heuchelei für jedermann
zur Pflicht des Augenblicks gemacht: man fordert
ein Deutschtum aus reichspolitischer Besorgnis und ein
Christentum aus sozialer Angst, beides aber nur in Worten
und Gebärden und namentlich im Schweigen-können.
Der Anstrich ist es, der jetzt so viel kostet, so hoch
bezahlt wird: die Zuschauer sind es, derentwegen die
Nation ihr Gesicht in deutsch- und christentümelnde Falten legt.
300
Inwiefern auch im Guten das Halbe mehr
sein kann als das Ganze. - Bei allen Dingen,
die auf Bestand eingerichtet werden und immer den
Dienst vieler Personen erfordern, muß manches weniger
Gute zur Regel gemacht werden, obschon der
Organisator das Bessere und Schwerere sehr gut kennt:
aber er wird darauf rechnen, daß es nie an Personen fehle,
welche der Regel entsprechen können, - und er weiß,
daß das Mittelgut der Kräfte die Regel ist. - Dies sieht
ein Jüngling selten ein und glaubt dann, als Neuerer,
Wunder wie sehr er im Rechte, und wie seltsam die Blindheit
der anderen sei.
301
Der Parteimann. - Der echte Parteimann lernt
nicht mehr, er erfährt und richtet nur noch: während
Solon, der nie Parteimann war, sondern neben und über
den Parteien oder gegen sie sein Ziel verfolgte, bezeichnenderweise
der Vater jenes schlichten Wortes ist, in welchem
die Gesundheit und Unausschöpflichkeit Athens
beschlossen liegt: "alt werd' ich und immer lern' ich
fort."
302
Was, nach Goethe, deutsch ist. - Es sind
die wahrhaft Unerträglichen, von denen man selbst das
Gute nicht annehmen mag, welche Freiheit der Gesinnung
haben, aber nicht merken, daß es ihnen an Geschmacks-
und Geistes-Freiheit fehlt. Gerade
dies ist aber, nach Goethes wohlerwogenem Urteil, deutsch.
- Seine Stimme und sein Beispiel weisen darauf hin, daß
der Deutsche mehr sein müsse als ein Deutscher, wenn
er den andern Nationen nützlich, ja nur erträglich werden
wolle - und in welcher Richtung er bestrebt sein
solle, über sich und außer sich hinauszugehen.
303
Wann es not tut, stehen zu bleiben. - Wenn
die Massen zu wüten beginnen und die Vernunft sich verdunkelt,
tut man gut, sofern man der Gesundheit seiner
Seele nicht ganz sicher ist, unter einen Torweg unterzutreten
und nach dem Wetter auszuschauen.
304
Umsturzgeister und Besitzgeister. - Das
einzige Mittel gegen den Sozialismus, das noch in eurer
Macht steht, ist: ihn nicht herauszufordern, das heißt
selber mäßig und genügsam leben, die Schaustellung
jeder Üppigkeit nach Kräften verhindern und dem Staate
zu Hilfe kommen, wenn er alles Überflüssige und Luxusähnliche
empfindlich mit Steuern belegt. Ihr wollt dies
Mittel nicht? Dann, ihr reichen Bürgerlichen, die ihr euch
"liberal" nennt, gesteht es euch nur zu, eure eigne Herzensgesinnung
ist es, welche ihr in den Sozialisten so
furchtbar und bedrohlich findet, in euch selber aber als
unvermeidlich gelten laßt, wie als ob sie dort etwas anderes
wäre. Hättet ihr, so wie ihr seid, euer Vermögen
und die Sorge um dessen Erhaltung nicht, diese eure Gesinnung
würde euch zu Sozialisten machen: nur der Besitz
unterscheidet zwischen euch und ihnen. Euch müßt ihr
zuerst besiegen, wenn ihr irgendwie über die Gegner
eures Wohlstandes siegen wollt. - Und wäre jener Wohlstand
nur wirklich Wohlbefinden! Er wäre nicht so äußerlich
und neidherausfordernd, er wäre mitteilender, wohlwollender,
ausgleichender, nachhelfender. Aber das Unechte
und Schauspielerische eurer Lebensfreuden, welche
mehr im Gefühl des Gegensatzes (daß andere sie nicht
haben und euch beneiden) als im Gefühle der Kraft-Erfüllung
und Kraft-Erhöhung liegen - eure Wohnungen,
Kleider, Wagen, Schauläden, Gaumen- und Tafel-Erfordernisse,
eure lärmende Opern- und Musikbegeisterung,
endlich eure Frauen, geformt und gebildet, aber aus unedlem
Metall, vergoldet, aber ohne Goldklang, als Schaustücke
von euch gewählt, als Schaustücke sich selber gebend:
- das sind die giftträgerischen Verbreiter jener
Volkskrankheit, welche als sozialistische Herzenskrätze
sich jetzt immer schneller der Masse mitteilt, aber in
euch ihren ersten Sitz und Brüteherd hat. Und wer
hielte diese Pest jetzt noch auf? -
305
Taktik der Parteien. - Wenn eine Partei
merkt, daß ein bisher Zugehöriger aus einem unbedingten
Anhänger ein bedingter geworden ist, so erträgt sie dies
so wenig, daß sie durch allerlei Aufreizungen und Kränkungen
versucht, jenen zum entschiedenen Abfall zu bringen
und zum Gegner zu machen: denn sie hat den Argwohn,
daß die Absicht, in ihrem Glauben etwas Relativ-Wertvolles
zu sehen, das ein Für und Wider, ein
Abwägen und Ausscheiden zuläßt, ihr gefährlicher sei als
ein Gegnertum in Bausch und Bogen.
306
Zur Stärkung von Parteien. - Wer eine Partei
innerlich stärken will, biete ihr Gelegentlich, um ersichtlich
ungerecht behandelt werden zu müssen; dadurch
sammelt sie ein Kapital guten Gewissens, das ihr
vielleicht bis dahin fehlte.
307
Für seine Vergangenheit sorgen. - Weil
die Menschen eigentlich nur alles Alt-Begründete, Langsam-Gewordene
achten, so muß der, welcher nach seinem Tode
fortleben will, nicht nur für Nachkommenschaft, sondern
noch mehr für eine Vergangenheit sorgen: weshalb
Tyrannen jeder Art (auch tyrannenhafte Künstler und
Politiker) der Geschichte gern Gewalt antun, damit diese
als Vorbereitung und Stufenleiter zu ihnen hin erscheine.
308
Partei-Schriftsteller. - Der Paukenschlag,
mit welchem sich junge Schriftsteller im Dienste einer
Partei so wohl gefallen klingt dem, welcher nicht zur
Partei gehört, wie Kettengerassel und erweckt eher Mitleiden
als Bewunderung.
309
Gegen sich Partei ergreifen. - Unsere Anhänger
vergeben es uns nie, wenn wir gegen uns selbst
Partei ergreifen: denn dies heißt, in ihren Augen, nicht
nur ihre Liebe zurückweisen, sondern auch ihren Verstand
bloßstellen.
310
Gefahr im Reichtum. - Nur wer Geist hat,
sollte Besitz haben: sonst ist der Besitz gemeingefährlich.
Der Besitzende nämlich, der von der freien
Zeit, welche der Besitz ihm gewähren könnte, keinen Gebrauch
zu machen versteht, wird immer fortfahren, nach
Besitz zu streben: dieses Streben wird seine Unterhaltung,
seine Kriegslist im Kampf mit der Langeweile sein. So entsteht
zuletzt, aus mäßigem Besitz, welcher dem Geistigen
genügen würde, der eigentliche Reichtum: und zwar als
das gleißende Ergebnis geistiger Unselbständigkeit und
Armut. Nur erscheint er eben ganz anders, als seine
armselige Abkunft erwarten läßt, weil er sich mit Bildung
und Kunst maskieren kann: er kann eben die Maske kaufen.
Dadurch erweckt er Neid bei den Ärmeren und Ungebildeten -
welche im Grunde immer die Bildung beneiden
und in der Maske nicht die Maske sehen - und
bereitet allmählich eine soziale Umwälzung vor: denn vergoldete
Roheit und schauspielerisches Sich-Blähen im angeblichen
"Genusse der Kultur" gibt jenen den Gedanken
ein "es liegt nur am Gelde", - während allerdings etwas
am Gelde liegt, aber viel mehr am Geiste.
311
Freude im Gebieten und Gehorchen. -
Das Gebieten macht Freude wie das Gehorchen, ersteres
wenn es noch nicht zur Gewohnheit geworden ist, letzteres
aber, wenn es zur Gewohnheit geworden ist. Alte
Diener unter neuen Gebietenden fördern sich gegenseitig
im Freude-machen.
312
Ehrgeiz des verlornen Postens. - Es gibt
einen Ehrgeiz des verlornen Postens, welcher eine Partei
dahin drängt, sich in eine äußerste Gefahr zu begeben.
313
Wann Esel not tun. - Man wird die Menge
nicht eher zum Hosianna-rufen bringen, bis man auf einem
Esel in die Stadt einreitet.
314
Partei-Sitte. - Eine jede Partei versucht, das Bedeutende,
das außer ihr gewachsen ist, als unbedeutend
darzustellen; gelingt es ihr aber nicht, so feindet sie es
um so bitterer an, je vortrefflicher es ist.
315
Leer-werden. - Von dem, der sich den Ereignissen
hingibt, bleibt immer weniger übrig. Große Politiker
können deshalb ganz leere Menschen werden und doch
einmal voll und reich gewesen sein.
316
Erwünschte Feinde. - Die sozialistischen Regungen
sind den dynastischen Regierungen jetzt immer
noch eher angenehm als furchteinflößend, weil sie durch
dieselben Recht und Schwert zu Ausnahme-Maßregeln
in die Hände bekommen, mit denen sie ihre eigentlichen
Schreckgestalten, die Demokraten und Anti-Dynasten,
treffen können. - Zu allem, was solche Regierungen
öffentlich hassen, haben sie jetzt eine heimliche Zuneigung
und Innigkeit: sie müssen ihre Seele verschleiern.
317
Der Besitz besitzt. - Nur bis zu einem gewissen
Grade macht der Besitz den Menschen unabhängig,
freier; eine Stufe weiter - und der Besitz wird zum
Herrn, der Besitzer zum Sklaven: als welcher ihm seine
Zeit, sein Nachdenken zum Opfer bringen muß und sich
fürderhin zu einem Verkehr verpflichtet, an einen Ort
angenagelt, einem Staate einverleibt fühlt - alles vielleicht
wider sein innerlichstes und wesentlichstes Bedürfnis.
318
Von der Herrschaft der Wissenden. -
Es ist leicht, zum Spotten leicht, das Muster zur Wahl
einer gesetzgebenden Körperschaft aufzustellen. Zuerst
hätten die Redlichen und Vertrauenswürdigen eines Landes,
welche zugleich irgendworin Meister und Sachkenner
sind, sich auszuscheiden, durch gegenseitige Auswitterung
und Anerkennung: aus ihnen wiederum müßten
sich, in engerer Wahl, die in jeder Einzelart Sachverständigen
und Wissenden ersten Ranges auswählen, gleichfalls
durch gegenseitige Anerkennung und Gewährleistung.
Bestünde aus ihnen die gesetzgebende Körperschaft,
so müßten endlich, für jeden einzelnen Fall, nur die
Stimmen und Urteile der speziellsten Sachverständigen
entscheiden und die Ehrenhaftigkeit aller übrigen groß
genug und einfach zur Sache des Anstandes geworden
sein, die Abstimmung dabei auch nur jenen zu überlassen:
so daß im strengsten Sinne das Gesetz aus dem
Verstande der Verständigsten hervorginge. - Jetzt stimmen
Parteien ab: und bei jeder Abstimmung muß es Hunderte
von beschämten Gewissen geben - die der Schlecht-Unterrichteten,
Urteils-Unfähigen, die der Nachsprechenden,
Nachgezogenen, Fortgerissenen. Nichts erniedrigt die
Würde jedes neuen Gesetzes so, als dieses anklebende
Schamrot der Unredlichkeit, zu der jede Partei-Abstimmung
zwingt. Aber, wie gesagt, es ist leicht, zum Spotten
leicht, so etwas aufzustellen: keine Macht der Welt
ist jetzt stark genug, das Bessere zu verwirklichen, - es
sei denn, daß der Glaube an die höchste Nützlichkeit
der Wissenschaft und der Wissenden
endlich auch dem Böswilligsten einleuchte und dem jetzt
herrschenden Glauben an die Zahl vorgezogen werde.
Im Sinne dieser Zukunft sei unsere Losung: "Mehr Ehrfurcht
vor dem Wissenden! Und nieder mit allen Parteien!"
319
Vom "Volke der Denker" (oder des schlechten
Denkens). - Das Undeutliche, Schwebende, Ahnungsvolle,
Elementarische, Intuitive - um für unklare
Dinge auch unklare Namen zu wählen -, was man dem
deutschen Wesen nachsagt, wäre, wenn es tatsächlich noch
bestünde, ein Beweis, daß seine Kultur um viele Schritte
zurückgeblieben und noch immer von Bann und Luft
des Mittelalters umschlossen wäre. - Freilich liegen in
einer solchen Zurückgebliebenheit auch einige Vorteile:
die Deutschen wären mit diesen Eigenschaften - wenn
sie dieselben, nochmals gesagt, jetzt noch besitzen sollten
- zu einigen Dingen, und namentlich zum Verständnis
einiger Dinge befähigt, zu welchen andere Nationen
alle Kraft verloren haben. Und sicher geht viel verloren,
wenn der Mangel an Vernunft - das heißt
eben das Gemeinsame in jenen Eigenschaften - verloren
geht; aber hier gibt es auch keine Einbuße ohne den
höchsten Gegengewinn, so daß jeder Grund zum Jammern
fehlt, vorausgesetzt, daß man nicht wie Kinder und
Leckerhafte die Früchte aller Jahreszeiten zugleich genießen
will.
320
Eulen nach Athen. - Die Regierungen der
großen Staaten haben zwei Mittel in den Händen, das
Volk von sich abhängig zu erhalten, in Furcht und Gehorsam:
ein gröberes, das Heer, ein feineres, die Schule.
Mit Hilfe des ersteren bringen sie den Ehrgeiz der
höheren und die Kraft der niederen Schichten, soweit
beide tätigen und rüstigen Männern mittlerer und minderer
Begabung zu eigen zu sein pflegen, auf ihre Seite; mit
Hilfe des andern Mittels gewinnen sie die begabte Armut,
namentlich die geistig-anspruchsvolle Halbarmut der
mittleren Stände für sich. Sie machen vor allem aus den
Lehrern allen Grades einen unwillkürlich nach "oben"
hin blickenden geistigen Hofstaat: indem sie der Privatschule
und gar der ganz und gar mißliebigen Einzelerziehung
Stein über Stein in den Weg legen, sichern sie
sich die Verfügung über eine sehr bedeutende Anzahl von
Lehrstellen, auf welche sich nun fortwährend eine gewiß
fünfmal größere Anzahl von hungrig und unterwürfig
blickenden Augen richten, als je Befriedigung finden können.
Diese Stellungen dürfen ihren Mann aber nur kärglich
nähren: dann unterhält sich in ihm der Fieberdurst
nach Beförderung und schließt ihn noch enger
an die Absichten der Regierung an. Denn eine mäßige
Unzufriedenheit zu pflegen ist immer vorteilhafter als
Zufriedenheit, die Mutter des Mutes, die Großmutter des
Freisinns und des Übermutes. Vermittels dieses leiblich
und geistig im Zaume gehaltenen Lehrertums wird nun,
so gut es gehen will, alle Jugend des Landes auf eine
gewisse, dem Staate nützliche und zweckmäßig abgestufte
Bildungshöhe gehoben: vor allem aber wird jene Gesinnung
fast unvermerkt auf die unreifen und ehrsüchtigen
Geister aller Stände übertragen, daß nur eine vom Staate
anerkannte und; abgestempelte Lebensrichtung sofort gesellschaftliche
Auszeichnung mit sich führt. Die
Wirkung dieses Glaubens an Staats-Prüfungen und -Titel
geht so weit, daß selbst unabhängig gebliebenen, durch
Handel oder Handwerk emporgestiegenen Männern so
lange ein Stachel der Unbefriedigung in der Brust bleibt,
bis auch ihre Stellung durch eine begnadigende Verleihung
von Rang und Orden von oben her bemerkt und anerkannt
ist, - bis man "sich sehen lassen kann". Endlich
verknüpft der Staat alle jene hundert und aber hundert
ihm zugehörigen Beamtungen und Erwerbsposten mit der
Verpflichtung, durch die Staatsschulen sich bilden
und abzeichnen zu lassen, wenn man je in diese Pforten
eingehen wolle: Ehre bei der Gesellschaft, Brot für sich,
Ermöglichung einer Familie, Schutz von oben her, Gemeingefühl
der gemeinsam Gebildeten - dies alles bildet
ein Netz von Hoffnungen, in welches jeder junge
Mann hineinläuft: woher sollte ihm denn das Mißtrauen
angeweht sein! Ist zu guter Letzt gar noch bei jedermann
die Verpflichtung, einige Jahre Soldat zu sein, nach
Ablauf weniger Generationen, zu einer gedankenlosen
Gewohnheit und Voraussetzung geworden, auf welche
hin man frühzeitig den Plan seines Lebens zurechtschneidet:
so kann der Staat auch noch den Meistergriff wagen,
Schule und Heer, Begabung, Ehrgeiz und Kraft durch
Vorteile ineinander zu flechten, das heißt den höher
Begabten und Gebildeten durch günstigere Bedingungen
zum Heere zu locken und mit dem Soldatengeiste
des freudigen Gehorsams zu erfüllen: so daß er
vielleicht dauernd zur Fahne schwört und durch seine
Begabung ihr einen neuen, immer glänzenderen Ruf verschafft.
- Dann fehlt nichts weiter als Gelegenheit zu
großen Kriegen: und dafür sorgen, von Berufs wegen,
also in aller Unschuld, die Diplomaten, samt Zeitungen
und Börsen: denn das "Volk", als Soldatenvolk, hat
bei Kriegen immer ein gutes Gewissen, man braucht es ihm
nicht erst zu machen.
321
Die Presse. - Erwägt man, wie auch jetzt noch
alle großen politischen Vorgänge sich heimlich und verhüllt
auf das Theater schleichen, wie sie von unbedeutenden
Ereignissen verdeckt werden und in ihrer Nähe klein
erscheinen, wie sie erst lange nach ihrem Geschehen ihre
tiefen Einwirkungen zeigen und den Boden nachzittern
lassen, - welche Bedeutung kann man da der Presse zugestehn,
wie sie jetzt ist, mit ihrem täglichen Aufwand
von Lunge, um zu schreien, zu übertäuben, zu erregen, zu
erschrecken, - ist sie mehr als der permanente
blinde Lärm, der die Ohren und Sinne nach einer falschen
Richtung ablenkt?
322
Nach einem großen Ereignis. - Ein Volk
und Mensch, dessen Seele bei einem großen Ereignis zutage
gekommen ist, fühlt gewöhnlich darauf das Bedürfnis
nach einer Kinderei oder Roheit, ebenso aus
Scham als um sich zu erholen.
323
Gut deutsch sein heißt sich entdeutschen.
- Das, worin man die nationalen Unterschiede
findet, ist viel mehr, als man bis jetzt eingesehen hat,
nur der Unterschied verschiedener Kulturstufen und
zum geringsten Teile etwas Bleibendes (und auch dies nicht
in einem strengen Sinne). Deshalb ist alles Argumentieren
aus dem National-Charakter so wenig verpflichtend
für den, welcher an der Umschaffung der Überzeugungen,
das heißt an der Kultur arbeitet. Erwägt man
zum Beispiel, was alles schon deutsch gewesen ist, so
wird man die theoretische Frage: was ist deutsch? sofort
durch die Gegenfrage verbessern: "was ist jetzt deutsch?"
- und jeder gute Deutsche wird sie praktisch, gerade
durch Überwindung seiner deutschen Eigenschaften, lösen.
Wenn nämlich ein Volk vorwärts geht und wächst, so
sprengt es jedesmal den Gürtel, der ihm bis dahin sein
nationales Ansehen gab; bleibt es stehen, verkümmert
es, so schließt sich ein neuer Gürtel um seine Seele; die
immer härter werdende Kruste baut gleichsam ein Gefängnis
herum, dessen Mauern immer wachsen. Hat ein
Volk also sehr viel Festes, so ist dies ein Beweis, daß
es versteinern will und ganz und gar Monument werden
möchte: wie es von einem bestimmten Zeitpunkte an
das Ägyptertum war. Der also, welcher den Deutschen
wohlwill, mag für seinen Teil zusehen, wie er immer mehr
aus dem, was deutsch ist, hinauswachse. Die Wendung
zum Undeutschen ist deshalb immer das Kennzeichen
der Tüchtigen unseres Volkes gewesen.
324
Ausländereien. - Ein Ausländer, der in Deutschland
reiste, mißfiel und gefiel durch einige Behauptungen,
je nach den Gegenden, in denen er sich aufhielt.
Alle Schwaben, die Geist haben, - pflegte er zu sagen
- sind kokett. - Die anderen Schwaben aber meinten
noch immer, Uhland sei ein Dichter und Goethe unmoralisch
gewesen. - Das Beste an den deutschen Romanen,
welche jetzt berühmt würden, sei, daß man sie nicht zu
lesen brauche: man kenne sie schon. - Der Berliner erscheine
gutmütiger als der Süddeutsche, denn er sei allzusehr
spottlustig und vertrage deshalb Spott: was Süddeutschen
nicht begegne. - Der Geist der Deutschen
werde durch ihr Bier und ihre Zeitungen niedergehalten:
er empfehle ihnen Tee und Pamphlete, zur Kur natürlich.
- Man sehe sich, so riet er, doch die verschiedenen
Völker des altgewordenen Europa daraufhin an, wie ein
jedes eine bestimmte Eigenschaft des Alters besonders
gut zur Schau trägt, zum Vergnügen für die, welche vor
dieser großen Bühne sitzen: wie die Franzosen das Kluge
und Liebenswürdige des Alters, die Engländer das Erfahrene
und Zurückhaltende, die Italiener das Unschuldige
und Unbefangene mit Glück vertreten. Sollten denn
die anderen Masken des Alters fehlen? Wo ist der hochmütige
Alte? Wo der herrschsüchtige Alte? Wo der
habsüchtige Alte? - Die gefährlichste Gegend in
Deutschland sei Sachsen und Thüringen: nirgends gäbe
es mehr geistige Rührigkeit und Menschenkenntnis, nebst
Freigeisterei, und alles sei so bescheiden durch die häßliche
Sprache und die eifrige Dienstbeflissenheit dieser
Bevölkerung versteckt, daß man kaum merke, hier mit
den geistigen Feldwebeln Deutschlands und seinen Lehrmeistern
in Gutem und Schlimmem zu tun zu haben. -
Der Hochmut der Norddeutschen werde durch ihren Hang,
zu gehorchen, der der Süddeutschen durch ihren Hang,
sich's bequem zu machen, in Schranken gehalten. - Es
schiene ihm, daß die deutschen Männer in ihren Frauen
ungeschickte, aber sehr von sich überzeugte Hausfrauen
hätten: sie redeten so beharrlich gut von sich, daß sie
fast die Welt und jedenfalls ihre Männer von der eigens
deutschen Hausfrauen-Tugend überzeugt hätten. - Wenn
sich dann das Gespräch auf Deutschlands Politik nach
außen und innen wendete, so pflegte er zu erzählen -
er nannte es: verraten -, das Deutschlands größter
Staatsmann nicht an große Staatsmänner glaube. - Die
Zukunft der Deutschen fand er bedroht und bedrohlich:
denn sie hätten verlernt, sich zu freuen (was die Italiener
so gut verstünden), aber sich durch das große Hazardspiel
von Kriegen und dynastischen Revolutionen an
die Emotion gewöhnt, folglich würden sie eines
Tages die Emeute haben. Denn dies sei die stärkste Emotion,
welche ein Volk sich verschaffen könne. - Der
deutsche Sozialist sei eben deshalb am gefährlichsten, weil
ihn keine bestimmte Not treibe; sein Leiden sei, nicht
zu wissen, was er wolle, so werde er, wenn er auch viel
erreiche, doch noch im Genusse vor Begierde verschmachten,
ganz wie Faust, aber vermutlich wie ein sehr pöbelhafter
Faust. "Den Faust-Teufel nämlich", rief er
zuletzt, "von dem die gebildeten Deutschen so geplagt
wurden, hat Bismarck ihnen ausgetrieben: nun ist der
Teufel aber in die Säue gefahren und schlimmer als je
vorher!"
325
Meinungen. - Die meisten Menschen sind nichts
und gelten nichts, bis sie sich in allgemeine Überzeugungen
und öffentliche Meinungen eingekleidet haben - nach
der Schneider-Philosophie: Kleider machen Leute. Von
den Ausnahme-Menschen aber muß es heißen: erst der
Träger macht die Tracht; hier hören die Meinungen
auf, öffentlich zu sein, und werden etwas anderes
als Masken, Putz und Verkleidung.
326
Zwei Arten der Nüchternheit. - Um Nüchternheit
aus Erschöpfung des Geistes nicht mit Nüchternheit
aus Mäßigung zu verwechseln, muß man darauf acht
haben, daß die erstere übellaunig, die andere frohmütig ist.
327
Verfälschung der Freude. - Keinen Tag
länger eine Sache gut heißen, als sie uns gut scheint, und
vor allem: keinen Tag früher - das ist das einzige
Mittel, sich die Freude echt zu erhalten: die sonst allzu
leicht fade und faul im Geschmacke wird und jetzt für
ganze Schichten des Volkes zu den verfälschten Lebensmitteln gehört.
328
Der Tugend-Bock. - Beim Allerbesten, was
einer tut, suchen die, welche ihm wohlwollen, aber seiner
Tat nicht gewachsen sind, schleunigst einen Bock, um ihn
zu schlachten, wähnend, es sei der Sündenbock - aber
es ist der Tugend-Bock.
329
Souveränität. - Auch das Schlechte ehren und
sich zu ihm bekennen, wenn es einem gefällt, und keinen
Begriff davon haben, wie man sich seines Gefallens
schämen könne, ist das Merkmal der Souveränität, im
großen und kleinen.
330
Der Wirkende ein Phantom, keine Wirklichkeit.
- Der bedeutende Mensch lernt allmählich,
daß er, sofern er wirkt, ein Phantom in den Köpfen
anderer ist, und gerät vielleicht in die feine Seelenqual,
sich zu fragen, ob er das Phantom von sich zum Besten
seiner Mitmenschen nicht aufrechterhalten müsse.
331
Nehmen und geben. - Wenn man einem das Geringste
weg (oder vorweg) genommen hat, so ist er blind
dafür, daß man ihm viel Größeres, ja das Größte gegeben hat.
332
Der gute Acker. - Alles Abweisen und Negieren
zeigt einen Mangel an Fruchtbarkeit an: im Grunde,
wenn wir nur gutes Ackerland wären, dürften wir nichts
unbenutzt umkommen lassen und in jedem Dinge, Ereignisse
und Menschen willkommenen Dünger, Regen oder
Sonnenschein sehen.
333
Verkehr als Genuß. - Hält sich einer, mit entsagendem
Sinne, absichtlich in der Einsamkeit, so kann er
sich dadurch den Verkehr mit Menschen, selten genossen,
zum Leckerbissen machen.
334
Öffentlich zu leiden verstehen. - Man
muß sein Unglück affichieren und von Zeit zu Zeit hörbar
seufzen, sichtbar ungeduldig sein: denn ließe man die
andern merken, wie sicher und glücklich in sich man trotz
Schmerz und Entbehrung ist, wie neidisch und böswillig
würde man sie machen! - Aber wir müssen Sorge dafür
tragen, daß wir unsre Mitmenschen nicht verschlechtern;
überdies würden sie uns in jenem Falle harte Steuern
auferlegen, und unser öffentliches Leiden ist
jedenfalls auch unser privater Vorteil.
335
Wärme in den Höhen. - Auf den Höhen ist es
wärmer, als man in den Tälern meint, namentlich im
Winter. Der Denker weiß, was alles dies Gleichnis besagt.
336
Das Gute wollen, das Schöne können. -
Es genügt nicht, das Gute zu üben, man muß es gewollt
haben und, nach dem Wort des Dichters, die Gottheit in
seinen Willen aufnehmen. Aber das Schöne darf man
nicht wollen, man muß es können, in Unschuld und
Blindheit, ohne alle Neubegier der Psyche. Wer seine Laterne
anzündet, um vollkommene Menschen zu finden, der
achte auf dies Merkmal: es sind die, welche immer um
des Guten willen handeln und immer dabei das Schöne
erreichen, ohne daran zu denken. Viele der Besseren und
Edleren bleiben nämlich, aus Unvermögen und Mangel
der schönen Seele, mit allem ihrem guten Willen und
ihren guten Werken, unerquicklich und häßlich anzusehen;
sie stoßen zurück und schaden selbst der Tugend durch
das widrige Gewand, welches ihr schlechter Geschmack
derselben anlegt.
337
Gefahr der Entsagenden. - Man muß sich
hüten, sein Leben auf einen zu schmalen Grund von Begehrlichkeit
zu gründen: denn wenn man den Freuden
entsagt, welche Stellungen, Ehren, Genossenschaften, Wolllüste,
Bequemlichkeiten, Künste mit sich bringen, so kann
ein Tag kommen, wo man merkt, statt der Weisheit,
durch diese Verzichtleistung den Lebens-Überdruß
zum Nachbarn erlangt zu haben.
338
Letzte Meinung über Meinungen. - Entweder
verstecke man seine Meinungen, oder man verstecke
sich hinter seine Meinungen. Wer es anders macht, der
kennt den Lauf der Welt nicht oder gehört zum Orden der
heiligen Tollkühnheit.
339
"Gaudeamus igitur." - Die Freude muß auch
für die sittliche Natur des Menschen auferbauende und
ausheilende Kräfte enthalten: wie käme es sonst, daß
unsere Seele, sobald sie im Sonnenschein der Freude ruht,
sich unwillkürlich gelobt "gut sein!" "Vollkommen werden!"
und daß dabei ein Vorgefühl der Vollkommenheit,
gleich einem seligen Schauder, sie erfaßt?
340
An einen Gelobten. - Solange man dich lobt,
glaube nur immer, daß du noch nicht auf deiner eignen
Bahn, sondern auf der eines andern bist.
341
Den Meister lieben. - Anders liebt der Gesell,
anders der Meister den Meister.
342
Allzuschönes und Menschliches. - "Die
Natur ist zu schön für dich armen Sterblichen" - so empfindet
man nicht selten, aber ein paarmal, bei einem innigen
Anschauen alles Menschlichen, seiner Fülle, Kraft,
Zartheit, Verflochtenheit, war es mir zumute, als ob ich
sagen müßte, in aller Demut: "auch der Mensch ist
zu schön für den betrachtenden Menschen!" - und zwar
nicht etwa nur der moralische Mensch, sondern jeder.
343
Bewegliche Habe und Grundbesitz. -
Wenn einen das Leben einmal recht räuberhaft behandelt
hat, und an Ehren, Freuden, Anhang, Gesundheit, Besitz
aller Art nahm, was es nehmen konnte, so entdeckt man
vielleicht hinterdrein, nach dem ersten Schrecken, daß man
reicher ist als zuvor. Denn jetzt erst weiß man, was
einem so zu eigen ist, daß keine Räuberhand daran zu
rühren vermag; so geht man vielleicht aus aller Plünderung
und Verwirrung mit der Vornehmheit eines großen
Grundbesitzers hervor.
344
Unfreiwillige Idealfiguren. - Das peinlichste
Gefühl, das es gibt, ist, zu entdecken, daß man
immer für etwas Höheres genommen wird, als man ist.
Denn man muß sich dabei eingestehen: irgend etwas an dir
ist Lug und Trug, dein Wort, dein Ausdruck, dein Auge,
deine Handlung - und dieses trügerische Etwas ist so
notwendig wie deine sonstige Ehrlichkeit, hebt aber deren
Wirkung und Wert fortwährend auf.
345
Idealist und Lügner. - Man soll sich von dem
schönsten Vermögen - dem, die Dinge ins Ideal zu
heben - nicht tyrannisieren lassen: sonst trennt sich
eines Tages die Wahrheit von uns mit dem bösen Wort
"du Lügner von Grund aus, was habe ich mit dir zu
schaffen?"
346
Mißverstanden werden. - Wenn man als
Ganzes mißverstanden wird, so ist es unmöglich, ein einzelnes
Mißverstandenwerden von Grund aus zu heben.
Dies muß man einsehen, um nicht überflüssige Kraft in
seiner Verteidigung zu verschwenden.
347
Der Wassertrinker spricht. - Trinke deinen
Wein nur weiter, der dich dein Leben lang gelabt hat, -
was geht es dich an, daß ich ein Wassertrinker sein muß?
Sind Wein und Wasser nicht friedfertige brüderliche Elemente,
die ohne Vorwurf beieinander wohnen?
348
Aus dem Lande der Menschenfresser. -
In der Einsamkeit frißt sich der Einsame selbst auf, in der
Vielsamkeit fressen ihn die vielen. Nun wähle.
349
Im Gefrierpunkt des Willens. - "Endlich
einmal kommt sie doch, jene Stunde, die dich in die goldene
Wolke der Schmerzlosigkeit einhüllen wird: wo die
Seele ihre eigene Müdigkeit genießt und glücklich im geduldigen
Spiele mit ihrer Geduld den Wellen eines Sees
gleicht, die an einem ruhigen Sommertage, im Widerglanze
eines buntgefärbten Abendhimmels, am Ufer schlürfen,
schlürfen und wieder stille sind - ohne Ende, ohne
Zweck, ohne Sättigung, ohne Bedürfnis, - ganz Ruhe,
die sich am Wechsel freut, ganz Zurückebben und Einfluten
in den Pulsschlag der Natur." Dies ist Empfindung
und Rede aller Kranken: erreichen sie aber jene Stunden,
so kommt, nach kurzem Genusse, die Langeweile. Diese
aber ist der Tauwind für den eingefrornen Willen: er erwacht,
bewegt sich und zeugt wieder Wunsch auf Wunsch.
- Wünschen ist ein Anzeichen von Genesung oder Besserung.
350
Das verleugnete Ideal. - Ausnahmsweise
kommt es vor, daß einer das Höchste erst dann erreicht,
wenn er sein Ideal verleugnet: denn dies Ideal trieb ihn
bisher zu heftig an, so daß er in der Mitte der jedesmaligen
Bahn außer Atem kam und stehenbleiben mußte.
351
Verräterische Neigung. - Man beachte es
als Merkmal eines neidischen, aber höher strebenden Menschen,
wenn er sich von dem Gedanken angezogen fühlt,
daß es dem Vortrefflichen gegenüber nur eine Rettung
gibt: Liebe.
352
Treppen-Glück. - Wie der Witz mancher Menschen
nicht mit der Gelegenheit gleichen Schritt hält, so
daß die Gelegenheit schon durch die Türe hindurch ist,
während der Witz noch auf der Treppe steht: so gibt es
bei anderen eine Art von Treppen-Glück, welches zu langsam
läuft, um der schnellfüßigen Zeit immer zur Seite zu
sein: das Beste, was sie von einem Erlebnis, einer ganzen
Lebensstrecke zu genießen bekommen, fällt ihnen erst
lange Zeit hinterher zu, oft nur als ein schwacher, gewürzter
Duft, welcher Sehnsucht erweckt und Trauer -
als ob es möglich gewesen wäre - irgendwann - in diesem
Element sich recht satt zu trinken: nun aber ist es zu
spät.
353
Würmer. - Es spricht nicht gegen die Reife eines
Geistes, daß er einige Würmer hat.
354
Der siegreiche Sitz. Eine gute Haltung zu
Pferd stiehlt dem Gegner den Mut, dem Zuschauer das
Herz, - wozu erst noch angreifen? Sitze wie einer, der
gesiegt hat!
355
Gefahr in der Bewunderung. - Man kann
aus allzu großer Bewunderung für fremde Tugenden den
Sinn für seine eignen und, durch Mangel an Übung, zuletzt
diese selbst verlieren, ohne die fremden dafür zum
Ersatz zu erhalten.
356
Nutzen der Kränklichkeit. - Wer oft
krank ist, hat nicht nur einen viel größeren Genuß am
Gesundsein, wegen seines häufigen Gesundwerdens: sondern
auch einen höchst geschärften Sinn für Gesundes und
Krankhaftes in Werken und Handlungen, eigenen und
fremden: so daß zum Beispiel gerade die kränklichen
Schriftsteller - und darunter sind leider fast alle großen
- in ihren Schriften einen viel sichreren und gleichmäßigeren
Ton der Gesundheit zu haben pflegen, weil
sie besser als die körperlich Robusten sich auf die Philosophie
der seelischen Gesundheit und Genesung und ihre
Lehrmeister: Vormittag, Sonnenschein, Wald und Wasserquelle,
verstehen.
357
Untreue, Bedingung der Meisterschaft.
- Es hilft nichts: jeder Meister hat nur einen Schüler
- und der wird ihm untreu - denn er ist zur Meisterschaft
auch bestimmt.
358
Nie umsonst. - Im Gebirge der Wahrheit kletterst
du nie umsonst: entweder du kommst schon heute weiter
hinauf oder du übst deine Kräfte, um morgen höher steigen
zu können.
359
Vor grauen Fensterscheiben. - Ist denn
das, was ihr durch dies Fenster von der Welt seht, so
schön, daß ihr durchaus durch kein anderes Fenster mehr
blicken wollt - ja selbst andere davon abzuhalten den
Versuch macht?
360
Anzeichen starker Wandlungen. - Es ist
ein Zeichen, wenn man von lange Vergessenen oder Toten
träumt, daß man eine starke Wandlung in sich durchlebt
hat und daß der Boden, auf dem man lebt, völlig umgegraben
worden ist: da stehen die Toten auf, und unser
Altertum wird Neutum.
361
Arznei der Seele. - Still-liegen und Wenig-denken
ist das wohlfeilste Arzneimittel für alle Krankheiten
der Seele und wird, bei gutem Willen, von Stunde
zu Stunde seines Gebrauchs angenehmer.
362
Zur Rangordnung der Geister. - Es ordnet
dich tief unter jenen, daß du die Ausnahmen festzustellen
suchst, jener aber die Regel.
363
Der Fatalist. - Du mußt an das Fatum glauben,
- dazu kann die Wissenschaft dich zwingen. Was
dann aus diesem Glauben bei dir herauswächst - Feigheit,
Ergebung oder Großartigkeit und Freimut -, das legt
Zeugnis von dem Erdreich ab, in welches jenes Samenkorn
gestreut wurde, nicht aber vom Samenkorn selbst - denn
aus ihm kann alles und jedes werden.
364
Grund vieler Verdrießlichkeit. - Wer im
Leben das Schöne dem Nützlichen vorzieht, wird sich
gewiß zuletzt, wie das Kind, welches Zuckerwerk dem
Brote vorzieht, den Magen verderben und sehr verdrießlich
in die Welt sehen.
365
Übermaß als Heilmittel. - Man kann sich
seine eigne Begabung dadurch wieder schmackhaft machen,
daß man längere Zeit die entgegengesetzte übermäßig verehrt
und genießt. - Das Übermaß als Heilmittel zu gebrauchen
ist einer der feineren Griffe in der Lebenskunst.
366
"Wolle ein Selbst." - Die tätigen, erfolgreichen
Naturen handeln nicht nach dem Spruche "kenne dich
selbst", sondern wie als ob ihnen der Befehl vorschwebte:
wolle ein Selbst, so wirst du ein Selbst. - Das
Schicksal scheint ihnen immer noch die Wahl gelassen zu
haben; während die Untätigen und Beschaulichen darüber
nachsinnen, wie sie jenes eine Mal, beim Eintritt ins Leben,
gewählt haben.
367
Womöglich ohne Anhang leben. - Wie
wenig Anhänger zu bedeuten haben, begreift man erst,
wenn man aufgehört hat, der Anhänger seiner Anhänger
zu sein.
368
Sich verdunkeln. - Man muß sich zu verdunkeln
verstehen, um die Mückenschwärme allzu lästiger Bewunderer
loszuwerden.
369
Langeweile. - Es gibt eine Langeweile der feinsten
und gebildetsten Köpfe, denen das Beste, was die
Erde bietet, schal geworden ist: gewöhnt daran, ausgesuchte
und immer ausgesuchtere Kost zu essen und vor
der gröberen sich zu ekeln, sind sie in Gefahr Hungers zu
sterben - denn des Allerbesten ist nur wenig da, und
mitunter ist es unzugänglich oder steinhart geworden, so
daß es auch gute Zähne nicht mehr beißen können.
370
Die Gefahr in der Bewunderung. - Die
Bewunderung einer Eigenschaft oder Kunst kann so stark
sein, daß sie uns abhält, nach ihrem Besitz zu streben.
371
Was man von der Kunst will. - Der eine will
vermittels der Kunst sich seines Wesens freuen, der andere
will mit ihrer Hilfe zeitweilig über sein Wesen hinaus,
von ihm weg. Nach beiden Bedürfnissen gibt es eine doppelte
Art von Kunst und Künstlern.
372
Abfall. - Wer von uns abfällt, beleidigt damit vielleicht
nicht uns, aber sicherlich unsere Anhänger.
373
Nach dem Tode. - Wir finden es gewöhnlich erst
lange nach dem Tode eines Menschen unbegreiflich, daß
er fehlt: bei ganz großen Menschen oft erst nach Jahrzehnten.
Wer ehrlich ist, meint bei einem Todesfalle gewöhnlich,
daß eigentlich nicht viel fehle und daß der
feierliche Leichenredner ein Heuchler sei. Erst die Not
lehrt das Nötig-sein eines einzelnen, und das rechte Epitaph
ist ein später Seufzer.
374
Im Hades lassen. - Viele Dinge muß man im
Hades halbbewußten Fühlens lassen und nicht aus ihrem
Schatten-Dasein erlösen wollen, sonst werden sie, als Gedanke
und Wort, unsere dämonischen Herren und verlangen
grausam nach unsrem Blut.
375
Nähe des Bettlertums. - Auch der reichste
Geist hat gelegentlich den Schlüssel zu der Kammer verloren,
in der seine aufgespeicherten Schätze ruhen, und ist
dann dem Ärmsten gleich, der betteln muß, um nur zu leben.
376
Ketten-Denker. - Einem, der viel gedacht hat,
erscheint jeder neue Gedanke, den er hört oder liest, sofort
in Gestalt einer Kette.
377
Mitleid. - In der vergoldeten Scheide des Mitleidens
steckt mitunter der Dolch des Neides.
378
Was ist Genie? - Ein hohes Ziel und die Mittel
dazu wollen.
379
Eitelkeit der Kämpfer. - Wer keine Hoffnung
hat, in einem Kampfe zu siegen, oder ersichtlich
unterlegen ist, will um so mehr, daß die Art seines Kämpfens
bewundert werde.
380
Das philosophische Leben wird mißgedeutet.
- In dem Augenblicke, wo jemand anfängt mit
der Philosophie Ernst zu machen, glaubt alle Welt das
Gegenteil davon.
381
Nachahmung. - Das Schlechte gewinnt durch
die Nachahmung an Ansehen, das Gute verliert dabei -
namentlich in der Kunst.
382
Letzte Lehre der Historie. - "Ach, daß ich
damals gelebt hätte!" - das ist die Rede törichter und
spielerischer Menschen. Vielmehr wird man, bei jedem
Stück Geschichte, das man ernstlich betrachtet hat,
und sei es das gelobteste Land der Vergangenheit, zuletzt
ausrufen: "nur nicht dahin wieder zurück! Der Geist
jener Zeit würde mit der Last von hundert Atmosphären
auf dich drücken, des Guten und Schönen an ihr würdest
du dich nicht erfreuen, ihr Schlimmes nicht verdauen
können." - Zuverlässig wird die Nachwelt ebenso über
unsere Zeit urteilen: sie sei unausstehlich, das Leben in
ihr unlebebar gewesen. - Und doch hält es jeder in
seiner Zeit aus? - Ja, und zwar deshalb, weil der Geist
seiner Zeit nicht nur auf ihm liegt, sondern auch in
ihm ist. Der Geist der Zeit leistet sich selber Widerstand,
trägt sich selber.
383
Großheit als Maske. - Mit Großheit des Benehmens
erbittert man seine Feinde, mit Neid, den man
merken läßt, versöhnt man sie sich beinahe: denn der
Neid vergleicht, setzt gleich, er ist eine unfreiwillige und
stöhnende Art von Bescheidenheit. - Ob wohl hier und
da, des erwähnten Vorteils halber, der Neid als Maske
vorgenommen worden ist, von solchen, welche nicht neidisch
waren? Vielleicht; sicherlich aber wird Großheit des
Benehmens oft als Maske des Neides gebraucht, von Ehrgeizigen,
welche lieber Nachteile erleiden und ihre Feinde
erbittern wollen als merken lassen, daß sie sich innerlich
ihnen gleichsetzen.
384
Unverzeihlich. - Du hast ihm eine Gelegenheit
gegeben, Größe des Charakters zu zeigen, und er hat
sie nicht benutzt. Das wird er dir nie verzeihen.
385
Gegen-Sätze. - Das Greisenhafteste, was je über
den Menschen gedacht worden ist, steckt in dem berühmten
Satze "das Ich ist immer hassenswert"; das Kindlichste
in dem noch berühmteren "liebe deinen Nächsten,
wie dich selbst". - Bei dem einen hat die Menschenkenntnis
aufgehört, bei dem andern noch gar nicht angefangen.
386
Das fehlende Ohr. - "Man gehört noch zum
Pöbel, solange man immer auf andere die Schuld schiebt;
man ist auf der Bahn der Weisheit, wenn man immer nur
sich selber verantwortlich macht; aber der Weise findet niemanden
schuldig, weder sich noch andere." - Wer sagt
dies? - Epiktet, vor achtzehnhundert Jahren. - Man
hat es gehört, aber vergessen. - Nein, man hat es nicht
gehört und nicht vergessen: nicht jedes Ding vergißt sich.
Aber man hatte das Ohr nicht dafür, das Ohr Epiktets. -
So hat er es also sich selber ins Ohr gesagt? - So ist es:
Weisheit ist das Gezischel des Einsamen mit sich auf vollem
Markte.
387
Fehler des Standpunktes, nicht des Auges.
- Man steht sich selber immer einige Schritte zu
nah; und dem Nächsten immer einige Schritte zu fern.
So kommt es, daß man ihn zu sehr in Bausch und Bogen
beurteilt und sich selber zu sehr nach einzelnen gelegentlichen
unbeträchtlichen Zügen und Vorkommnissen.
388
Die Ignoranz in Waffen. - Wie leicht nehmen
wir es, ob ein andrer von einer Sache weiß oder nicht
weiß, - während er vielleicht schon bei der Vorstellung
Blut schwitzt, daß man ihn hierin für unwissend halte.
Ja, es gibt ausgesuchte Narren, welche immer mit einem
vollen Köcher von Bannflüchen und Machtsprüchen einhergehen,
bereit, jeden niederzuschießen, der merken läßt,
es gebe Dinge, worin ihr Urteil nicht in Betracht komme.
389
Am Trinktisch der Erfahrung. - Personen,
welche aus angeborner Mäßigkeit jedes Glas halb
ausgetrunken stehen lassen, wollen nicht zugeben, daß
jedes Ding in der Welt seine Neige und Hefe habe.
390
Singvögel. - Die Anhänger eines großen Mannes
pflegen sich zu blenden, um sein Lob besser singen zu
können.
391
Nicht gewachsen. - Das Gute mißfällt uns,
wenn wir ihm nicht gewachsen sind.
392
Die Regel als Mutter oder als Kind. -
Ein anderer Zustand ist der, welcher die Regel gebiert,
ein andrer der, welchen die Regel gebiert.
393
Komödie. - Wir ernten mitunter Liebe und Ehre
für Taten oder Werke, welche wir längst wie eine Haut
von uns abgestreift haben: da werden wir leicht verführt,
die Komödianten unserer eigenen Vergangenheit zu
machen und das alte Fell noch einmal über die Schultern
zu werfen - und nicht nur aus Eitelkeit, sondern auch
aus Wohlwollen gegen unsere Bewunderer.
394
Fehler der Biographen. - Die kleine Kraft,
welche not tut, einen Kahn in den Strom hineinzustoßen,
soll nicht mit der Kraft dieses Stromes, der ihn fürderhin
trägt, verwechselt werden: aber es geschieht fast in allen
Biographien.
395
Nicht zu teuer kaufen. - Was man zu teuer
kauft, verwendet man gewöhnlich auch noch schlecht, weil
ohne Liebe und mit peinlicher Erinnerung - und so hat
man einen doppelten Nachteil davon.
396
Welche Philosophie immer der Gesellschaft
not tut. - Der Pfeiler der gesellschaftlichen
Ordnung ruht auf dem Grunde, daß ein jeder auf das, was
er ist, tut und erstrebt, auf seine Gesundheit oder Krankheit,
seine Armut oder Wohlstand, seine Ehre oder Unansehnlichkeit,
mit Heiterkeit hinblickt und dabei empfindet
"ich tausche doch mit keinem". - Wer
an der Ordnung der Gesellschaft bauen will, möge nur
immer diese Philosophie der heiteren Tauschablehnung
und Neidlosigkeit in die Herzen einpflanzen.
397
Anzeichen der vornehmen Seele. - Eine
vornehme Seele ist die nicht, welche der höchsten Aufschwünge
fähig ist, sondern jene, welche sich wenig erhebt
und wenig fällt, aber immer in einer freieren
durchleuchteten Luft und Höhe wohnt.
398
Das Große und sein Betrachter. - Die
beste Wirkung des Großen ist, daß es dem Betrachter ein
vergrößerndes und abrundendes Auge einsetzt.
399
Sich genügen lassen. - Die erlangte Reife des
Verstandes bekundet sich darin, daß man dorthin, wo
seltene Blumen unter den spitzigsten Dornenhecken der
Erkenntnis stehen, nicht mehr geht und sich an Garten,
Wald, Wiese und Ackerfeld genügen läßt, in Anbetracht,
wie das Leben für das Seltene und Außergewöhnliche
zu kurz ist.
400
Vorteil in der Entbehrung. - Wer immerdar
in der Wärme und Fülle des Herzens und gleichsam
in der Sommerluft der Seele lebt, kann sich jenes schauerliche
Entzücken nicht vorstellen, welches winterlichere Naturen
ergreift, die ausnahmsweise von den Strahlen der
Liebe und dem lauen Anhauche eines sonnigen Februartages
berührt werden.
401
Rezept für den Dulder. - Dir wird die Last
des Lebens zu schwer? - So mußt du die Last deines
Lebens vermehren. Wenn der Dulder endlich nach dem
Flusse Lethe dürstet und sucht, - so muß er zum Helden
werden, um ihn gewiß zu finden.
402
Der Richter. - Wer jemandes Ideal geschaut hat,
ist dessen unerbittlicher Richter und gleichsam sein böses
Gewissen.
403
Nutzen der großen Entsagung. - Das
Nützlichste an der großen Entsagung ist, daß sie uns jenen
Tugendstolz mitteilt, vermöge dessen wir von da an leicht
viele kleine Entsagungen von uns erlangen.
404
Wie die Pflicht Glanz bekommt. - Das
Mittel, um deine eherne Pflicht im Auge von jedermann in
Gold zu verwandeln, heißt: halte immer etwas mehr als
du versprichst.
405
Gebet zu Menschen. - "Vergib uns unsere Tugenden"
- so soll man zu Menschen beten.
406
Schaffende und Genießende. - Jeder Genießende
meint, dem Baume habe es an der Frucht gelegen;
aber ihm lag am Samen. - Hierin besteht der Unterschied
zwischen allen Schaffenden und Genießenden.
407
Der Ruhm aller Großen. - Was ist am Genie
gelegen, wenn es nicht seinem Betrachter und Verehrer
solche Freiheit und Höhe des Gefühls mitteilt, daß er des
Genies nicht mehr bedarf! - Sich überflüssig
machen - das ist der Ruhm aller Großen.
408
Die Hadesfahrt. - Auch ich bin in der Unterwelt
gewesen wie Odysseus, und werde es noch öfter
sein; und nicht nur Hammel habe ich geopfert, um mit
einigen Toten reden zu können, sondern des eignen Blutes
nicht geschont. Vier Paare waren es, welche sich mir,
dem Opfernden, nicht versagten: Epikur und Montaigne,
Goethe und Spinoza, Plato und Rousseau, Pascal und
Schopenhauer. Mit diesen muß ich mich auseinandersetzen,
wenn ich lange allein gewandert bin, von ihnen
will ich mir Recht und Unrecht geben lassen, ihnen will
ich zuhören, wenn sie sich dabei selber untereinander recht
und unrecht geben. Was ich auch nur sage, beschließe,
für mich und andere ausdenke: auf jene acht hefte ich
die Augen und sehe die ihrigen auf mich geheftet. -
Mögen die Lebenden es mir verzeihen, wenn sie mir
mitunter wie die Schatten vorkommen, so verblichen und
verdrießlich, so unruhig und ach! so lüstern nach Leben:
während jene mir dann so lebendig scheinen, als ob sie
nun, nach dem Tode, nimmermehr lebensmüde werden
könnten. Auf die ewige Lebendigkeit aber
kommt es an: was ist am "ewigen Leben" und überhaupt
am Leben gelegen!