Der Wanderer und sein Schatten

D e r   S c h a t t e n:  Da ich dich so lange nicht reden
hörte, so möchte ich dir eine Gelegenheit geben.

D e r   W a n d e r e r:  Es redet: - wo? und wer? Fast
ist es mir, als hörte ich mich selber reden, nur mit noch
schwächerer Stimme als die meine ist.

D e r   S c h a t t e n  (nach einer Weile): Freut es dich
nicht, Gelegenheit zum Reden zu haben?

D e r   W a n d e r e r:  Bei Gott und allen Dingen, an die
ich nicht glaube, mein Schatten redet; ich höre es, aber
glaube es nicht.

D e r   S c h a t t e n:  Nehmen wir es hin und denken wir
nicht weiter darüber nach, in einer Stunde ist alles vorbei.

D e r   W a n d e r e r:  Ganz so dachte ich, als ich in einem
Walde bei Pisa erst zwei und dann fünf Kamele sah.

D e r   S c h a t t e n:  Es ist gut, daß wir beide auf gleiche
Weise nachsichtig gegen uns sind, wenn einmal unsere
Vernunft stille steht: so werden wir uns auch im Gespräche
nicht ärgerlich werden und nicht gleich dem andern
Daumenschrauben anlegen, falls sein Wort uns einmal
unverständlich klingt. Weiß man gerade nicht zu
antworten, so genügt es schon, etwas zu sagen: das ist
die billige Bedingung, unter der ich mich mit jemandem
unterrede. Bei einem längeren Gespräche wird auch der
Weiseste einmal zum Narren Und dreimal zum Tropf.

D e r   W a n d e r e r:  Deine Genügsamkeit ist nicht
schmeichelhaft für den, welchem du sie eingestehst.

D e r   S c h a t t e n:  Soll ich denn schmeicheln?

D e r   W a n d e r e r:  Ich dachte, der menschliche Schatten
sei seine Eitelkeit; diese aber würde nie fragen: "soll
ich denn schmeicheln?"

D e r   S c h a t t e n:  Die menschliche Eitelkeit, soweit
ich sie kenne, fragt auch nicht an, wie ich schon zweimal
tat, ob sie reden dürfe: sie redet immer.

D e r   W a n d e r e r:  Ich merke erst, wie unartig ich
gegen dich bin, mein geliebter Schatten: ich habe noch
mit keinem Worte gesagt, wie sehr ich mich f r e u e,  dich
zu hören und nicht bloß zu sehen. Du wirst es wissen,
ich liebe den Schatten, wie ich das Licht liebe. Damit es
Schönheit des Gesichts, Deutlichkeit der Rede, Güte und
Festigkeit des Charakters gebe, ist der Schatten so nötig
wie das Licht. Es sind nicht Gegner: sie halten sich vielmehr
liebevoll an den Händen, und wenn das Licht verschwindet,
schlüpft ihm der Schatten nach.

D e r   S c h a t t e n:  Und ich hasse dasselbe, was du
hassest, die Nacht; ich liebe die Menschen, weil sie Lichtjünger
sind und freue mich des Leuchtens, das in ihrem
Auge ist, wenn sie erkennen und entdecken, die unermüdlichen
Erkenner und Entdecker. Jener Schatten, welchen
alle Dinge zeigen, wenn der Sonnenschein der Erkenntnis
auf sie fällt, - jener Schatten bin ich auch.

D e r   W a n d e r e r:  Ich glaube dich zu verstehen, ob
du dich gleich etwas schattenhaft ausgedrückt hast.
Aber du hattest recht: gute Freunde geben einander hier
und da ein dunkles Wort als Zeichen des Einverständnisses,
welches für jeden dritten ein Rätsel sein soll. Und wir
sind gute Freunde. Deshalb genug des Vorredens! Ein
paar hundert Fragen drücken auf meine Seele, und die
Zeit, da du auf sie antworten kannst, ist vielleicht nur
kurz. Sehen wir zu, worüber wir in aller Eile und Friedfertigkeit
miteinander zusammenkommen.

D e r   S c h a t t e n:  Aber die Schatten sind schüchterner
als die Menschen: du wirst niemandem mitteilen, wie wir
zusammen gesprochen haben!

D e r   W a n d e r e r:  Wie wir zusammen gesprochen
haben? Der Himmel behüte mich vor langgesponnenen,
schriftlichen Gesprächen! Wenn Plato weniger Lust am
Spinnen gehabt hätte, würden seine Leser mehr Lust
an Plato haben. Ein Gespräch, das in der Wirklichkeit
ergötzt, ist, in Schrift verwandelt und gelesen, ein
Gemälde mit lauter falschen Perspektiven: Alles ist zu
lang oder zu kurz. - Doch werde ich vielleicht mitteilen
dürfen, w o r ü b e r  wir übereingekommen sind?

D e r   S c h a t t e n:  Damit bin ich zufrieden; denn alle
werden darin nur deine Ansichten wiedererkennen: des
Schattens wird niemand gedenken.

D e r   W a n d e r e r:  Vielleicht irrst du, Freund! Bis
jetzt hat man in meinen Ansichten mehr den Schatten
wahrgenommen als mich.

D e r   S c h a t t e n:  Mehr den Schatten als das Licht?
Ist es möglich?

D e r   W a n d e r e r:  Sei ernsthaft, lieber Narr! Gleich
meine erste Frage verlangt Ernst. -


1

V o m   B a u m   d e r   E r k e n n t n i s.  - Wahrscheinlichkeit,
aber keine Wahrheit: Freischeinlichkeit, aber
keine Freiheit, - diese beiden Früchte sind es, derentwegen
der Baum der Erkenntnis nicht mit dem Baum des
Lebens verwechselt werden kann.

2

D i e   V e r n u n f t   d e r   W e l t.  - Daß die Welt
n i c h t  der Inbegriff einer ewigen Vernünftigkeit ist,
läßt sich endgültig dadurch beweisen, daß jenes S t ü c k 
 W e l t,  welches wir kennen - ich meine unsre menschliche
Vernunft -, nicht allzu vernünftig ist. Und wenn
s i e  nicht allezeit und vollständig weise und rationell ist,
so wird es die übrige Welt auch nicht sein; hier gilt der
Schluß, und zwar
mit entscheidender Kraft.

3

" A m   A n f a n g   w a r. "  - Die Entstehung verherrlichen -
das ist der metaphysische N a c h t r i e b,  welcher
bei der Betrachtung der Historie wieder ausschlägt
und durchaus meinen macht, am Anfang aller Dinge stehe
das Wertvollste und Wesentlichste.

4

M a ß   f ü r   d e n   W e r t   d e r   W a h r h e i t.  - Für die
Höhe der Berge ist die Mühsal ihrer Besteigung durchaus
kein Maßstab. Und in der Wissenschaft soll es anders
sein! - sagen uns einige, die für eingeweiht gelten wollen -,
die Mühsal um die Wahrheit soll gerade über
den Wert der Wahrheit entscheiden! Diese tolle Moral
geht von dem Gedanken aus, daß die "Wahrheiten" eigentlich
nichts weiter seien, als Turngerätschaften,
an denen wir uns wacker müde zu arbeiten hätten,
- eine Moral für Athleten und Festturner des Geistes.

5

S p r a c h g e b r a u c h   u n d   W i r k l i c h k e i t.  - Es 
gibt eine erheuchelte Mißachtung aller der Dinge, welche
tatsächlich die Menschen am wichtigsten nehmen, a l l e r 
 n ä c h s t e n   D i n g e.  Man sagt zum Beispiel "man ißt
nur, um zu leben," - eine verfluchte L ü g e,  wie jene,
welche von der Kindererzeugung als der eigentlichen Absicht
aller Wollust redet. Umgekehrt ist die Hochschätzung
der "wichtigsten Dinge" fast niemals ganz
echt: die Priester und Metaphysiker haben uns zwar auf
diesen Gebieten durchaus an einen heuchlerisch übertreibenden
S p r a c h g e b r a u c h  gewöhnt, aber das Gefühl
doch nicht umgestimmt, welches diese wichtigsten Dinge
nicht so wichtig nimmt wie jene verachteten nächsten
Dinge. - Eine leidige Folge dieser doppelten Heuchelei
aber ist immerhin, daß man die nächsten Dinge, zum
Beispiel Essen, Wohnen, Sich-Kleiden, Verkehren, nicht
zum Objekt des stetigen unbefangenen und a l l g e m e i n e n 
Nachdenkens und Umbildens macht, sondern, weil
dies für herabwürdigend gilt, seinen intellektuellen und
künstlerischen Ernst davon abwendet; so daß hier die
Gewohnheit und die Frivolität über die Unbedachtsamen,
namentlich über die unerfahrene Jugend, leichten Sieg
haben: während andererseits unsere fortwährenden Verstöße
gegen die einfachsten Gesetze des Körpers und Geistes
uns alle, Jüngere und Ältere, in eine beschämende
Abhängigkeit und Unfreiheit bringen, - ich meine in jene
im Grunde überflüssige Abhängigkeit von Ärzten, Lehrern
und Seelsorgern, deren Druck jetzt immer noch auf
der ganzen Gesellschaft liegt.

6

D i e   i r d i s c h e   G e b r e c h l i c h k e i t   u n d   i h r e 
 H a u p t u r s a c h e.  - Man trifft, wenn man sich umsieht,
immer auf Menschen, welche ihr Lebenlang Eier gegessen
haben, ohne zu bemerken, daß die länglichten die
wohlschmeckendsten sind, welche nicht wissen, daß ein
Gewitter dem Unterleib förderlich ist, daß Wohlgerüche
in kalter, klarer Luft am stärksten riechen, daß unser
Geschmackssinn an verschiedenen Stellen des Mundes ungleich
ist, daß jede Mahlzeit, bei der man gut spricht
oder gut hört, dem Magen Nachteil bringt. Man mag
mit diesen Beispielen für den Mangel an Beobachtungssinn
nicht zufrieden sein, um so mehr möge man zugestehen,
daß die a l l e r n ä c h s t e n   D i n g e  von den
meisten sehr schlecht gesehen, sehr selten beachtet werden.
Und ist dies gleichgültig? - Man erwäge doch, daß aus diesem
Mangel sich f a s t   a l l e   l e i b l i c h e n   u n d   s e e l i s c h e n 
 G e b r e c h e n  der einzelnen ableiten: nicht zu
wissen, was uns förderlich, was uns schädlich ist, in der
Einrichtung der Lebensweise, Verteilung des Tages, Zeit
und Auswahl des Verkehres, in Beruf und Muße, Befehlen
und Gehorchen, Natur- und Kunstempfinden,
Essen, Schlafen und Nachdenken; im K l e i n s t e n   u n d 
 A l l t ä g l i c h s t e n   u n w i s s e n d  zu sein und keine
scharfen Augen zu haben - das ist es, was die Erde für
so viele zu einer "Wiese des Unheils" macht. Man sage
nicht, es liege hier wie überall an der menschlichen U n v e r n u n f t: 
vielmehr - Vernunft genug und übergenug
ist da, aber sie wird f a l s c h   g e r i c h t e t  und k ü n s t l i c h 
von jenen kleinen und allernächsten Dingen a b g e l e n k t. 
Priester und Lehrer, und die sublime Herrschsucht
der Idealisten jeder Art, der gröberen und feineren,
reden schon dem Kinde ein, es komme auf etwas ganz
anderes an: auf das Heil der Seele den Staatsdienst, die
Förderung der Wissenschaft oder auf Ansehen und Besitz,
als die Mittel, der ganzen Menschheit Dienste zu erweisen,
während das Bedürfnis des einzelnen, seine große und
kleine Not innerhalb der vierundzwanzig Tagesstunden
etwas Verächtliches oder Gleichgültiges sei. - Sokrates
schon wehrte sich mit allen Kräften gegen diese hochmütige
Vernachlässigung des Menschlichen zugunsten des
Menschen und liebte es, mit einem Worte Homers, an
den wirklichen Umkreis und Inbegriff alles Sorgens und
Nachdenkens zu mahnen: das ist es und nur das, sagte er,
"was mir zu Hause an Gutem und Schlimmem begegnet".

7

Z w e i   T r o s t m i t t e l.  - Epikur, der Seelen-Beschwichtiger
des späteren Altertums, hatte jene wundervolle
Einsicht, die heutzutage immer noch so selten zu
finden ist, daß zur Beruhigung des Gemüts die Lösung der
letzten und äußersten theoretischen Fragen gar nicht nötig
sei. So genügte es ihm, solchen, welche "die Götterangst"
quälte, zu sagen: "wenn es Götter gibt, so bekümmern
sie sich nicht um uns", - anstatt über die letzte Frage,
ob es Götter überhaupt gebe, unfruchtbar und aus der
Ferne zu disputieren. Jene Position ist viel günstiger und
mächtiger: man gibt dem andern einige Schritte vor
und macht ihn so zum Hören und Beherzigen gutwilliger.
Sobald er sich aber anschickt das Gegenteil zu beweisen
- daß die Götter sich um uns bekümmern -, in
welche Irrsale und Dorngebüsche muß der Arme geraten,
ganz von selber, ohne die List des Unterredners,
der nur genug Humanität und Feinheit haben muß, um
sein Mitleiden an diesem Schauspiele zu verbergen. Zuletzt
kommt jener andere zum Ekel, dem stärksten Argument
gegen jeden Satz, zum Ekel an seiner eigenen Behauptung;
er wird kalt und geht fort mit derselben
Stimmung, wie sie auch der reine Atheist hat: "was
gehen mich eigentlich die Götter an! hole sie der Teufel!"
- In anderen Fällen, namentlich wenn eine halb physische,
halb moralische Hypothese das Gemüt verdüstert
hatte, widerlegte er nicht diese Hypothese, sondern gestand
ein, daß es wohl so sein könne: aber es gebe n o c h 
 e i n e   z w e i t e  Hypothese, um dieselbe Erscheinung zu
erklären; vielleicht könne es sich auch noch anders verhalten.
D i e   M e h r h e i t  der Hypothesen genügt auch
in unserer Zeit noch, zum Beispiel über die Herkunft der
Gewissensbisse, um jenen Schatten von der Seele zu nehmen,
der aus dem Nachgrübeln über eine einzige, allein
sichtbare und dadurch hundertfach überschätzte Hypothese
so leicht entsteht. - Wer also Trost zu spenden wünscht,
an Unglückliche, Übeltäter, Hypochonder, Sterbende,
möge sich der beiden beruhigenden Wendungen Epikurs
erinnern, welche auf sehr viele Fragen sich anwenden
lassen. In der einfachsten Form würden sie etwa lauten:
erstens, gesetzt es verhält sich so, so geht es uns nichts
an; zweitens: es kann so sein, es kann aber auch anders
sein.

8

I n   d e r   N a c h t.  - Sobald die Nacht hereinbricht,
verändert sich unsere Empfindung über die nächsten
Dinge. Da ist der Wind, der wie auf verbotenen Wegen
umgeht, flüsternd, wie etwas suchend, verdrossen, weil
er's nicht findet. Da ist das Lampenlicht, mit trübem rötlichem
Scheine, ermüdet blickend, der Nacht ungern widerstrebend,
ein ungeduldiger Sklave des wachen Menschen.
Da sind die Atemzüge des Schlafenden, ihr schauerlicher
Takt, zu der eine immer wiederkehrende Sorge die Melodie
zu blasen scheint, - wir hören sie nicht, aber
wenn die Brust des Schlafenden sich hebt, so fühlen wir
uns geschnürten Herzens, und wenn der Atem sinkt und
fast ins Totenstille erstirbt, sagen wir uns "ruhe ein
wenig, du armer gequälter Geist!" - wir wünschen allem
Lebenden, weil es so gedrückt lebt, eine ewige Ruhe;
die Nacht überredet zum Tode. - Wenn die Menschen
der Sonne entbehrten und mit Mondlicht und Öl den
Kampf gegen die Nacht führten, welche Philosophie
würde um sie ihren Schleier hüllen! Man merkt es ja
dem geistigen und seelischen Wesen des Menschen schon
zu sehr an, wie es durch die Hälfte Dunkelheit und Sonnen-Entbehrung,
von der das Leben umflort wird, im ganzen verdüstert ist.

9

W o   d i e   L e h r e   v o n   d e r   F r e i h e i t   d e s   W i l l e n s 
 e n t s t a n d e n   i s t.  - Über dem einen steht die
N o t w e n d i g k e i t  in der Gestalt seiner Leidenschaften,
über dem andern als Gewohnheit zu hören und zu
gehorchen, über dem dritten als logisches Gewissen, über
dem vierten als Laune und mutwilliges Behagen an Seitensprüngen.
Von diesen vieren wird aber gerade da die
Freiheit ihres Willens gesucht, wo jeder von ihnen
am festesten gebunden ist: es ist, als ob der Seidenwurm
die Freiheit seines willens gerade im Spinnen suchte. Woher
kommt dies? Ersichtlich daher, daß jeder sich dort am
meisten für frei hält, wo sein L e b e n s g e f ü h l  am
größten ist, also, wie gesagt, bald in der Leidenschaft,
bald in der Pflicht, bald in der Erkenntnis, bald im Mutwillen.
Das, wodurch der einzelne Mensch stark ist, worin
er sich belebt fühlt, meint er unwillkürlich, müsse auch
immer das Element seiner Freiheit sein: er rechnet Abhängigkeit
und Stumpfsinn, Unabhängigkeit und Lebensgefühl
als notwendige Paare zusammen. - Hier wird
eine Erfahrung, die der Mensch im gesellschaftlich-politischen
Gebiete gemacht hat, fälschlich auf das allerletzte
metaphysische Gebiet übertragen: dort ist der starke
Mann auch der freie Mann, dort ist lebendiges Gefühl
von Freude und Leid, Höhe des Hoffens, Kühnheit des
Begehrens, Mächtigkeit des Hassens das Zubehör der Herrschenden
und Unabhängigen, während der Unterworfene,
der Sklave, gedrückt und stumpf lebt. - Die Lehre von
der Freiheit des Willens ist eine Erfindung
h e r r s c h e n d e r  Stände.

10

K e i n e   n e u e n   K e t t e n   f ü h l e n.  - So lange wir
nicht f ü h l e n,  daß wir irgend wovon abhängen, halten
wir uns für unabhängig: ein Fehlschluß, welcher zeigt, wie
stolz und herrschsüchtig der Mensch ist. Denn er nimmt
hier an, daß er unter allen Umständen die Abhängigkeit,
sobald er sie erleide, merken und erkennen müsse, unter
der Voraussetzung, daß er in der Unabhängigkeit für
g e w ö h n l i c h  lebe und sofort, wenn er sie ausnahmsweise
verliere, einen Gegensatz der Empfindung spüren
werde. - Wie aber, wenn das Umgekehrte wahr wäre:
daß er i m m e r  in vielfacher Abhängigkeit lebt, sich aber
f ü r   f r e i  hält, wo er den Druck der Kette aus langer
Gewohnheit n i c h t   m e h r   s p ü r t ?  Nur an den n e u e n 
Ketten leidet er noch: - "Freiheit des Willens" heißt
eigentlich nichts weiter, als keine neuen Ketten fühlen.

11

D i e   F r e i h e i t   d e s   W i l l e n s   u n d   d i e   I s o l a t i o n   d e r 
 F a k t a.  - Unsere gewohnte ungenaue Beobachtung
nimmt eine Gruppe von Erscheinungen als eins
und nennt sie ein Faktum: zwischen ihm und einem andern
Faktum denkt sie sich einen leeren Raum hinzu, sie
i s o l i e r t  jedes Faktum. In Wahrheit aber ist all unser
Handeln und Erkennen keine Folge von Fakten und
leeren Zwischenräumen, sondern ein beständiger Fluß.
Nun ist der Glaube an die Freiheit des Willens gerade mit
der Vorstellung eines beständigen, einartigen, ungeteilten,
unteilbaren Fließens unverträglich: er setzt voraus, daß
j e d e   e i n z e l n e   H a n d l u n g   i s o l i e r t   u n d   u n t e i l b a r 
ist; er ist eine A t o m i s t i k  im Bereiche des
Wollens und Erkennens. - Gerade so wie wir Charaktere
ungenau verstehen, so machen wir es mit den Fakten:
wir sprechen von gleichen Charakteren, gleichen Fakten:
b e i d e   g i b t   e s   n i c h t.  Nun loben und tadeln wir aber
nur unter dieser falschen Voraussetzung, daß es g l e i c h e 
Fakta gebe, daß eine abgestufte Ordnung von G a t t u n g e n 
der Fakten vorhanden sei, welcher eine abgestufte
Wertordnung entspreche: also wir i s o l i e r e n 
nicht nur das einzelne Faktum, sondern auch wiederum
die Gruppen von angeblich kleinen Fakten (gute, böse,
mitleidige, (neidische Handlungen usw.) - beide Male irrtümlich.
- Das Wort und der Begriff sind der sichtbarste
Grund, weshalb wir an diese Isolation von Handlungen-Gruppen
glauben: mit ihnen b e z e i c h n e n  wir nicht
nur die Dinge, wir meinen ursprünglich durch sie das
W a h r e  derselben zu erfassen. Durch Worte und Begriffe
werden wir jetzt noch fortwährend verführt, die Dinge uns
einfacher zu denken, als sie sind, getrennt voneinander,
unteilbar, jedes an und für sich seiend. Es liegt eine
philosophische Mythologie in der S p r a c h e  versteckt, welche
alle Augenblicke wieder herausbricht, so vorsichtig man
sonst auch sein mag. Der Glaube an die Freiheit des Willens,
das heißt der gleichen F a k t e n  und der i s o l i e r t e n  Fakten,
- hat in der Sprache seinen beständigen Evangelisten und Anwalt.

12

D i e   G r u n d i r r t ü m e r.  - Damit der Mensch
irgend eine seelische Lust oder Unlust empfinde, muß er
von einer dieser beiden Illusionen beherrscht sein: e n t w e d e r 
glaubt er an die G l e i c h h e i t  gewisser Fakta,
gewisser Empfindungen: dann hat er durch die Vergleichung
jetziger Zustände mit früheren und durch Gleich-
oder Ungleichsetzung derselben (wie sie bei aller Erinnerung
stattfindet) eine seelische Lust oder Unlust; o d e r 
er glaubt an die W i l l e n s - F r e i h e i t,  etwa wenn er
denkt "dies hätte ich nicht tun müssen", "dies hätte anders
auslaufen können", und gewinnt daraus ebenfalls Lust
oder Unlust. Ohne die Irrtümer, welche bei jeder seelischen
Lust und Unlust tätig sind, würde niemals ein
Menschentum entstanden sein - dessen Grundempfindung
ist und bleibt, daß der Mensch der Freie in der
Welt der Unfreiheit sei, der ewige W u n d e r t ä t e r, 
sei es, daß er gut oder böse handelt, die erstaunliche Ausnahme,
das Übertier, der Fast-Gott, der Sinn der Schöpfung,
der Nichthinwegzudenkende, das Lösungswort des
kosmischen Rätsels, der große Herrscher über die Natur
und Verächter derselben, das Wesen, das s e i n e  Geschichte
W e l t g e s c h i c h t e  nennt! -.

13

Z w e i m a l   s a g e n.  - Es ist gut, eine Sache sofort
doppelt auszudrücken und ihr einen rechten und einen
linken Fuß zu geben. Auf einem Bein kann die Wahrheit
zwar stehen; mit zweien aber wird sie gehen und
herumkommen.

14

D e r   M e n s c h   d e r   K o m ö d i a n t   d e r   W e l t.  -
Es müßte geistigere Geschöpfe geben, als die Menschen
sind, bloß um den Humor ganz auszukosten, der darin
liegt, daß der Mensch sich für den Zweck des ganzen
Weltendaseins ansieht und die Menschheit sich ernstlich
nur mit Aussicht auf eine Welt-Mission zufrieden gibt.
Hat ein Gott die Welt geschaffen, so schuf er den Menschen
zum A f f e n   G o t t e s,  als fortwährenden Anlaß
zur Erheiterung in seinen allzulangen Ewigkeiten. Die
Sphärenmusik um die Erde herum wäre dann wohl das
Spottgelächter aller übrigen Geschöpfe um den Menschen
herum. Mit dem Schmerz kitzelt jener gelangweilte
Unsterbliche sein Lieblingstier, um an den tragisch-stolzen
Gebärden und Auslegungen seiner Leiden, überhaupt
an der geistigen Erfindsamkeit des eitelsten Geschöpfes
seine Freude zu haben - als Erfinder dieses
Erfinders. Denn wer den Menschen zum Spaße ersann,
hatte mehr Geist als dieser, und auch mehr Freude am
Geist. - Selbst hier noch, wo sich unser Menschentum
einmal freiwillig demütigen will, spielt uns die Eitelkeit
einen Streich, indem wir Menschen wenigstens in
d i e s e r   E i t e l k e i t  etwas ganz Unvergleichliches und
Wunderhaftes sein möchten. Unsere Einzigkeit in der
Welt! ach, es ist eine gar zu unwahrscheinliche Sache! Die
Astronomen, denen mitunter wirklich ein erdentrückter
Gesichtskreis zuteil wird, geben zu verstehen, daß der
Tropfen L e b e n  in der Welt für den gesamten Charakter
des ungeheuren Ozeans von Werden und Vergehen
ohne Bedeutung ist: daß ungezählte Gestirne ähnliche Bedingungen
zur Erzeugung des Lebens haben wie die Erde,
sehr viele also, - freilich kaum eine Handvoll im Vergleich
zu den unendlich vielen, welche den lebenden Ausschlag
nie gehabt haben oder von ihm längst genesen sind:
daß das Leben auf jedem dieser Gestirne, gemessen an
der Zeitdauer seiner Existenz, ein Augenblick, - ein Aufflackern
gewesen ist, mit langen, langen Zeiträumen hinterdrein,
- also keineswegs das Ziel und die letzte Absicht
ihrer Existenz. Vielleicht bildet sich die Ameise im
Walde ebenso stark ein, daß sie Ziel und Absicht der
Existenz des Waldes ist, wie wir dies tun, wenn wir an
den Untergang der Menschheit in unserer Phantasie fast
unwillkürlich den Erduntergang anknüpfen: ja wir sind
noch bescheiden, wenn wir dabei stehnbleiben und zur
Leichenfeier des letzten Menschen nicht eine allgemeine
Welt- und Götterdämmerung veranstalten. Der unbefangenste
Astronom selber kann die Erde ohne Leben kaum
anders empfinden als wie den leuchtenden und schwebenden
Grabhügel der Menschheit.

15

B e s c h e i d e n h e i t   d e s   M e n s c h e n.  - Wie wenig
Lust genügt den meisten, um das Leben gut zu finden, wie
bescheiden ist der Mensch!

16

W o r i n   G l e i c h g ü l t i g k e i t   n o t   t u t.  - Nichts
wäre verkehrter, als abwarten wollen, was die Wissenschaft
über die ersten und letzten Dinge einmal endgültig
feststellen wird, und bis dahin auf die h e r k ö m m l i c h e 
Weise denken (und namentlich glauben!) - wie
dies so oft angeraten wird. Der Trieb, auf diesem Gebiete
durchaus n u r   S i c h e r h e i t e n  haben zu wollen, ist
ein r e l i g i ö s e r   N a c h t r i e b,  nichts Besseres, - eine
versteckte und nur scheinbar skeptische Art des "metaphysischen
Bedürfnisses", mit dem Hintergedanken verkuppelt,
daß noch lange Zeit keine Aussicht auf diese
letzten Sicherheiten vorhanden und bis dahin der "Gläubige"
im Recht ist, sich um das ganze Gebiet nicht zu
kümmern. Wir haben diese Sicherheiten um die alleräußersten
Horizonte gar nicht n ö t i g,  um ein volles und
tüchtiges Menschentum zu leben: ebensowenig als die
Ameise sie nötig hat, um eine gute Ameise zu sein.
Vielmehr müssen wir uns darüber ins Klare bringen, woher
eigentlich jene fatale Wichtigkeit kommt, die wir jenen
Dingen so lange beigelegt haben: und dazu brauchen wir
die H i s t o r i e  der ethischen und religiösen Empfindungen.
Denn nur unter dem Einfluß dieser Empfindungen
sind uns jene allerspitzesten Fragen der Erkenntnis so erheblich
und furchtbar geworden: man hat in die äußersten
Bereiche, w o h i n  noch das geistige Auge dringt, ohne i n 
 s i e  einzudringen, solche Begriffe wie Schuld und Strafe
(und zwar ewige Strafe!) hineinverschleppt: und dies um
so unvorsichtiger, je dunkler diese Bereiche waren. Man
hat seit alters mit Verwegenheit dort phantasiert, wo man
nichts feststellen konnte, und seine Nachkommen überredet,
diese Phantasien für Ernst und Wahrheit zu nehmen,
zuletzt mit dem abscheulichen Trumpfe: daß Glauben
mehr wert sei, als Wissen. Jetzt nun tut in Hinsicht
auf jene letzten Dinge nicht Wissen gegen Glauben not,
sondern G l e i c h g ü l t i g k e i t   g e g e n   G l a u b e n 
 u n d   a n g e b l i c h e s   W i s s e n  auf jenen Gebieten! -
A l l e s  andere muß uns näherstehen als das, was man
uns bisher als das Wichtigste vorgepredigt hat - ich meine
jene Fragen: wozu der Mensch? Welches Los hat er nach
dem Tode? Wie versöhnt er sich mit Gott? und wie diese
Kuriosa lauten mögen. Ebensowenig wie diese Fragen der
Religiösen gehen uns die Fragen der philosophischen Dogmatiker
an, mögen sie nun Idealisten oder Materialisten
oder Realisten sein. Sie allesamt sind darauf aus, uns zu
einer Entscheidung auf Gebieten zu drängen, wo weder
Glauben noch Wissen not tut; selbst für die größten Liebhaber
der Erkenntnis ist es nützlicher, wenn um alles Erforschbare
und der Vernunft Zugängliche ein umnebelter
trügerischer Sumpfgürtel sich legt, ein Streifen des
Undurchdringlichen, Ewig - Flüssigen und Unbestimmbaren.
Gerade durch die Vergleichung mit dem Reich des Dunkels
am Rande der Wissens-Erde s t e i g t  die helle und
nahe, nächste Welt des Wissens stets im Werte. - Wir
müssen wieder g u t e   N a c h b a r n   d e r   n ä c h s t e n 
 D i n g e  werden und nicht so verächtlich wie bisher über
sie hinweg nach Wolken und Nachtunholden hinblicken.
In Wäldern und Höhlen, in sumpfigen Strichen und unter
bedeckten Himmeln - da hat der Mensch, als auf den
Kulturstufen ganzer Jahrtausende, allzulange gelebt, und
dürftig gelebt. Dort hat er die Gegenwart und die Nachbarschaft
und das Leben und sich selbst v e r a c h t e n 
 g e l e r n t  - und wir, wir Bewohner der l i c h t e r e n 
Gefilde der Natur und des Geistes, bekommen jetzt noch,
durch Erbschaft, etwas von diesem Gift der Verachtung
gegen das Nächste in unser Blut mit.

17

T i e f e   E r k l ä r u n g e n.  - Wer die Stelle eines
Autors "tiefer erklärt", als sie gemeint war, hat den Autor
nicht erklärt, sondern v e r d u n k e l t.  So stehen unsre
Metaphysiker zum Texte der Natur; ja noch schlimmer.
Denn um ihre tiefen Erklärungen anzubringen, richten sie
sich häufig den Text erst daraufhin zu: das heißt, sie v e r d e r b e n 
ihn. Um ein kurioses Beispiel für Textverderbnis
und Verdunkelung des Autors zu geben, so mögen hier
Schopenhauers Gedanken über die Schwangerschaft der
Weiber stehen. Das Anzeichen des steten Daseins des
Willens zum Leben in der Zeit, sagt er, ist der Koitus;
das Anzeichen des diesem Willen aufs Neue zugesellten,
die Möglichkeit der Erlösung offenhaltenden Lichtes der
Erkenntnis, und zwar im höchsten Grade der Klarheit, ist
die erneuerte Menschwerdung des Willens zum Leben. Das
Zeichen dieser ist die Schwangerschaft, welche daher frank
und frei, ja stolz einhergeht, während der Koitus sich verkriecht
wie ein Verbrecher. Er behauptet, daß j e d e s 
 W e i b,  wenn beim Generationsakt überrascht, vor Scham
vergehn möchte, aber " i h r e   S c h w a n g e r s c h a f t, 
 o h n e   e i n e   S p u r   v o n   S c h a m,   j a   m i t   e i n e r   A r t 
 S t o l z,   z u r   S c h a u   t r ä g t. "  Vor allem läßt sich dieser
Zustand nicht so leicht m e h r  zur Schau tragen, als er
sich selber zur Schau trägt; indem Schopenhauer aber gerade
n u r  die Absichtlichkeit des Zur-Schau-Tragens hervorhebt,
bereitet er sich den Text vor, damit dieser zu
der bereitgehaltenen "Erklärung" passe. Sodann ist das,
was er über die Allgemeinheit des zu erklärenden Phänomens
sagt, nicht wahr: er spricht von "jedem Weibe";
viele, namentlich die jüngeren Frauen, zeigen aber in diesem
Zustande, selbst vor den nächsten Anverwandten, oft
eine peinliche Verschämtheit; und wenn Weiber reiferen
und reifsten Alters, zumal solche aus dem niederen Volke,
in der Tat sich auf jenen Zustand etwas zugute tun sollten,
so geben sie wohl damit zu verstehen, daß sie n o c h 
von ihren Männern begehrt werden. Daß bei ihrem Anblick
der Nachbar und die Nachbarin oder ein vorübergehender
Fremder sagt oder denkt: "sollte es möglich
sein -", dieses Almosen wird von der weiblichen Eitelkeit
bei geistigem Tiefstande immer noch gern angenommen.
Umgekehrt würden, wie aus Schopenhauers Sätzen zu folgern
wäre, gerade die klügsten und geistigsten Weiber am
meisten über ihren Zustand öffentlich frohlocken: sie haben
ja die meiste Aussicht, ein Wunderkind des Intellekts zu
gebären, in welchem "der Wille" sich zum allgemeinen
Besten wieder einmal "verneinen" kann; die dummen
Weiber hätten dagegen allen Grund, ihre Schwangerschaft
noch schamhafter zu verbergen als alles, was sie verbergen.
- Man kann nicht sagen, daß diese Dinge aus der
Wirklichkeit genommen sind. Gesetzt aber, Schopenhauer
hätte ganz im allgemeinen darin recht, daß die Weiber im
Zustande der Schwangerschaft eine Selbstgefälligkeit mehr
zeigen, als sie sonst zeigen, so läge doch eine Erklärung
näher zur Hand als die seinige. Man könnte sich ein Gakkern
der Henne auch vor dem Legen des Eies denken, des
Inhaltes: Seht! Seht! Ich werde ein Ei legen! Ich werde
ein Ei legen!

18

D e r   m o d e r n e   D i o g e n e s.  - Bevor man den
Menschen sucht, muß man die Laterne gefunden haben. -
Wird es die Laterne des Z y n i k e r s  sein müssen?

19

I m m o r a l i s t e n.  - Die Moralisten müssen es sich
jetzt gefallen lassen, Immoralisten gescholten zu werden,
weil sie die Moral sezieren. Wer aber sezieren will, muß
töten: jedoch nur, damit besser gewußt, besser geurteilt,
besser gelebt werde; nicht, damit alle Welt seziere. Leider
aber meinen die Menschen immer noch, daß jeder Moralist
auch durch sein gesamtes Handeln ein Musterbild sein
müsse, welches die anderen nachzuahmen hätten: sie verwechseln
ihn mit dem Prediger der Moral. Die älteren
Moralisten sezierten nicht genug und predigten allzuhäufig:
daher rührt jene Verwechslung und jene unangenehme
Folge für die jetzigen Moralisten.

20

N i c h t   z u   v e r w e c h s e l n.  - Die Moralisten,
welche die großartige, mächtige, aufopfernde Denkweise,
etwa bei den Helden Plutarchs, oder den reinen, erleuchteten,
wärmeleitenden Seelenzustand der eigentlich guten
Männer und Frauen als schwere Probleme der Erkenntnis
behandeln und der Herkunft derselben nachspüren, indem
sie das Komplizierte in der anscheinenden Einfachheit aufzeigen
und das Auge auf die Verflechtung der Motive,
auf die eingewobenen zarten Begriffs-Täuschungen und
die von alters her vererbten, langsam gesteigerten Einzel-
und Gruppen-Empfindungen richten, - diese Moralisten
sind am meisten gerade von denen v e r s c h i e d e n,  mit
denen sie doch am meisten v e r w e c h s e l t  werden: von
den kleinlichen Geistern, die an jene Denkweisen und
Seelenzustände überhaupt nicht glauben und ihre eigne
Armseligkeit hinter dem Glanze von Größe und Reinheit
versteckt wähnen. Die Moralisten sagen: "hier sind Probleme",
und die Erbärmlichen sagen: "hier sind Betrüger
und Betrügereien"; sie l e u g n e n  also die E x i s t e n z 
gerade dessen, was jene zu e r k l ä r e n  beflissen sind.

21

D e r   M e n s c h   a l s   d e r   M e s s e n d e.  - Vielleicht
hatte alle Moralität der Menschheit in der ungeheuren
inneren Aufregung ihren Ursprung, welche die Urmenschen
ergriff, als sie das Maß und das Messen, die Waage
und das Wägen entdeckten (das Wort "Mensch" bedeutet
ja den Messenden, er hat sich nach seiner größten Entdeckung
b e n e n n e n  wollen!). Mit diesen Vorstellungen
stiegen sie in Bereiche hinauf, die ganz unmeßbar und
unwägbar sind, aber es ursprünglich nicht zu sein schienen.

22

P r i n z i p   d e s   G l e i c h g e w i c h t s.  - Der Räuber
und der Mächtige, welcher einer Gemeinde verspricht, sie
gegen den Räuber zu schützen, sind wahrscheinlich im
Grunde ganz ähnliche Wesen, nur daß der zweite seinen
Vorteil anders als der erste erreicht: nämlich durch regelmäßige
Abgaben, welche die Gemeinde an ihn entrichtet,
und nicht mehr durch Brandschatzungen. (Es ist das nämliche
Verhältnis wie zwischen Handelsmann und Seeräuber,
welche lange Zeit ein und dieselbe Person sind:
wo ihr die eine Funktion nicht rätlich scheint, da übt
sie die andere aus. Eigentlich ist ja selbst jetzt noch alle
Kaufmanns-Moral nur die V e r k l ü g e r u n g  der
Seeräuber-Moral: so wohlfeil wie möglich kaufen -
womöglich für Nichts als die Unternehmungskosten -, so
teuer wie möglich verkaufen). Das Wesentliche ist:
jener Mächtige verspricht, gegen den Räuber G l e i c h g e w i c h t 
zu halten; darin sehen die Schwachen eine
Möglichkeit zu leben. Denn entweder müssen sie sich
selber zu einer g l e i c h w i e g e n d e n  Macht zusammentun
oder sich einem Gleichwiegenden unterwerfen (ihm
für seine Leistungen Dienste leisten). Dem letzteren Verfahren
wird gern der Vorzug gegeben, weil es im Grunde
z w e i  gefährliche Wesen in Schach hält: das erste durch
das zweite und das zweite durch den Gesichtspunkt des
Vorteils; letzteres hat nämlich seinen Gewinn davon,
die Unterworfenen gnädig oder leidlich zu behandeln, damit
sie nicht nur sich, sondern auch ihren Beherrscher
ernähren können. Tatsächlich kann es dabei immer noch
hart und grausam genug zugehen, aber verglichen mit
der früher immer möglichen völligen V e r n i c h t u n g 
atmen die Menschen schon in diesem Zustande auf. -
Die Gemeinde ist im Anfang die Organisation der Schwachen
zum G l e i c h g e w i c h t  mit gefahrdrohenden
Mächten. Eine Organisation zum Übergewicht wäre
rätlicher, wenn man dabei so stark würde, um die
Gegenmacht auf einmal zu v e r n i c h t e n:  und handelt es sich
um einen einzelnen mächtigen Schadentuer, so wird dies
gewiß v e r s u c h t.  Ist aber der eine ein Stammhaupt
oder hat er großen Anhang, so ist die schnelle entscheidende
Vernichtung unwahrscheinlich und die dauernde
lange F e h d e  zu gewärtigen: diese aber bringt der Gemeinde
den am wenigsten wünschbaren Zustand mit sich,
weil sie durch ihn die Zeit verliert, für ihren Lebensunterhalt
mit der nötigen Regelmäßigkeit zu sorgen, und
den Ertrag aller Arbeit jeden Augenblick bedroht sieht.
Deshalb zieht die Gemeinde vor, ihre Macht zu Verteidigung
und Angriff genau auf die Höhe zu bringen,
auf der die Macht des gefährlichen Nachbars ist, und
ihm zu verstehen zu geben, daß in ihrer Wagschale jetzt
gleich viel Erz liege: warum wolle man nicht gut Freund
miteinander sein? - G l e i c h g e w i c h t  ist also ein
sehr wichtiger Begriff für die älteste Rechts- und Morallehre;
Gleichgewicht ist die Basis der Gerechtigkeit. Wenn
diese in roheren Zeiten sagt: "Auge um Auge, Zahn um
Zahn", so setzt sie das erreichte Gleichgewicht voraus
und will es vermöge dieser Vergeltung e r h a l t e n:  so
daß, wenn jetzt der eine sich gegen den andern vergeht,
der andere keine Rache der blinden Erbitterung mehr
nimmt. Sondern vermöge des  wird das Gleichgewicht
der gestörten Machtverhältnisse w i e d e r h e r g e s t e l l t: 
denn ein Auge, ein Arm m e h r  ist in solchen
Urzuständen ein Stück Macht, ein Gewicht m e h r. 
- Innerhalb einer Gemeinde, in der alle sich als gleichgewichtig
betrachten, ist gegen Vergehungen, das heißt
gegen Durchbrechungen des Prinzips des Gleichgewichts,
S c h a n d e  und S t r a f e  da: Schande, ein Gewicht,
eingesetzt gegen den übergreifenden einzelnen, der durch
den Übergriff sich Vorteile verschafft hat, durch die
Schande nun wieder Nachteile erfährt, die den früheren
Vorteil aufheben und ü b e r w i e g e n.  Ebenso steht es
mit der Strafe: sie stellt gegen das Übergewicht, das sich
jeder Verbrecher zuspricht, ein viel größeres Gegengewicht
auf, gegen Gewalttat den Kerkerzwang, gegen Diebstahl
den Wiederersatz und die Strafsumme. So wird der
Frevler e r i n n e r t,  daß er mit seiner Handlung a u s 
der Gemeinde und deren Moral - V o r t e i l e n  ausschied:
sie behandelt ihn wie einen Ungleichen, Schwachen, außer
ihr Stehenden; deshalb ist Strafe nicht nur Wiedervergeltung,
sondern hat ein M e h r,  ein Etwas von der
H ä r t e   d e s   N a t u r z u s t a n d e s;  an d i e s e n  will
sie eben e r i n n e r n. 

23

O b   d i e   A n h ä n g e r   d e r   L e h r e   v o m   f r e i e n 
 W i l l e n   s t r a f e n   d ü r f e n ?  - Die Menschen, welche
von Berufswegen richten und strafen, suchen in jedem
Falle festzustellen, ob ein Übeltäter überhaupt für seine
Tat verantwortlich ist, ob er seine Vernunft anwenden
k o n n t e,  ob er aus Gründen handelte und nicht unbewußt
oder im Zwange. Straft man ihn, so straft man,
daß er die schlechteren Gründe den besseren vorzog:
welche er also g e k a n n t  haben muß. Wo diese Kenntnis
fehlt, ist der Mensch nach der herrschenden Ansicht
unfrei und nicht verantwortlich: es sei denn, daß seine
Unkenntnis, zum Beispiel seine, die Folge
einer absichtlichen Vernachlässigung des Erlernens ist; dann
hat er also schon damals, als er nicht lernen wollte was
er sollte, die schlechteren Gründe den besseren vorgezogen
und muß jetzt die Folge seiner schlechten Wahl büßen.
Wenn er dagegen die besseren Gründe nicht gesehen hat,
etwa aus Stumpf- und Blödsinn, so pflegt man nicht zu
strafen: es hat ihm, wie man sagt, die Wahl gefehlt, er
handelte als Tier. Die absichtliche Verleugnung der besseren
Vernunft ist jetzt die Voraussetzung, die man beim
strafwürdigen Verbrecher macht. Wie kann aber jemand
absichtlich unvernünftiger sein, als er sein muß? Woher
die Entscheidung, wenn die Wagschalen mit guten und
schlechten Motiven belastet sind? Also nicht vom Irrtum,
von der Blindheit her, nicht von einem äußeren, auch
von keinem inneren Zwange her? (Man erwäge übrigens,
daß jeder sogenannte "äußere Zwang" nichts weiter ist,
als der innere Zwang der Furcht und des Schmerzes.)
Woher? fragt man immer wieder. Die V e r n u n f t  soll
also nicht die Ursache sein, weil sie sich nicht gegen die
besseren Gründe entscheiden könnte? Hier nun ruft man
den "freien Willen" zur Hilfe: es soll das v o l l e n d e t e 
 B e l i e b e n  entscheiden, ein Moment eintreten, wo kein
Motiv wirkt, wo die Tat als W u n d e r  geschieht, aus
dem Nichts heraus. Man straft diese angebliche B e l i e b i g k e i t, 
in einem Falle, wo kein Belieben herrschen sollte:
die Vernunft, welche das Gesetz, das Verbot
und Gebot kennt, hätte gar keine Wahl lassen dürfen,
meint man, und als Zwang und höhere Macht wirken sollen.
Der Verbrecher wird also bestraft, weil er vom "freien
Willen" Gebrauch macht: das heißt, weil er ohne Grund
gehandelt hat, wo er nach Gründen hätte handeln sollen.
Aber w a r u m  tat er dies? Dies eben darf nicht einmal
mehr g e f r a g t  werden: es war eine Tat ohne "darum?"
ohne Motiv, ohne Herkunft, etwas Zweckloses und Vernunftloses.
- E i n e   s o l c h e   T a t   d ü r f t e   m a n 
 a b e r,  nach der ersten oben vorangeschickten Bedingung
aller Strafbarkeit, a u c h   n i c h t   s t r a f e n !  Auch jene
Art der Strafbarkeit darf nicht geltend gemacht werden,
als wenn hier etwas n i c h t  getan, etwas unterlassen, von
der Vernunft n i c h t  Gebrauch gemacht sei: denn unter
allen Umständen geschah die Unterlassung o h n e   A b s i c h t ! 
und nur die absichtliche Unterlassung des Gebotenen
gilt als strafbar. Der Verbrecher hat zwar die
schlechteren Gründe den besseren vorgezogen, aber o h n e 
Grund und Absicht: er hat zwar seine Vernunft nicht angewendet,
aber nicht, u m  sie nicht anzuwenden. Jene
Voraussetzung, die man beim strafwürdigen Verbrechen
macht, daß er seine Vernunft absichtlich verleugnet habe, -
gerade sie ist bei der Annahme des "freien Willens" aufgehoben.
Ihr d ü r f t  nicht strafen, ihr Anhänger der Lehre
vom "freien Willen", nach euern eigenen Grundsätzen
nicht! - Diese sind aber im Grunde nichts, als eine sehr
wunderliche Begriffs-Mythologie; und das Huhn, welches
sie ausgebrütet hat, hat abseits von aller Wirklichkeit auf
seinen Eiern gesessen.

24

Z u r   B e u r t e i l u n g   d e s   V e r b r e c h e r s   u n d 
 s e i n e s   R i c h t e r s.  - Der Verbrecher, der den ganzen
Fluß der Umstände kennt, findet seine Tat nicht so außer
der Ordnung und Begreiflichkeit, wie seine Richter und
Tadler: seine Strafe aber wird ihm gerade nach dem Grad
von E r s t a u n e n  zugemessen, welches jene beim Anblick
der Tat als einer Unbegreiflichkeit befällt. - Wenn
die Kenntnis, welche der Verteidiger eines Verbrechers
von dem Fall und seiner Vorgeschichte hat, weit genug
reicht, so m ü s s e n  die sogenannten Milderungsgründe,
welche er der Reihe nach vorbringt, endlich die ganze
Schuld hinwegmildern. Oder, noch deutlicher: der Verteidiger
wird schrittweise jenes verurteilende und strafzumessende
E r s t a u n e n   m i l d e r n  und zuletzt ganz
aufheben, indem er jeden ehrlichen Zuhörer zu dem inneren
Geständnis nötigt: "er mußte so handeln, wie er gehandelt
hat; wir würden, wenn wir straften, die ewige
Notwendigkeit bestrafen." - Den Grad der Strafe abmessen
nach dem G r a d  der K e n n t n i s,  welchen man von
der Historie eines Verbrechens hat o d e r   ü b e r h a u p t 
 g e w i n n e n   k a n n,  - streitet dies nicht wider alle Billigkeit?

25

D e r   T a u s c h   u n d   d i e   B i l l i g k e i t.  - Bei einem
Tausche würde es nur dann ehrlich und rechtlich zugehen,
wenn jeder der beiden so viel verlangte, als ihm seine
Sache wert scheint, die Mühe des Erlangens, die Seltenheit,
die aufgewendete Zeit usw. in Anschlag gebracht,
nebst dem Affektionswerte. Sobald er den Preis i n   H i n s i c h t 
 a u f   d a s   B e d ü r f n i s   d e s   a n d e r n  macht, ist
er ein feinerer Räuber und Erpresser. - Ist Geld das eine
Tauschobjekt, so ist zu erwägen, daß ein Frankentaler in
der Hand eines reichen Erben, eines Tagelöhners, eines
Kaufmannes, eines Studenten ganz verschiedene Dinge
sind: jeder wird, je nachdem er fast nichts oder viel tat,
ihn zu erwerben, wenig oder viel dafür empfangen dürfen
- so wäre es billig: in Wahrheit steht es bekanntlich
umgekehrt. In der großen Geldwelt ist der Taler des faulsten
Reichen gewinnbringender als der des Armen und Arbeitsamen.

26

R e c h t s z u s t ä n d e   a l s   M i t t e l.  - Recht, auf
Verträgen zwischen G l e i c h e n  beruhend, besteht, solange
die Macht derer, die sich vertragen haben, eben gleich
oder ähnlich ist; die Klugheit hat das Recht geschaffen,
um der Fehde und der n u t z l o s e n  Vergeudung zwischen
ähnlichen Gewalten ein Ende zu machen. Dieser
aber ist e b e n s o   e n d g ü l t i g  ein Ende gemacht, wenn
der eine Teil entschieden s c h w ä c h e r  als der andere
g e w o r d e n  ist: dann tritt Unterwerfung ein, und das
Recht h ö r t   a u f,  aber der Erfolg ist derselbe wie der,
welcher bisher durch das Recht erreicht wurde. Denn jetzt
ist es die K l u g h e i t  des Überwiegenden, welche die
Kraft des Unterworfenen zu s c h o n e n  und nicht nutzlos
zu vergeuden anrät: und oft ist die Lage des Unterworfenen
günstiger, als die des Gleichgestellten war.
- Rechtszustände sind also zeitweilige M i t t e l  welche
die Klugheit anrät, keine Ziele.

27

E r k l ä r u n g   d e r   S c h a d e n f r e u d e.  - Die
Schadenfreude entsteht daher, daß ein jeder in mancher ihm
wohl bewußten Hinsicht sich schlecht befindet, Sorge oder
Neid oder Schmerz hat: der Schaden, der den andern betrifft,
stellt diesen ihm gleich, er versöhnt seinen Neid. -
Befindet er gerade sich selber gut, so sammelt er doch
das Unglück des nächsten als ein Kapital in seinem
Bewußtsein auf, um es bei einbrechendem eigenen Unglück
gegen dasselbe einzusetzen: auch so hat er "Schadenfreude".
Die auf Gleichheit gerichtete Gesinnung wirft also
ihren Maßstab aus auf das Gebiet des Glücks und des Zufalls:
Schadenfreude ist der gemeinste Ausdruck über den
Sieg und die Wiederherstellung der Gleichheit, auch innerhalb
der höheren Weltordnung. Erst seitdem der Mensch
gelernt hat, in anderen Menschen seinesgleichen zu sehen,
also erst seit Begründung der Gesellschaft gibt es
Schadenfreude.

28

D a s   W i l l k ü r l i c h e   i m   Z u m e s s e n   d e r   S t r a f e n.  -
Die meisten Verbrecher kommen zu ihren Strafen
wie die Weiber zu ihren Kindern. Sie haben zehn-
und hundertmal dasselbe getan, ohne üble Folgen zu spüren:
plötzlich kommt eine Entdeckung und hinter ihr die
Strafe. Die Gewohnheit sollte doch die Schuld der Tat,
derentwegen der Verbrecher gestraft wird, entschuldbarer
erscheinen lassen: es ist ja ein Hang entstanden, dem
schwerer zu widerstehen ist. Anstatt dessen wird er,
wenn der Verdacht des gewohnheitsmäßigen Verbrechens
vorliegt, härter gestraft, die Gewohnheit wird als
Grund gegen alle Milderung geltend gemacht. Umgekehrt:
eine musterhafte Lebensweise, gegen welche das
Verbrechen um so fürcherlicher absticht, sollte die Schuldbarkeit
verschärft erscheinen lassen! Aber sie pflegt die
Strafe zu mildern. So wird alles nicht nach dem Verbrecher
bemessen, sondern nach der Gesellschaft und deren
Schaden und Gefahr: frühere Nützlichkeit eines Menschen
wird gegen seine einmalige Schädlichkeit eingerechnet,
frühere Schädlichkeit zur gegenwärtig entdeckten addiert,
und demnach die Strafe am höchsten zugemessen.
Wenn man aber dergestalt die Vergangenheit eines Menschen
mit straft oder mit belohnt (dies im ersten Fall, wo
das Weniger-Strafen ein Belohnen ist) so sollte man noch
weiter zurückgehn und die Ursache einer solchen oder solchen
Vergangenheit strafen und belohnen, ich meine Eltern,
Erzieher, die Gesellschaft usw.: in vielen Fällen wird man
dann die R i c h t e r  irgendwie bei der Schuld beteiligt
finden. Es ist willkürlich, beim Verbrecher stehen zu
bleiben, wenn man die Vergangenheit straft: man sollte,
falls man die absolute Entschuldbarkeit jeder Schuld nicht
zugeben will, bei jedem einzelnen Fall stehnbleiben und
nicht weiter zurückblicken: also die Schuld isolieren
und sie gar nicht mit der Vergangenheit in Verknüpfung
bringen, - sonst wird man zum Sünder gegen die Logik.
Zieht vielmehr, ihr Willens-Freien, den notwendigen
Schluß aus eurer Lehre von der "Freiheit des Willens" und
dekretiert kühnlich: " k e i n e   T a t   h a t   e i n e   V e r g a n g e n h e i t. " 

29

D e r   N e i d   u n d   s e i n   e d l e r e r   B r u d e r.  - Wo
die Gleichheit wirklich durchgedrungen und dauernd
begründet ist, entsteht jener, im ganzen als unmoralisch geltende
Hang, der im Naturzustande kaum begreiflich wäre:
der N e i d.  Der Neidische fühlt jedes Hervorragen des
anderen über das gemeinsame Maß und will ihn bis dahin
herabdrücken - oder sich bis dorthin erheben: woraus
sich zwei verschiedene Handlungsweisen ergeben, welche
Hesiod als die böse und die gute Eris bezeichnet hat.
Ebenso entsteht im Zustande der Gleichheit die Indignation
darüber, daß es einem anderen u n t e r  seiner Würde
und Gleichheit schlecht ergeht, einem zweiten ü b e r 
seiner Gleichheit gut: es sind dies Affekte e d l e r e r 
Naturen. Sie vermissen in den Dingen, welche von der Willkür
des Menschen unabhängig sind, Gerechtigkeit und Billigkeit,
das heißt: sie verlangen, daß jene Gleichheit, die
der Mensch anerkennt, nun auch von der Natur und dem
Zufall anerkannt werde; sie zürnen darüber, daß es den
Gleichen nicht gleich ergeht.

30

N e i d   d e r   G ö t t e r.  - Der "Neid der Götter" entsteht,
wenn der niedriger Geachtete sich irgend worin dem
Höheren gleichsetzt (wie Ajax) oder durch Gunst des
Schicksals ihm gleichgesetzt wird (wie Niobe als überreich
gesegnete Mutter). Innerhalb der g e s e l l s c h a f t l i c h e n 
Rangordnung stellt dieser Neid die Forderung
auf, daß ein jeder kein Verdienst ü b e r  seinem Stande
habe, auch daß sein Glück diesem gemäß sei und namentlich
daß sein Selbstbewußtsein jenen Schranken nicht entwachse.
Oft erfährt der siegreiche General den "Neid
der Götter", ebenso der Schüler, der ein meisterliches
Werk schuf.

31

E i t e l k e i t   a l s   N a c h t r i e b   d e s   u n g e s e l l s c h a f t l i c h e n   Z u s t a n d e s. 
- Da die Menschen
ihrer Sicherheit wegen sich selber als g l e i c h  gesetzt
haben, zur Gründung der Gemeinde, diese Auffassung,
aber im Grunde wider die Natur des einzelnen geht und
etwas Erzwungenes ist, so machen sich, je mehr die allgemeine
Sicherheit gewährleistet ist, neue Schößlinge des
alten Triebes nach Übergewicht geltend: in der Abgrenzung
der Stände, in dem Anspruch auf Berufs-Würden
und -Vorrechte, überhaupt in der Eitelkeit (Manieren,
Tracht, Sprache usw.). Sobald einmal die Gefahr des Gemeinwesens
wieder fühlbar wird, drücken die Zahlreicheren,
welche ihr Übergewicht nicht im Zustande der allgemeinen
Ruhe durchsetzen konnten, wieder den Zustand
der Gleichheit hervor: die absurden Sonderrechte und
Eitelkeiten verschwinden auf einige Zeit. Stürzt aber das
Gemeinwesen ganz zusammen, gerät alles in Anarchie, so
bricht sofort der Naturzustand, die unbekümmerte,
rücksichtslose Ungleichheit hervor, wie dies auf Korkyra
geschah, nach dem Berichte des Thukydides. Es gibt weder
ein Naturrecht, noch ein Naturunrecht.

32 

B i l l i g k e i t.  - Eine Fortbildung der Gerechtigkeit
ist die Billigkeit, entstehend unter solchen, welche nicht
gegen die Gemeinde-Gleichheit verstoßen: es wird auf
Fälle, wo das Gesetz nichts vorschreibt, jene feinere
Rücksicht des Gleichgewichts übertragen, welche vor- und
rückwärts blickt und deren Maxime ist "wie du mir, so ich
dir".  heißt eben "es ist g e m ä ß   u n s e r e r 
 G l e i c h h e i t;  diese mildert auch unsere kleinen
Verschiedenheiten zu einem Anschein von Gleichheit herab
und will, daß wir manches uns nachsehen, w a s   w i r 
 n i c h t   m ü ß t e n ". 

33

E l e m e n t e   d e r   R a c h e.  - Das Wort "Rache"
ist so schnell gesprochen: fast scheint es, als ob es gar
nicht mehr enthalten könne, als eine Begriffs- und Empfindungs-Wurzel.
Und so bemüht man sich immer noch
dieselbe zu finden: wie unsere Nationalökonomen noch
nicht müde geworden sind, im Worte "Wert" eine solche
Einheit zu wittern und nach dem ursprünglichen Wurzelbegriff
des Wertes zu suchen. Als ob nicht alle Worte
Taschen wären, in welche bald dies, bald jenes, bald
mehreres auf einmal gesteckt worden ist! So ist auch
"Rache" bald dies, bald jenes, bald etwas mehr Zusammengesetztes.
Man unterscheide einmal jenen abwehrenden
Zurückschlag, den man fast unwillkürlich auch gegen
leblose Gegenstände, die uns beschädigt haben (wie gegen
bewegte Maschinen), ausführt: der Sinn unserer Gegenbewegung
ist, dem Beschädigten Einhalt zu tun dadurch,
daß wir die Maschine zum Stillstand bringen. Die
Stärke des Gegenschlags muß mitunter, um dies zu erreichen,
so stark sein, daß er die Maschine zertrümmert;
wenn dieselbe aber zu stark ist, um vom einzelnen sofort
zerstört werden zu können, wird dieser doch immer
noch den heftigsten Schlag ausführen, dessen er fähig ist,
- gleichsam als einen letzten Versuch. So benimmt man
sich auch gegen schädigende Personen bei der unmittelbaren
Empfindung des Schadens selber; will man diesen
Akt einen Rache-Akt nennen, so mag es sein; nur erwäge
man, daß hier allein die S e l b s t - E r h a l t u n g 
ihr Vernunft-Räderwerk in Bewegung gesetzt hat, und
daß man im Grunde nicht an den Schädiger, sondern nur
an sich dabei denkt: wir handeln so, o h n e  wieder schaden
zu wollen, sondern nur um noch mit Leib und Leben
d a v o n z u k o m m e n.  - Man braucht Z e i t,  wenn
man von sich mit seinen Gedanken zum Gegner übergeht
und sich fragt, auf welche Weise er am empfindlichsten
zu treffen ist. Dies geschieht bei der zweiten Art von
Rache: ein Nachdenken über die Verwundbarkeit und
Leidensfähigkeit des andern ist ihre Voraussetzung: man
will wehetun. Dagegen sich selber gegen weiteren Schaden
sichern, liegt hier so wenig im Gesichtskreis des
Rache-Nehmenden, daß er fast regelmäßig den weiteren
eigenen Schaden zuwege bringt und ihm sehr oft kaltblütig
vorher entgegensieht. War es bei der ersten Art
von Rache die Angst vor dem zweiten Schlage, welche
den Gegenschlag so stark wie möglich machte: so ist hier
fast völlige Gleichgültigkeit gegen das, was der Gegner
tun wird; die Stärke des Gegenschlags wird nur durch
das, was er uns getan h a t,  bestimmt. Was hat er denn
getan? Und was nützt es uns, wenn er nun leidet, nachdem
wir durch ihn gelitten haben? Es handelt sich um
eine W i e d e r h e r s t e l l u n g:  während der Rache-Akt
erster Art nur der S e l b s t - E r h a l t u n g  dient. Vielleicht
verloren wir durch den Gegner Besitz, Rang,
Freunde, Kinder - diese Verluste werden durch die Rache
nicht zurückgekauft, die Wiederherstellung bezieht sich
allein auf einen N e b e n v e r l u s t  bei allen den erwähnten
Verlusten. Die Rache der Wiederherstellung bewahrt
nicht vor weiterem Schaden, sie macht den erlittenen Schaden
nicht wieder gut, - außer in einem Falle. Wenn
unsere E h r e  durch den Gegner gelitten hat, so vermag
die Rache sie w i e d e r h e r z u s t e l l e n.  Sie hat aber
in jedem Falle einen Schaden erlitten, wenn man uns absichtlich
ein Leid zufügte: denn der Gegner bewies damit,
daß er uns nicht f ü r c h t e t e.  Durch die Rache beweisen
wir, daß wir auch ihn nicht fürchten: darin liegt die
Ausgleichung, die Wiederherstellung. (Die Absicht, den
völligen Mangel an F u r c h t  zu zeigen, geht bei einigen
Personen so weit, daß ihnen die Gefährlichkeit der Rache
für sie selbst - Einbuße der Gesundheit oder des Lebens
oder sonstige Verluste - als eine unerläßliche Bedingung
jeder Rache gilt. Deshalb gehen sie den Weg des Duells,
obschon die Gerichte ihnen den Arm bieten, um auch so
Genugtuung für die Beleidigung zu erhalten: sie nehmen
aber die gefahrlose Wiederherstellung ihrer Ehre nicht
als genügend an, weil sie ihren Mangel an Furcht nicht
beweisen kann.) - Bei der ersterwähnten Art der Rache
ist es gerade die Furcht, die den Gegenschlag ausführt:
hier dagegen ist es die Abwesenheit der Furcht, welche,
wie gesagt, durch den Gegenschlag sich b e w e i s e n   w i l l. 
- Nichts scheint also verschiedener als die innere Motivierung
der beiden Handlungsweisen, die mit einem Wort
"Rache" benannt werden: und trotzdem kommt es sehr
häufig vor, daß der Rache-Übende in Unklarheit ist, was
ihn eigentlich zur Tat bestimmt hat; vielleicht, daß er
aus Furcht und um sich zu erhalten den Gegenschlag führte,
hinterher aber, als er Zeit hatte, über den Gesichtspunkt
der verletzten Ehre nachzudenken, selber sich einredet,
seiner Ehre halber sich gerächt zu haben: - dieses Motiv
ist ja jedenfalls v o r n e h m e r  als das andere! Dabei
ist noch wesentlich, ob er seine Ehre in den Augen der
anderen (der Welt) beschädigt sieht oder nur in den
Augen des Beleidigers: im letzteren Falle wird er die
geheime Rache vorziehen, im ersteren aber die öffentliche.
Je nachdem er sich stark oder schwach in die Seele des
Täters und der Zuschauer hineindenkt, wird seine Rache
erbitterter oder zahmer sein; fehlt ihm diese Art Phantasie
ganz, so wird er gar nicht an Rache denken, denn
das Gefühl der "Ehre" ist dann bei ihm nicht vorhanden,
also auch nicht zu verletzen. Ebenso wird er nicht
an Rache denken, wenn er den Täter und die Zuschauer
der Tat v e r a c h t e t:  weil sie ihm keine Ehre geben
können, als Verachtete, und demnach auch keine Ehre
nehmen können. Endlich wird er auf Rache in dem nicht
ungewöhnlichen Falle verzichten, daß er den Täter liebt:
freilich büßt er so in dessen Augen an Ehre ein und wird
vielleicht der Gegenliebe dadurch weniger würdig. Aber
auch auf alle Gegenliebe Verzicht leisten ist ein Opfer,
welches die Liebe zu bringen bereit ist, wenn sie dem
geliebten Wesen nur nicht w e h e t u n   m u ß:  dies hieße
sich selber mehr wehetun, als jenes Opfer wehetut. -
Also: jedermann wird sich rächen, er sei denn ehrlos oder
voll Verachtung oder voll Liebe gegen den Schädiger und
Beleidiger. Auch wenn er sich an die Gerichte wendet, so
will er die Rache als private Person: n e b e n b e i  aber
noch, als weiterdenkender, vorsorglicher Mensch der
Gesellschaft, die Rache der Gesellschaft an einem, der sie
nicht e h r t.  So wird durch die gerichtliche Strafe sowohl
die Privatehre als auch die Gesellschaftsehre w i e d e r h e r g e s t e l l t: 
das heißt - Strafe ist Rache. - Es
gibt in ihr unzweifelhaft auch noch jenes andere zuerst
beschriebene Element der Rache, insofern durch sie die
Gesellschaft ihrer S e l b s t - E r h a l t u n g  dient und der
N o t w e h r  halber einen Gegenschlag führt. Die Strafe
will das w e i t e r e  Schädigen verhüten, sie will a b s c h r e c k e n. 
Auf diese Weise sind wirklich in der Strafe
beide so verschiedene Elemente der Rache v e r k n ü p f t, 
und dies mag vielleicht am meisten dahin wirken, jene erwähnte
Begriffsverwirrung zu unterhalten, vermöge deren
der einzelne, der sich rächt, gewöhnlich nicht weiß, was er
eigentlich will.

34

Die Tugenden der Einbuße. - Als Mitglieder
von Gesellschaften glauben wir gewisse Tugenden
nicht ausüben zu dürfen, die uns als Privaten die größte
Ehre und einiges Vergnügen machen, zum Beispiel Gnade
und Nachsicht gegen Verfehlende aller Art - überhaupt
jede Handlungsweise, bei welcher der Vorteil der Gesellschaft
durch unsere Tugend leiden würde. Kein Richter-Kollegium
darf sich vor seinem Gewissen erlauben,
gnädig zu sein dem König a l s   e i n e m  einzelnen hat
man dies Vorrecht aufbehalten; man freut sich, wenn er
Gebrauch davon macht, zum Beweise, daß man gern gnädig
sein möchte, aber durchaus nicht als Gesellschaft. Diese
erkennt somit nur die ihr vorteilhaften oder mindestens
unschädlichen Tugenden an (die ohne Einbuße oder gar
mit Zinsen geübt werden, zum Beispiel Gerechtigkeit).
Jene Tugenden der Einbuße können demnach i n   d e r 
 G e s e l l s c h a f t  nicht entstanden sein, da noch jetzt,
innerhalb jeder kleinsten sich bildenden Gesellschaft der
Widerspruch gegen sie sich erhebt. Es sind also Tugenden
unter Nicht-Gleichgestellten, erfunden von dem Überlegenen,
einzelnen, es sind H e r r s c h e r -Tugenden, mit
dem Hintergedanken: "ich bin mächtig genug, um mir
eine ersichtliche Einbuße gefallen zu lassen, dies ist ein
Beweis meiner Macht" - also mit S t o l z  verwandte Tugenden.

35

K a s u i s t i k   d e s   V o r t e i l s.  - Es gäbe keine
Kasuistik der Moral, wenn es keine Kasuistik des Vorteils
gäbe. Der freieste und feinste Verstand reicht oft nicht
aus, zwischen zwei Dingen so zu wählen, daß der größere
Vorteil notwendig bei seiner Wahl ist. In solchen Fällen
wählt man, weil man wählen muß, und hat hinterdrein
eine Art Seekrankheit der Empfindung.

36

Z u m   H e u c h l e r   w e r d e n.  - Jeder Bettler wird
zum Heuchler; wie jeder, der aus einem Mangel, aus einem
Notstand (sei dies ein persönlicher oder ein öffentlicher)
seinen Beruf macht. - Der Bettler empfindet den Mangel
lange nicht so, als er ihn empfinden m a c h e n  muß,
wenn er vom Betteln leben will.

37

E i n e   A r t   K u l t u s   d e r   L e i d e n s c h a f t e n.  -
Ihr Düsterlinge und philosophischen Blindschleichen redet,
um den Charakter des ganzen Weltwesens anzuklagen,
von dem f u r c h t b a r e n   C h a r a k t e r  der menschlichen
Leidenschaften. Als ob überall, wo es Leidenschaft
gegeben hat, es auch Furchtbarkeit gegeben hätte! Als
ob es immerfort in der Welt diese Art von Furchtbarkeit
geben müßte! - Durch eine Vernachlässigung im
k l e i n e n,  durch Mangel an Selbst-Beobachtung und Beobachtung
derer, welche erzogen werden sollen, habt ihr
selber erst die Leidenschaften zu solchen Untieren anwachsen
lassen, daß euch jetzt schon beim Worte "Leidenschaft"
Furcht befällt! Es stand bei euch und steht bei
uns, den Leidenschaften ihren furchtbaren Charakter zu
n e h m e n  und dermaßen vorzubeugen, daß sie nicht zu
verheerenden Wildwassern werden. - Man soll seine Versehen
nicht zu ewigen Fatalitäten aufblasen; vielmehr
wollen wir redlich mit an der Aufgabe arbeiten, die
Leidenschaften der Menschheit allesamt in Freudenschaften
umzuwandeln.

38

G e w i s s e n s b i ß.  - Der Gewissensbiß ist, wie der
Biß des Hundes gegen einen Stein, eine Dummheit.

39

U r s p r u n g   d e r   R e c h t e.  - Die Rechte gehen zunächst
auf H e r k o m m e n  zurück, das Herkommen auf
ein einmaliges A b k o m m e n.  Man war irgendwann einmal
beiderseitig mit den Folgen des getroffenen Abkommens
zufrieden und wiederum zu träge, um es förmlich
zu erneuern; so lebte man fort, wie wenn es immer
erneuert worden wäre, und allmählich, als die Vergessenheit
ihre Nebel über den Ursprung breitete, glaubte man
einen heiligen, unverrückbaren Zustand zu haben, auf
dem jedes Geschlecht weiterbauen m ü s s e.  Das Herkommen
war jetzt Z w a n g,  auch wenn es den Nutzen nicht
mehr brachte, dessentwegen man ursprünglich das Abkommen
gemacht hatte. - Die S c h w a c h e n  haben hier
ihre feste Burg zu allen Zeiten gefunden: sie neigen dahin,
das einmalige Abkommen, die Gnadenerweisung zu
v e r e w i g e n. 

40

D i e   B e d e u t u n g   d e s   V e r g e s s e n s   i n   d e r 
 m o r a l i s c h e n   E m p f i n d u n g.  - Dieselben Handlungen,
welche innerhalb der ursprünglichen Gesellschaft zuerst
die Absicht auf gemeinsamen N u t z e n  eingab, sind
später von anderen Generationen auf andere Motive hin
getan worden: aus Furcht oder Ehrfurcht vor denen, die
sie forderten und anempfahlen, oder aus Gewohnheit, weil
man sie von Kindheit an um sich hatte tun sehen, oder
aus Wohlwollen, weil ihre Ausübung überall Freude und
zustimmende Gesichter schuf, oder aus Eitelkeit, weil sie
gelobt wurden. Solche Handlungen, an denen das Grundmotiv,
das der Nützlichkeit, v e r g e s s e n  worden ist,
heißen dann m o r a l i s c h e:  nicht etwa weil sie aus jenen
a n d e r e n  Motiven, sondern weil sie n i c h t  aus
bewußter Nützlichkeit getan werden. - Woher dieser H a ß 
gegen den Nutzen, der h i e r  sichtbar wird, wo sich alles
lobenswerte Handeln gegen das Handeln um des Nutzens
willen förmlich abschließt? - Offenbar hat die Gesellschaft,
der Herd aller Moral und aller Lobsprüche des
moralischen Handelns, allzu lange und allzu hart mit
dem Eigen-Nutzen und Eigen-Sinne des einzelnen zu
kämpfen gehabt, um nicht zuletzt j e d e s   a n d e r e  Motiv
sittlich höher zu taxieren als den Nutzen. So entsteht
der Anschein, als ob die Moral n i c h t  aus dem Nutzen
herausgewachsen sei; während sie ursprünglich der
Gesellschafts-Nutzen ist, der große Mühe hatte, sich gegen alle
die Privat-Nützlichkeiten durchzusetzen und in höheres
Ansehen zu bringen.

41

D i e   E r b r e i c h e n   d e r   M o r a l i t ä t.  - Es gibt
auch im Moralischen einen E r b -Reichtum: ihn besitzen
die Sanften, Gutmütigen, Mitleidigen, Mildtätigen, welche
alle die gute H a n d l u n g s w e i s e,  aber nicht die Vernunft
(die Quelle derselben) von ihren Vorfahren her mitbekommen
haben. Das Angenehme an diesem Reichtum
ist, daß man von ihm fortwährend darreichen und mitteilen
muß, wenn er überhaupt empfunden werden soll,
und daß er so unwillkürlich daran arbeitet, die Abstände
zwischen moralisch-reich und -arm geringer zu machen:
und zwar, was das merkwürdigste und beste ist, n i c h t 
zugunsten eines dereinstigen Mittelmaßes zwischen arm
und reich, sondern zugunsten eines a l l g e m e i n e n 
Reich- und Überreich-werdens. - So wie hier geschehen
ist, läßt sich etwa die herrschende Ansicht über den
moralischen Erbreichtum zusammenfassen: aber es scheint mir,
daß dieselbe mehr  der Moralität,
als zu Ehren der Wahrheit aufrechterhalten wird. Die
Erfahrung mindestens stellt einen Satz auf, welcher, wenn
nicht als Widerlegung, jedenfalls als bedeutende
Einschränkung jener Allgemeinheit zu gelten hat. Ohne den
erlesensten Verstand, so sagt die Erfahrung, ohne die
Fähigkeit der feinsten Wahl und einen s t a r k e n   H a n g 
 z u m   M a ß h a l t e n  werden die Moralisch-Erbreichen zu
V e r s c h w e n d e r n  der Moralität: indem sie haltlos
sich ihren mitleidigen, mildtätigen, versöhnenden,
beschwichtigenden Trieben überlassen, machen sie alle Welt
um sich nachlässiger, begehrlicher und sentimentaler. Die
Kinder solcher höchst moralischen Verschwender sind daher
leicht und, wie leider zu sagen ist, bestenfalls -
angenehme schwächliche Taugenichtse.

42

D e r   R i c h t e r   u n d   d i e   M i l d e r u n g s g r ü n d e. 
- "Man soll auch gegen den Teufel honett sein und seine
Schulden bezahlen", sagte ein alter Soldat, als man ihm
die Geschichte Faustens etwas genauer erzählt hatte, "Faust
gehört in die Hölle!" - "O ihr schrecklichen Männer!"
rief seine Gattin aus, "wie ist das nur möglich! Er hat ja
nichts getan, als keine Tinte im Tintenfaß gehabt! Mit
Blut schreiben ist freilich eine Sünde, aber deshalb soll ein
so schöner Mann doch nicht brennen?"

43

P r o b l e m   d e r   P f l i c h t   z u r   W a h r h e i t.  -
Pflicht ist ein zwingendes, zur Tat drängendes Gefühl, das
wir gut nennen und für undiskutierbar halten (- über
Ursprung, Grenze und Berechtigung desselben wollen wir
nicht reden und nicht geredet haben). Der Denker hält
aber alles für geworden und alles Gewordene für diskutierbar,
ist also der Mann ohne Pflicht, - solange er
eben nur Denker ist. Als solcher würde er also auch die
Pflicht, die Wahrheit zu sehen und zu sagen, nicht anerkennen
und dies Gefühl nicht fühlen, er fragt: woher
kommt sie? wohin will sie? aber dies Fragen selber wird
von ihm als fragwürdig angesehen. Hätte dies aber nicht
zur Folge, daß die Maschine des Denkers nicht mehr
recht arbeitet, wenn er sich beim Akte des Erkennens wirklich
u n v e r p f l i c h t e t   f ü h l e n  könnte? Insofern
scheint hier zur H e i z u n g  dasselbe Element nötig zu
sein, das vermittelst der Maschine untersucht werden soll.
- Die Formel würde vielleicht sein: a n g e n o m m e n 
es gäbe eine Pflicht, die Wahrheit zu erkennen, wie lautet
die Wahrheit dann in bezug auf jede andere Art von
Pflicht? - Aber ist ein hypothetisches Pflichtgefühl nicht
ein Widersinn?

44

S t u f e n   d e r   M o r a l.  - Moral ist zunächst ein Mittel,
die Gemeinde überhaupt zu erhalten und den Untergang
von ihr abzuwehren; sodann ist sie ein Mittel, die
Gemeinde auf einer gewissen Höhe und in einer gewissen
Güte zu erhalten. Ihre Motive sind F u r c h t  und H o f f n u n g: 
und zwar um so derbere, mächtigere, gröbere, als
der Hang zum Verkehrten, Einseitigen, Persönlichen noch
sehr stark ist. Die entsetzlichsten Angstmittel müssen hier
Dienste tun, solange noch keine milderen wirken wollen
und jene doppelte Art der Erhaltung sich nicht anders
erreichen läßt (zu ihren allerstärksten gehört die Erfindung
eines Jenseits mit einer ewigen Hölle). Weitere Stufen
der Moral und also Mittel zum bezeichneten Zwecke
sind die Befehle eines Gottes (wie das mosaische Gesetz);
noch weitere und höhere die Befehle eines absoluten Pflichtbegriffs
mit dem "du sollst", - alles noch ziemlich grob
zugehauene, aber b r e i t e  Stufen, weil die Menschen auf
die feineren, schmäleren ihren Fuß noch nicht zu setzen
wissen. Dann kommt eine Moral der N e i g u n g,  des
G e s c h m a c k s,  endlich die der E i n s i c h t  - welche
über alle illusionären Motive der Moral hinaus ist, aber
sich klar gemacht hat, wie die Menschheit lange Zeiten
hindurch keine anderen haben durfte.

45

M o r a l   d e s   M i t l e i d e n s   i m   M u n d e   d e r   U n m ä ß i g e n. 
- Alle die, welche sich selber nicht genug in
der Gewalt haben und die Moralität nicht als fortwährende
im großen und kleinsten geübte Selbstbeherrschung und
Selbstüberwindung kennen, werden unwillkürlich zu
Verherrlichern der guten, mitleidigen, wohlwollenden Regungen,
jener instinktiven Moralität, welche keinen Kopf hat,
sondern nur aus Herz und hilfreichen Händen zu bestehen
scheint. Ja es ist in ihrem Interesse, eine Moralität der
Vernunft zu verdächtigen und jene andere zur alleinigen
zu machen.

46

K l o a k e n   d e r   S e e l e.  - Auch die Seele muß ihre
bestimmten Kloaken haben, wohin sie ihren Unrat abfließen
läßt: dazu dienen Personen, Verhältnisse, Stände
oder das Vaterland oder die Welt oder endlich - für die
ganz Hoffärtigen (ich meine unsere lieben modernen
"Pessimisten") - der liebe Gott.

47

E i n e   A r t   v o n   R u h e   u n d   B e s c h a u l i c h k e i t. 
- Hüte dich, daß deine Ruhe und Beschaulichkeit nicht der
des Hundes vor einem Fleischerladen gleicht, den die Furcht
nicht vorwärts und die Begierde nicht rückwärts gehen
läßt: und der die Augen aufsperrt, als ob sie Münder wären.

48

D a s   V e r b o t   o h n e   G r ü n d e.  - Ein Verbot, dessen
Gründe wir nicht verstehen oder zugeben, ist nicht
nur für den Trotzkopf, sondern auch für den Erkenntnisdurstigen
fast ein Geheiß: man läßt es auf den Versuch
ankommen, um so zu erfahren, w e s h a l b  das Verbot
gegeben ist. Moralische Verbote, wie die des Dekalogs,
passen nur für Zeitalter der unterworfenen Vernunft:
jetzt würde ein Verbot "du sollst nicht töten", "du sollst
nicht ehebrechen", ohne Gründe hingestellt, eher eine
schädliche als eine nützliche Wirkung haben.

49

C h a r a k t e r b i l d.  - Was ist das für ein Mensch,
der von sich sagen kann: "ich verachte sehr leicht, aber
hasse nie. An jedem Menschen finde ich sofort etwas heraus,
das zu ehren ist und dessentwegen ich ihn ehre; die
sogenannten liebenswürdigen Eigenschaften ziehen mich
wenig an".

50

M i t l e i d e n   u n d   V e r a c h t u n g.  - Mitleiden
äußern wird als ein Zeichen der Verachtung empfunden,
weil man ersichtlich aufgehört hat, ein Gegenstand der
F u r c h t  zu sein, sobald einem Mitleiden erwiesen wird.
Man ist unter das Niveau des Gleichgewichts hinabgesunken,
während schon jenes der menschlichen Eitelkeit
nicht genugtut, sondern erst das Hervorragen und Furchteinflößen
der Seele das erwünschteste aller Gefühle gibt.
Deshalb ist es ein Problem, wie die S c h ä t z u n g  des
Mitleids aufgekommen ist, ebenso wie erklärt werden
muß, warum jetzt der Uneigennützige g e l o b t  wird:
ursprünglich wird er v e r a c h t e t  oder als tückisch
g e f ü r c h t e t. 

51

K l e i n   s e i n   k ö n n e n.  - Man muß den Blumen,
Gräsern und Schmetterlingen auch noch so nah sein wie
ein Kind, das nicht viel über sie hinweg reicht. Wir Älteren
dagegen sind über sie hinausgewachsen und müssen
uns zu ihnen herablassen; ich meine, die Gräser h a s s e n 
uns, wenn wir unsere Liebe für sie bekennen. - Wer an
allem Guten teilhaben will, muß auch zu Stunden klein
zu sein verstehen.

52

I n h a l t   d e s   G e w i s s e n s.  - Der Inhalt unseres
Gewissens ist alles, was in den Jahren der Kindheit von
uns ohne Grund regelmäßig g e f o r d e r t  wurde durch
Personen, die wir verehrten oder fürchteten. Vom Gewissen
aus wird also jenes Gefühl des Müssens erregt
("dieses muß ich tun, dieses lassen"), welches nicht fragt:
w a r u m  muß ich? - In allen Fällen, wo eine Sache mit
"weil" und "warum" getan wird, handelt der Mensch
o h n e  Gewissen; deshalb aber noch nicht wider dasselbe.
- Der Glaube an Autoritäten ist die Quelle des Gewissens:
es ist also nicht die Stimme Gottes in der Brust des
Menschen, sondern die Stimme einiger Menschen im Menschen.

53

Ü b e r w i n d u n g   d e r   L e i d e n s c h a f t e n.  - Der
Mensch, der seine Leidenschaften überwunden hat, ist in
den Besitz des fruchtbarsten Erdreiches getreten: wie der
Kolonist, der über die Wälder und Sümpfe Herr geworden
ist. Auf dem Boden der bezwungenen Leidenschaften den
Samen der guten geistigen Werke s ä e n,  ist dann die
dringende nächste Aufgabe. Die Überwindung selber ist nur ein
M i t t e l,  kein Ziel; wenn sie nicht so angesehen wird, so
wächst schnell allerlei Unkraut und Teufelszeug auf dem
leer gewordenen fetten Boden auf, und bald geht es auf
ihm voller und toller zu als je vorher.

54

G e s c h i c k   z u m   D i e n e n.  - Alle sogenannten
praktischen Menschen haben ein Geschick zum Dienen:
das eben macht sie praktisch, sei es für andere oder für
sich selber. Robinson besaß noch einen besseren Diener,
als Freitag war: das war Crusoe.

55

G e f a h r   d e r   S p r a c h e   f ü r   d i e   g e i s t i g e 
 F r e i h e i t.  - Jedes Wort ist ein Vorurteil.

56

G e i s t   u n d   L a n g e w e i l e.  - Das Sprichwort:
"Der Magyar ist viel zu faul, um sich zu langweilen"
gibt zu denken. Die feinsten und tätigsten Tiere erst sind
der Langeweile fähig. - Ein Vorwurf für einen großen
Dichter wäre die L a n g e w e i l e   G o t t e s  am siebenten
Tage der Schöpfung.

57

I m   V e r k e h r   m i t   d e n   T i e r e n.  - Man kann
das Entstehen der Moral in unserem Verhalten gegen die
Tiere noch beobachten. Wo nutzen und Schaden n i c h t 
in Betracht kommen, haben wir ein Gefühl der völligen
Unverantwortlichkeit; wir töten und verwunden zum
Beispiel Insekten oder lassen sie leben und denken für
gewöhnlich gar nichts dabei. Wir sind so plump, daß schon
unsere Artigkeiten gegen Blumen und kleine Tiere fast
immer mörderisch sind: was unser Vergüngen an ihnen
gar nicht beeinträchtigt. - Es ist heute das Fest der kleinen
Tiere, der schwülste Tage des Jahres: es wimmelt
und krabbelt um uns, und wir zerdrücken, ohne es zu
wollen, a b e r   a u c h  ohne acht zu geben, bald hier, bald
dort ein Würmchen und gefiedertes Käferchen. - Bringen
die Tiere uns Schaden, so erstreben wir auf jede Weise
ihre V e r n i c h t u n g,  die Mittel sind oft grausam genug,
ohne daß wir dies eigentlich wollen: es ist die Grausamkeit
der Gedankenlosigkeit. Nützen sie, so b e u t e n  wir
sie a u s:  bis eine feinere Klugheit uns lehrt, daß gewisse
Tiere für eine andere Behandlung, nämlich für die der
Pflege und Zucht, reichlich lohnen. Da erst entsteht
Verantwortlichkeit. Gegen das Haustier wird die Quälerei
gemieden; der eine Mensch empört sich, wenn ein anderer
unbarmherzig gegen seine Kuh ist, ganz in Gemäßheit der
primitiven Gemeinde-Moral, welche den g e m e i n s a m e n 
Nutzen in Gefahr sieht, so oft ein einzelner sich
vergeht. Wer in der Gemeinde ein Vergehen wahrnimmt,
fürchtet den indirekten Schaden für sich: und wir fürchten
für die Güte des Fleisches, des Landbaues und der
Verkehrsmittel, wenn wir die Haustiere nicht gut behandelt
sehen. Zudem erweckt der, welcher roh gegen Tiere ist,
den Argwohn, auch roh gegen schwache, ungleiche, der
Rache unfähige Menschen zu sein; er gilt als unedel, des
feineren Stolzes ermangelnd. So entsteht ein Ansatz von
moralischem Urteilen und Empfinden: das beste tut nun
der Aberglaube hinzu. Manche Tiere reizen durch Blicke,
Töne und Gebärden den Menschen an, sich in sie
h i n e i n z u d i c h t e n,  und manche Religionen lehren im
Tiere unter Umständen den Wohnsitz von Menschen- und
Götterseelen sehen: weshalb sie überhaupt edlere Vorsicht,
ja ehrfürchtige Scheu im Umgange mit den Tieren
anempfehlen. Auch nach dem Verschwinden dieses Aberglaubens
wirken die von ihm erweckten Empfindungen
fort und reifen und blühen aus. - Das Christentum hat
sich bekanntlich in diesem Punkte als arme und zurückbildende
Religion bewährt.

58

N e u e   S c h a u s p i e l e r.  - Es gibt unter den Menschen
keine größere Banalität als den Tod; zu zweit im
Range steht die Geburt, weil nicht alle geboren werden,
welche doch sterben; dann folgt die Heirat. Aber diese
kleinen abgespielten Tragikomödien werden bei jeder
ihrer ungezählten und unzählbaren Aufführungen immer
wieder von neuen Schauspielern dargestellt und hören
deshalb nicht auf, interessierte Zuschauer zu haben: während
man glauben sollte, daß die gesamte Zuschauerschaft
des Erdentheaters sich längst aus Überdruß daran an allen
Bäumen aufgehängt hätte. Soviel liegt an neuen
Schauspielern, sowenig am Stück.

59

W a s   i s t   " o b s t i n a t " ?  - Der kürzeste Weg ist
nicht der möglichst gerade, sondern der, bei welchem die
günstigsten Winde unsere Segel schwellen: so sagt die
Lehre der Schiffahrer. Ihr nicht zu folgen, das heißt obstinat
sein: die Festigkeit des Charakters ist da durch
Dummheit verunreinigt.

60

D a s   W o r t   " E i t e l k e i t ".  - Es ist lästig, daß einzelne
Worte, deren wir Moralisten schlechterdings nicht
entraten können, schon eine Art Sittenzensur in sich tragen
aus jenen Zeiten her, in denen die nächsten und natürlichsten
Regungen des Menschen verketzert wurden. So
wird jene Grundüberzeugung, daß wir auf den Wellen
der Gesellschaft viel mehr durch das, was wir g e l t e n, 
als durch das, was wir s i n d,  gutes Fahrwasser haben
oder Schiffbruch leiden - eine Überzeugung, die für alles
Handeln in bezug auf die Gesellschaft das Steuerruder
sein muß - mit dem allgemeinsten Worte "Eitelkeit",
"" gebrandmarkt: eines der vollsten und inhaltreichsten
Dinge mit einem Ausdruck, welcher dasselbe als
das eigentlich Leere und Nichtige bezeichnet, etwas Großes
mit einem Diminutivum, ja mit den Federstrichen der
Karikatur. Es hilft nichts, wir müssen solche Worte gebrauchen,
aber dabei unser Ohr den Einflüsterungen alter
Gewohnheit verschließen.

61

T ü r k e n f a t a l i s m u s.  - Der Türkenfatalismus
hat den Grundfehler, daß er den Menschen und das Fatum
als zwei geschiedene Dinge einander gegenüberstellt: der
Mensch, sagt er, könne dem Fatum widerstreben, es zu
vereiteln suchen, aber schließlich behalte es immer den
Sieg, weshalb das vernünftigste sei, zu resignieren oder
nach Belieben zu leben. In Wahrheit ist jeder Mensch
selber ein Stück Fatum; wenn er in der angegebenen Weise
dem Fatum zu widerstreben meint, so vollzieht sich eben
darin auch das Fatum; der Kampf ist eine Einbildung,
aber ebenso jene Resignation in das Fatum; alle diese
Einbildungen sind im Fatum eingeschlossen. - Die Angst,
welche die meisten vor der Lehre der Unfreiheit des Willens
haben, ist die Angst vor dem Türkenfatalismus: sie
meinen, der Mensch werde schwächlich resigniert und mit
gefalteten Händen vor der Zukunft stehen, weil er an ihr
nichts zu ändern vermöge: oder aber, er werde seiner
vollen Launenhaftigkeit die Zügel schießen lassen, weil
auch durch diese das einmal Bestimmte nicht schlimmer
werden könne. Die Torheiten des Menschen sind ebenso
ein Stück Fatum wie seine Klugheiten: auch jene Angst
vor dem Glauben an das Fatum ist Fatum. Du selber,
armer Ängstlicher, bist die unbezwingliche, welche
noch über den Göttern thront, für alles, was da kommt;
du bist Segen oder Fluch und jedenfalls die Fessel, in
welcher der Stärkste gebunden liegt; in dir ist alle Zukunft
der Menschen-Welt vorherbestimmt, es hilft dir
nichts, wenn dir vor dir selber graut.

62

A d v o k a t   d e s   T e u f e l s.  - "Nur durch eigenen
Schaden wird man k l u g,  nur durch fremden Schaden
wird man g u t "  so lautet jene seltsame Philosophie,
welche alle Moralität aus dem Mitleiden und alle Intellektualität
aus der Isolation des Menschen ableitet: damit ist
sie unbewußt die Sachwalterin aller irdischen Schadhaftigkeit.
Denn das Mitleiden hat das Leiden nötig und die
Isolation die Verachtung der anderen.

63

D i e   m o r a l i s c h e n   C h a r a k t e r m a s k e n.  -
In den Zeiten, da die Charaktermasken der Stände für endgültig
fest, gleich den Ständen selber gelten, werden die
Moralisten verführt sein, auch die m o r a l i s c h e n 
Charaktermasken für absolut zu halten und sie so zu zeichnen.
So ist Molière als Zeitgenosse der Gesellschaft Ludwigs XIV.
verständlich; in unserer Gesellschaft der Übergänge und
Mittelstufen würde er als ein genialer Pedant erscheinen.

64

D i e   v o r n e h m s t e   T u g e n d.  - In der ersten Ära
des höheren Menschentums gilt die Tapferkeit als die vornehmste
der Tugenden, in der zweiten die Gerechtigkeit,
in der dritten die Mäßigung, in der vierten die Weisheit.
In welcher Ära leben w i r ?  In welcher lebst d u ? 

65

W a s   v o r h e r   n ö t i g   i s t.  - Ein Mensch, der über
seinen Jähzorn, seine Gall- und Rachsucht, seine Wollust
nicht Meister werden will und es versucht, irgendworin
sonst Meister zu werden, ist so dumm wie der Ackermann,
der neben einem Wildbach seine Äcker anlegt, ohne sich
gegen ihn zu schützen.

66

W a s   i s t   W a h r h e i t ?   -   S c h w a r z e r t  (Melanchthon): 
"Man predigt oft seinen Glauben, wenn man
ihn gerade verloren hat und auf allen Gassen sucht, -
und man predigt ihn dann nicht am schlechtesten!" - 
L u t h e r:  Du redest heut' wahr wie ein Engel, Bruder! 
S c h w a r z e r t:  "Aber es ist der Gedanke deiner Feinde,
und sie machen auf dich die Nutzanwendung." - 
L u t h e r:  So wär's eine Lüge aus des Teufels Hinterm.

67

G e w o h n h e i t   d e r   G e g e n s ä t z e.  - Die allgemeine
ungenaue Beobachtung sieht in der Natur überall
Gegensätze (wie z. B. "warm und kalt"), wo keine Gegensätze,
sondern nur Gradverschiedenheiten sind. Diese
schlechte Gewohnheit hat uns verleitet, nun auch noch die
innere Natur, die geistig-sittliche Welt, nach solchen Gegensätzen
verstehen und zerlegen zu wollen. Unsäglich viel
Schmerzhaftigkeit, Anmaßung, Härte, Entfremdung, Erkältung
ist so in die menschliche Empfindung hineingekommen
dadurch, daß man Gegensätze an Stelle der
Übergänge zu sehen meinte.

68

O b   m a n   v e r g e b e n   k ö n n e ? - - W i e   k a n n  man
ihnen überhaupt vergeben, wenn sie nicht wissen, was sie
tun! Man h a t  gar nichts zu vergeben. --Aber w e i ß 
ein Mensch jemals v ö l l i g,  was er tut? Und wenn dies
immer mindestens f r a g l i c h  bleibt, so haben also die
Menschen einander nie etwas zu vergeben, und Gnadeüben
ist für den Vernünftigsten ein unmögliches Ding.
Zu allerletzt: w e n n  die Übeltäter wirklich gewußt hätten,
was sie taten - so würden wir doch nur dann ein
Recht zur V e r g e b u n g  haben, wenn wir ein Recht zur
Beschuldigung und zur Strafe hätten. Dies aber haben
wir nicht.

69

H a b i t u e l l e   S c h a m.  - Warum empfinden wir
Scham, wenn uns etwas Gutes und Auszeichnendes erwiesen
wird, das wir, wie man sagt, "nicht verdient haben"?
Es scheint uns dabei, daß wir uns in ein Gebiet eingedrängt
haben, wo wir nicht hingehören, wo wir ausgeschlossen
sein sollten, gleichsam in ein Heiliges oder
Allerheiligstes, welches für unsern Fuß unbetretbar ist.
Durch den Irrtum anderer sind wir doch hineingelangt:
und nun überwältigt uns teils Furcht, teils Ehrfurcht, teils
Überraschung, wir wissen nicht, ob wir fliehen, ob wir des
gesegneten Augenblickes und seiner Gnaden-Vorteile genießen
sollen. Bei aller Scham ist ein Mysterium, welches
durch uns entweiht oder in der Gefahr der Entweihung
zu sein scheint; alle G n a d e  erzeugt Scham. - Erwägt
man aber, daß wir überhaupt niemals etwas "verdient
haben", so wird, im Fall man dieser Ansicht innerhalb
einer c h r i s t l i c h e n  Gesamt-Betrachtung der Dinge sich
hingibt, das Gefühl der S c h a m   h a b i t u e l l:  weil
einem Solchen Gott f o r t w ä h r e n d  zu segnen und
Gnade zu üben scheint. Abgesehen von dieser christlichen
Auslegung wäre aber auch für den völlig gottlosen Weisen,
der an der gründlichen Unverantwortlichkeit und
Unverdienstlichkeit alles Wirkens und Wesens festhält, jener
Zustand der h a b i t u e l l e n   S c h a m  möglich: wenn
man ihn behandelt, a l s   o b  er dies und jenes verdient
habe, so scheint er sich in eine höhere Ordnung von Wesen
eingedrängt zu haben, welche überhaupt etwas v e r d i e n e n, 
welche frei sind und ihres eigenen Wollens und
Könnens Verantwortung wirklich zu tragen vermögen.
Wer zu ihm sagt "du hast es verdient", scheint ihm zuzurufen
"du bist kein Mensch, sondern ein Gott".

70

D e r   u n g e s c h i c k t e s t e   E r z i e h e r.  - Bei diesem
sind auf dem Boden seines Widerspruchsgeistes alle
seine wirklichen Tugenden angepflanzt, bei jenem auf
seiner Unfähigkeit, nein zu sagen, also auf seinem
Zustimmungsgeiste; ein dritter hat alle seine Moralität aus
seinem einsamen Stolze, ein vierter die seine aus seinem
starken Geselligkeitstriebe aufwachsen lassen. Gesetzt nun,
durch ungeschickte Erzieher und Zufälle wären bei diesen
vieren die Samenkörner der Tugenden nicht auf den
Boden ihrer Natur ausgesäet worden, welcher bei ihnen
die meiste und fetteste Erdkrume hat: so wären sie ohne
Moralität und schwache unerfreuliche Menschen. Und wer
würde gerade der ungeschickteste aller Erzieher und das
böse Verhängnis dieser vier Menschen gewesen sein? Der
moralische Fanatiker, welcher meint, daß das Gute nur
aus dem Guten, auf dem Guten wachsen könne.

71

S c h r e i b a r t   d e r   V o r s i c h t.  - 
A: Aber, wenn
a l l e  dies wüßten, so würde es den m e i s t e n  schädlich
sein! Du selber nennst diese Meinungen gefährlich für
die Gefährdeten, und doch teilst du sie öffentlich mit? 
B: Ich schreibe so, daß weder der Pöbel, noch die,
noch die Parteien aller Art mich lesen mögen. Folglich
werden diese Meinungen nie öffentliche sein.
A.: Aber wie schreibst du denn? 
B.: Weder nützlich noch angenehm - für die genannten drei.

72

G ö t t l i c h e   M i s s i o n ä r e.  - Auch Sokrates fühlt
sich als göttlicher Missionär: aber ich weiß nicht, was für
ein Anflug von attischer Ironie und Lust am Spaßen auch
selbst hierbei noch zu spüren ist, wodurch jener fatale
und anmaßende Begriff gemildert wird. Er redet ohne
Salbung davon: seine Bilder, von der Bremse und dem
Pferd, sind schlicht und unpriesterlich, und die eigentlich
religiöse Aufgabe, wie er sie sich gestellt fühlt, den Gott
auf hunderterlei Weise a u f   d i e   P r o b e   z u   s t e l l e n, 
 o b  er die Wahrheit geredet habe, läßt auf eine kühne
und freimütige Gebärde schließen, mit der hier der Missionär
seinem Gotte an die Seite tritt. Jenes Auf-die-Probe-Stellen
des Gottes ist einer der feinsten Kompromisse
zwischen Frömmigkeit und Freiheit des Geistes,
welche je erdacht worden sind. - Jetzt haben wir auch
diesen Kompromiß nicht mehr nötig.

73

E h r l i c h e s   M a l e r t u m.  - Raffael, dem viel an
der Kirche (sofern sie zahlungsfähig war), aber wenig,
gleich den Besten seiner Zeit, an den Gegenständen des
kirchlichen Glaubens gelegen war, ist der anspruchsvollen
ekstatischen Frömmigkeit mancher seiner Besteller nicht
einen Schritt weit nachgegangen: er hat seine Ehrlichkeit
bewahrt, selbst in jenem Ausnahme-Bild, das ursprünglich
für eine Prozessions-Fahne bestimmt war, in der Sixtinischen
Madonna. Hier wollte er einmal eine Vision
malen: aber eine solche, wie sie edle junge Männer ohne
"Glauben" auch haben dürfen und haben werden, die
Vision der zukünftigen Gattin, eines klugen, seelisch-vornehmen,
schweigsamen und sehr schönen Weibes, das
ihren Erstgeborenen im Arme trägt. Mögen die Alten,
die an das Beten und Anbeten gewöhnt sind, hier, gleich
dem ehrwürdigen Greise zur Linken, etwas Übermenschliches
verehren: wir Jüngeren wollen es, so scheint Raffael
uns zuzurufen, mit dem schönen Mädchen zur Rechten
halten, welche mit ihrem auffordernden, durchaus
nicht devoten Blicke den Betrachtern des Bildes sagt:
"Nicht wahr? Diese Mutter und ihr Kind - das ist ein
angenehmer einladender Anblick?" Dies Gesicht und dieser
Blick strahlt von der Freude in den Gesichtern der
Betrachter wieder; der Künstler, der dies alles erfand,
genießt sich auf diese Weise selber und gibt seine eigene
Freude zur Freude der Kunst-Empfangenden hinzu. -
In betreff des "heilandhaften" Ausdrucks im Kopfe eines
Kindes hat Raffael, der Ehrliche, der keinen Seelenzustand
malen wollte, an dessen Existenz er nicht glaubte,
seine g l ä u b i g e n  Betrachter auf eine artige Weise überlistet;
er malte jenes Naturspiel, das nicht selten vorkommt,
das Männerauge im Kindskopfe, und zwar das
Auge des wackeren, hilfereichen Mannes, der einen Notstand
sieht. Zu diesem Auge gehört ein Bart; daß dieser
fehlt und daß zwei verschiedene Lebensalter hier aus
e i n e m  Gesichte sprechen, dies ist die angenehme Paradoxie,
welche die Gläubigen sich im Sinne ihres Wunderglaubens
gedeutet haben: so wie es der Künstler von
ihrer Kunst des Deutens und Hineinlegens auch erwarten
durfte.

74

D a s   G e b e t.  - Nur unter zwei Voraussetzungen
hatte alles Beten - jene noch nicht völlig erloschene Sitte
älterer Zeiten - einen Sinn: es müßte möglich sein, die
Gottheit zu bestimmen oder umzustimmen, und der Betende
müßte selber am besten wissen, was ihm not tue,
was für ihn wahrhaft wünschenswert sei. Beide Voraussetzungen,
in allen anderen Religionen angenommen und
hergebracht, wurden aber gerade vom Christentum geleugnet;
wenn es trotzdem das Gebet beibehielt, bei seinem
Glauben an eine allweise und allvorsorgliche Vernunft in
Gott, durch welche eben dies Gebet im Grunde sinnlos,
ja gotteslästerlich wird, - so zeigte es auch darin wieder
seine bewunderungswürdige Schlangen-Klugheit; denn ein
klares Gebot "du sollst nicht beten" hätte die Christen
durch die L a n g e w e i l e  zum Unchristentum geführt. Im
christlichen  vertritt nämlich das  die
Stelle des V e r g n ü g e n s:  und was hätten ohne das
 jene Unglücklichen beginnen sollen, die sich das labora
versagten, die Heiligen! - aber mit Gott sich unterhalten,
ihm allerlei angenehme Dinge abverlangen, sich selber
ein wenig darüber lustig machen, wie man so töricht
sein könne, noch Wünsche zu haben, trotz einem so vortrefflichen
Vater, - das war für Heilige eine sehr gute Erfindung.

75

E i n e   h e i l i g e   L ü g e.  - Die Lüge, mit der auf den
Lippen Arria starb, verdunkelt alle
Wahrheiten, die je von Sterbenden gesprochen wurden.
Es ist die einzige heilige L ü g e,  die berühmt geworden
ist; während der Geruch der Heiligkeit sonst nur an
I r r t ü m e r n  haften blieb.

76

D e r   n ö t i g s t e   A p o s t e l.  - Unter zwölf Aposteln
muß immer einer hart wie Stein sein, damit auf ihm die
neue Kirche gebaut werden könne.

77

W a s   i s t   d a s   V e r g ä n g l i c h e r e,   d e r   G e i s t 
 o d e r   d e r   K ö r p e r ?  - In den rechtlichen, moralischen
und religiösen Dingen hat das Äußerlichste, das Anschauliche,
also der Brauch, die Gebärde, die Zeremonie,
am meisten D a u e r:  sie ist der L e i b,  zu dem immer
eine n e u e   S e e l e  hinzukommt. Der Kultus wird wie
ein fester Wort-Text immer neu ausgedeutet; die Begriffe
und Empfindungen sind das Flüssige, die Sitten das Harte.

78

D e r   G l a u b e   a n   d i e   K r a n k h e i t,   a l s   K r a n k h e i t.  -
Erst das Christentum hat den Teufel an die
Wand der Welt gemalt; erst das Christentum hat die
Sünde in die Welt gebracht. Der Glaube an die Heilmittel,
welche es dagegen anbot, ist nun allmählich bis in die
tiefsten Wurzeln hinein erschüttert: aber immer noch besteht
der G l a u b e   a n   d i e   K r a n k h e i t,  welchen es
gelehrt und verbreitet hat.

79

R e d e   u n d   S c h r i f t   d e r   R e l i g i ö s e n.  - Wenn
der Stil und Gesamtausdruck des Priesters, des redenden
und schreibenden, nicht schon den r e l i g i ö s e n  Menschen
ankündigt, so braucht man seine Meinungen über
Religion und zugunsten derselben nicht mehr ernst zu
nehmen. Sie sind für ihren Besitzer selber k r a f t l o s  gewesen,
wenn er, wie sein Stil verrät, Ironie, Anmaßung,
Bosheit, Haß und alle Wirbel und Wechsel der Stimmungen
besitzt, ganz wie der unreligiöseste Mensch; - um
wieviel kraftloser werden sie erst für seine Hörer und
Leser sein! Kurz, er wird dienen, dieselben unreligiöser zu
machen.

80

G e f a h r   i n   d e r   P e r s o n.  - Je mehr Gott als
Person für sich galt, um so weniger ist man ihm treu gewesen.
Die Menschen sind ihren Gedankenbildern viel
anhänglicher als ihren geliebtesten Geliebten: deshalb
opfern sie sich für den Staat, die Kirche und auch für
Gott - sofern er eben i h r  Erzeugnis, i h r   G e d a n k e 
bleibt und nicht gar zu persönlich genommen wird. Im
letzteren Falle hadern sie fast immer mit ihm: selbst
dem Frömmsten entfuhr ja die bittere Rede "mein Gott,
warum hast du mich verlassen!"

81

D i e   w e l t l i c h e   G e r e c h t i g k e i t.  - Es ist möglich,
die weltliche Gerechtigkeit aus den Angeln zu heben
- mit der Lehre von der völligen Unverantwortlichkeit
und Unschuld jedermanns: und es ist schon ein Versuch
in gleicher Richtung gemacht worden, gerade auf Grund
der entgegengesetzten Lehre von der völligen Verantwortlichkeit
und Verschuldung jedermanns. Der Stifter des
Christentums war es, der die weltliche Gerechtigkeit aufheben
und das Richten und Strafen aus der Welt schaffen
wollte. Denn er verstand alle Schuld als "Sünde", das
heißt als Frevel an G o t t  und n i c h t  als Frevel an der
Welt; andererseits hielt er jedermann im größten Maßstabe
und fast in jeder Hinsicht für einen Sünder. Die
Schuldigen sollen aber nicht die Richter ihresgleichen sein:
so urteilte seine Billigkeit. Alle Richter der weltlichen
Gerechtigkeit waren also in seinen Augen so schuldig wie
die von ihnen Verurteilten, und ihre Miene der Schuldlosigkeit
schien ihm heuchlerisch und pharisäerhaft. Überdies
sah er auf die Motive der Handlungen und nicht auf
den Erfolg, und hielt für die Beurteilung der Motive nur
einen einzigen für scharfsichtig genug: sich selber (oder
wie er sich ausdrückte: Gott).

82

E i n e   A f f e k t a t i o n   b e i m   A b s c h i e d e.  - Wer
sich von einer Partei oder Religion trennen will, meint, es
sei nun für ihn nötig, sie zu widerlegen. Aber dies ist sehr
hochmütig gedacht. Nötig ist nur, daß er klar einsieht,
welche Klammern ihn bisher an diese Partei oder Religion
anhielten und daß sie es nicht mehr tun, was für Absichten
ihn dahin getrieben haben und daß sie jetzt anderswohin
treiben. Wir sind n i c h t  aus s t r e n g e n 
 E r k e n n t n i s g r ü n d e n  auf die Seite jener Partei oder
Religion getreten: wir sollen dies, wenn wir von ihr scheiden,
auch nicht a f f e k t i e r e n. 

83

H e i l a n d   u n d   A r z t.  - Der Stifter des Christentums
war, wie es sich von selber versteht, als Kenner der
menschlichen Seele nicht ohne die größten Mängel und
Voreingenommenheiten und als Arzt der Seele dem so anrüchigen
und laienhaften Glauben an eine Universalmedizin
ergeben. Er gleicht in seiner Methode mitunter jenem
Zahnarzte, der jeden Schmerz durch Ausreißen des Zahnes
heilen will; so zum Beispiel, indem er gegen die Sinnlichkeit
mit dem Ratschlage ankämpft: "Wenn dich dein
Auge ärgert, so reiße es aus." - Aber es bleibt doch noch
der Unterschied, daß jener Zahnarzt wenigstens sein Ziel
erreicht, die Schmerzlosigkeit des Patienten; freilich auf so
plumpe Art, daß er lächerlich wird: während der Christ,
der jenem Ratschlage folgt und seine Sinnlichkeit ertötet
zu haben glaubt, sich täuscht: sie lebt auf eine unheimliche,
vampyrische Art fort und quält ihn in widerlichen Vermummungen.

84

D i e   G e f a n g e n e n.  - Eines Morgens traten die Gefangenen
in den Arbeitshof: der Wärter fehlte. Die einen
von ihnen gingen, wie es ihre Art war, sofort an die
Arbeit, andere standen müßig und blickten trotzig umher.
Da trat einer vor und sagte laut: "Arbeitet so viel ihr
wollt oder tut nichts: es ist alles gleich. Eure geheimen
Anschläge sind ans Licht gekommen, der Gefängniswärter
hat euch neulich belauscht und will in den nächsten Tagen
ein fürchterliches Gericht über euch ergehen lassen. Ihr
kennt ihn, er ist hart und nachträgerischen Sinnes. Nun
aber merkt auf: ihr habt mich bisher verkannt: ich bin
nicht, was ich scheine, sondern viel mehr: ich bin der
Sohn des Gefängniswärters und gelte alles bei ihm. Ich
kann euch retten, ich will euch retten; aber, wohlgemerkt,
nur diejenigen von euch, welche mir g l a u b e n,  daß ich
der Sohn des Gefängniswärters bin; die übrigen mögen
die Früchte ihres Unglaubens ernten." "Nun", sagte nach
einigem Schweigen ein älterer Gefangener, "was kann
dir daran gelegen sein, ob wir es dir glauben oder nicht
glauben? Bist du wirklich der Sohn und vermagst du
das, was du sagst, so lege ein gutes Wort für uns alle
ein: es wäre wirklich recht gutmütig von dir. Das Gerede
von Glauben und Unglauben aber laß beiseite!" "Und",
rief ein jüngerer Mann dazwischen, "ich glaub' es ihm
auch nicht: er hat sich nur etwas in den Kopf gesetzt. Ich
wette, in acht Tagen befinden wir uns gerade noch so
hier wie heute, und der Gefängniswärter weiß n i c h t s. " 
"Und wenn er etwas gewußt hat, so weiß er's nicht mehr",
sagte der letzte der Gefangenen, der jetzt erst in den Hof
hinabkam, "der Gefängniswärter ist eben plötzlich gestorben." -
"Holla", schrien mehrere durcheinander,
"holla! Herr Sohn, Herr Sohn, wie steht es mit der Erbschaft?
Sind wir vielleicht jetzt d e i n e  Gefangenen?" -
"Ich habe es euch gesagt", entgegnete der Angeredete
mild, "ich werde jeden freilassen, der an mich glaubt, so
gewiß als mein Vater noch lebt." - Die Gefangenen
lachten nicht, zuckten aber mit den Achseln und ließen
ihn stehen.

85

D e r   V e r f o l g e r   G o t t e s.  - Paulus hat den Gedanken
ausgedacht, Calvin ihn nachgedacht, daß Unzähligen
seit Ewigkeiten die Verdammnis zuerkannt ist und
daß dieser schöne Weltenplan so eingerichtet wurde, damit
die Herrlichkeit Gottes sich daran offenbare: Himmel und
Hölle und Menschheit sollen also da sein, - um die Eitelkeit
Gottes zu befriedigen! Welche grausame und unersättliche
Eitelkeit muß in der Seele dessen geflackert haben, der
so etwas sich zuerst oder zu zweit ausdachte! - Paulus ist
also doch Saulus geblieben - d e r   V e r f o l g e r   G o t t e s. 

86

S o k r a t e s.  - Wenn alles gut geht, wird die Zeit
kommen, da man, um sich sittlich-vernünftig zu fördern,
lieber die Memorabilien des Sokrates in die Hand nimmt
als die Bibel, und wo Montaigne und Horaz als Vorläufer
und Wegweiser zum Verständnis des einfachsten
und unvergänglichsten Mittler-Weisen, des Sokrates, benutzt
werden. Zu ihm führen die Straßen der verschiedensten
philosophischen Lebensweisen zurück, welche im
Grunde die Lebensweisen der verschiedenen Temperamente
sind, festgestellt durch Vernunft und Gewohnheit und
allesamt mit ihrer Spitze hin nach der Freude am Leben
und am eignen Selbst gerichtet; woraus man schließen
möchte, daß das Eigentümlichste an Sokrates ein Anteilhaben
an allen Temperamenten gewesen ist. - Vor dem
Stifter des Christentums hat Sokrates die fröhliche Art
des Ernstes und jene W e i s h e i t   v o l l e r   S c h e l m e n s t r e i c h e 
voraus, welche den besten Seelenzustand des
Menschen ausmacht. Überdies hatte er den größeren Verstand.

87

G u t   s c h r e i b e n   l e r n e n.  - Die Zeit des Gutredens
ist vorbei, weil die Zeit der Stadt-Kulturen vorbei
ist. Die letzte Grenze, welche Aristoteles der großen Stadt
erlaubte - es müsse der Herold noch imstande sein, sich
der ganzen versammelten Gemeinde vernehmbar zu
machen -, diese Grenze kümmert uns so wenig, als uns
überhaupt noch Stadtgemeinden kümmern, uns, die wir
selbst über die Völker hinweg verstanden werden wollen.
Deshalb muß jetzt ein jeder, der gut europäisch gesinnt
ist, g u t   u n d   i m m e r   b e s s e r   s c h r e i b e n  lernen: es
hilft nichts, und wenn er selbst in Deutschland geboren
ist, wo man das Schlecht-schreiben als nationales Vorrecht
behandelt. Besser schreiben aber heißt zugleich auch besser
denken; immer Mitteilenswerteres erfinden und es wirklich
mitteilen können; übersetzbar werden für die Sprachen
der Nachbarn; zugänglich sich dem Verständnisse jener
Ausländer machen, welche unsere Sprache lernen; dahin
wirken, daß alles Gute Gemeingut werde und den Freien
alles frei stehe; endlich, jenen jetzt noch so fernen Zustand
der Dinge v o r b e r e i t e n,  wo den guten Europäern
ihre große Aufgabe in die Hände fällt: die Leitung
und Überwachung der gesamten Erdkultur. - Wer das
Gegenteil predigt, sich nicht um das Gutschreiben und
Gutlesen zu kümmern - beide Tugenden wachsen miteinander
und nehmen miteinander ab -, der zeigt in der
Tat den Völkern einen Weg, wie sie immer noch mehr
n a t i o n a l  werden können: er vermehrt die Krankheit
dieses Jahrhunderts und ist ein Feind der guten Europäer,
ein Feind der freien Geister.

88

D i e   L e h r e   v o m   b e s t e n   S t i l e.  - Die Lehre
vom Stil kann einmal die Lehre sein, den Ausdruck zu
finden, vermöge dessen man jede Stimmung auf den Leser
und Hörer überträgt; sodann die Lehre, den Ausdruck für
die w ü n s c h e n s w e r t e s t e  Stimmung eines Menschen
zu finden, deren Mitteilung und Übertragung also auch
am meisten zu wünschen ist: für die Stimmung des von
Herzensgrund bewegten, geistig freudigen, hellen und
aufrichtigen Menschen, der die Leidenschaften überwunden
hat. Dies wird die Lehre vom besten Stile sein: er
entspricht dem guten Menschen.

89

A u f   d e n   G a n g   a c h t   g e b e n.  - Der Gang der
Sätze zeigt, ob der Autor ermüdet ist; der einzelne
Ausdruck kann dessenungeachtet immer noch stark und gut
sein, weil er für sich und früher gefunden wurde: damals
als der Gedanke dem Autor zuerst aufleuchtete. So ist es
häufig bei Goethe, der zu oft diktierte, wenn er müde war.

90

S c h o n   u n d   n o c h.  - 
A: Die deutsche Prosa ist noch sehr jung: Goethe meint, daß Wieland
ihr Vater sei. 
B: So jung und schon so häßlich! 
C: Aber - soviel mir bekannt, schrieb schon der Bischof Ulfilas
deutsche Prosa; sie ist also gegen 1500 Jahre alt. 
B: So alt und noch so häßlich!

91

O r i g i n a l - d e u t s c h.  - Die deutsche Prosa, welche
in der Tat nicht nach einem Muster gebildet ist und wohl
als originales Erzeugnis des deutschen Geschmacks zu gelten
hat, dürfte den eifrigen Anwälten einer zukünftigen,
originalen, deutschen Kultur einen Fingerzeig geben, wie
etwa, ohne Nachahmung von Mustern, eine wirklich
deutsche Tracht, eine deutsche Geselligkeit, eine deutsche
Zimmereinrichtung, ein deutsches Mittagsessen aussehen
werde. - Jemand, der längere Zeit über diese Aussichten
nachgedacht hatte, rief endlich in vollem Schrecken aus:
"Aber, um des Himmels willen, vielleicht h a b e n  wir
schon diese originale Kultur - man spricht nur nicht
gerne davon!"

92

V e r b o t e n e   B ü c h e r.  - Nie etwas lesen, was jene
arroganten Vielwisser und Wirrköpfe schreiben, welche die
abscheulichste Unart, die der logischen Paradoxie haben:
sie wenden die l o g i s c h e n  Formen gerade dort an, wo
alles im Grunde frech improvisiert und in die Luft gebaut
ist. ("Also" soll bei ihnen heißen "du Esel von Leser, für
dich gib es dies `also' nicht - wohl aber für mich" -
worauf die Antwort lautet: "du Esel von Schreiber, wozu
schreibst du denn?")

93

G e i s t   z e i g e n.  - Jeder, der seinen Geist z e i g e n 
will, läßt merken, daß er auch reichlich vom Gegenteil
hat. Jene Unart geistreicher Franzosen, ihren besten Einfällen
einen Zug von  beizugeben, hat ihren Ursprung
in der Absicht, für reicher zu gelten, als sie sind:
sie wollen lässig schenken, gleichsam ermüdet vom beständigen
Spenden aus übervollen Schatzhäusern.

94

D e u t s c h e   u n d   f r a n z ö s i s c h e   L i t e r a t u r.  -
Das Unglück der deutschen und französischen Literatur
der letzten hundert Jahre liegt darin, daß die Deutschen
zu zeitig a u s  der Schule der Franzosen gelaufen sind -
und die Franzosen, späterhin, zu zeitig in die Schule der
Deutschen.

95

U n s e r e   P r o s a.  - Keines der jetzigen Kulturvölker
hat eine so schlechte Prosa wie das deutsche; und
wenn geistreiche und verwöhnte Franzosen sagen: es g i b t 
keine deutsche Prosa - so dürfte man eigentlich nicht
böse werden, da es artiger gemeint ist, als wir's verdienen.
Sucht man nach den Gründen, so kommt man zuletzt zu
dem seltsamen Ergebnis, daß d e r   D e u t s c h e   n u r   d i e 
 i m p r o v i s i e r t e   P r o s a   k e n n t  und von einer anderen
gar keinen Begriff hat. Es klingt ihm schier unbegreiflich,
wenn ein Italiener sagt, daß Prosa gerade um
so viel schwerer sei als Poesie, um wie viel die Darstellung
der nackten Schönheit für den Bildhauer schwerer
sei als die der bekleideten Schönheit. Um Vers, Bild,
Rhythmus und Reim hat man sich redlich zu bemühen -
das begreift auch der Deutsche und ist nicht geneigt, der
Stegreif-Dichtung einen besonders hohen Wert zuzumessen.
Aber an einer Seite Prosa wie an einer Bildsäule
arbeiten? - es ist ihm, also ob man ihm etwas aus dem
Fabelland vorerzählte.

96

D e r   g r o ß e   S t i l.  - Der große Stil entsteht, wenn
das Schöne den Sieg über das Ungeheure davonträgt.

97

A u s w e i c h e n.  - Man weiß nicht eher, worin bei
ausgezeichneten Geistern das Feine ihres Ausdrucks, ihrer
Wendung liegt, wenn man nicht sagen kann, auf welches
Wort jeder mittelmäßige Schriftsteller beim Ausdrücken
derselben Sache unvermeidlich geraten sein würde. Alle
großen Artisten zeigen sich beim Lenken ihres Fuhrwerks
zum Ausweichen, zum Entgleisen geneigt - doch nicht
zum Umfallen.

98

E t w a s   w i e   B r o t.  - Brot neutralisiert den Geschmack
anderer Speisen, wischt ihn weg; deshalb gehört
es zu jeder längeren Mahlzeit. In allen Kunstwerken muß
es etwas wie Brot geben, damit es verschiedene Wirkungen
in ihnen geben könne: welche, unmittelbar und ohne
ein solches zeitweiliges Ausruhen und Pausieren
aufeinanderfolgend, schnell erschöpfen und Widerwillen machen
würden, so daß eine l ä n g e r e  Mahlzeit der Kunst
unmöglich wäre.

99

J e a n   P a u l.  - Jean Paul wußte sehr viel, aber hatte
keine Wissenschaft, verstand sich auf allerlei Kunstgriffe
in den Künsten, aber hatte keine Kunst, fand beinahe
nichts ungenießbar, aber hatte keinen Geschmack, besaß
Gefühl und Ernst, goß aber, wenn er davon zu kosten
gab, eine widerliche Tränenbrühe darüber, ja er hatte
Witz, - aber leider für seinen Heißhunger danach viel
zu wenig: weshalb er den Leser gerade durch seine
Witzlosigkeit zur Verzweiflung treibt. Im ganzen war er das
bunte, starkriechende Unkraut, welches über Nacht auf
den zarten Fruchtfeldern Schillers und Goethes aufschoß;
er war ein bequemer, guter Mensch, und doch ein
Verhängnis, - ein Verhängnis im Schlafrock.

100

A u c h   d e n   G e g e n s a t z   z u   s c h m e c k e n   w i s s e n.  -
Um ein Werk der Vergangenheit so zu genießen,
wie es seine Zeitgenossen empfanden, muß man den damals
herrschenden Geschmack, gegen den es sich a b h o b, 
auf der Zunge haben.

101

W e i n g e i s t - A u t o r e n.  - Manche Schriftsteller
sind weder Geist noch Wein, aber Weingeist: sie können
in Flammen geraten und geben dann Wärme.

102

D e r   M i t t l e r - S i n n.  - Der Sinn des Geschmacks,
als der wahre Mittler-Sinn, hat die anderen Sinne oft zu
seinen Ansichten der Dinge überredet und ihnen s e i n e 
Gesetze und Gewohnheiten eingegeben. Man kann bei
Tische über die feinsten Geheimnisse der Künste
Aufschlüsse erhalten: man beachte, was schmeckt, wann es
schmeckt, wonach und wie lange es schmeckt.

103

L e s s i n g.  - Lessing hat eine echt französische Tugend
und ist überhaupt als Schriftsteller bei den Franzosen
am fleißigsten in die Schule gegangen: er versteht
seine Dinge im Schauladen gut zu ordnen und aufzustellen.
Ohne diese wirkliche K u n s t  würden seine Gedanken sowie
deren Gegenstände ziemlich im Dunkel geblieben sein,
und ohne daß die allgemeine Einbuße groß wäre. An
seiner K u n s t  haben aber viele gelernt (namentlich die
letzten Generationen deutscher Gelehrten) und Unzählige
sich erfreut. Freilich hätten jene Lernenden nicht nötig
gehabt, wie so oft geschehen ist, ihm auch seine unangenehme
Ton-Manier, in ihrer Mischung von Zankteufelei
und Biederkeit, abzulernen. - Über den "Lyriker"
Lessing ist man jetzt einmütig: über den Dramatiker wird
man es werden.

104

U n e r w ü n s c h t e   L e s e r.  - Wie quälen den Autor
jene braven Leser mit den dicklichten, ungeschickten Seelen,
welche immer, wenn sie woran anstoßen, auch umfallen
und sich jedesmal dabei wehe tun!

105

D i c h t e r - G e d a n k e n.  - Die wirklichen Gedanken
gehen bei wirklichen Dichtern alle verschleiert einher
wie die Ägypterinnen: nur das tiefe A u g e  des Gedankens
blickt frei über den Schleier hinweg. - Dichter-Gedanken
sind im Durchschnitt nicht so viel wert, als sie
gelten: man bezahlt eben für den Schleier und die eigene
Neugierde mit.

106

S c h r e i b t   e i n f a c h   u n d   n ü t z l i c h.  - Übergänge,
Ausführungen, Farbenspiele des Affekts, - alles
das schenken wir dem Autor, weil wir dies mitbringen
und seinem Buche zugute kommen lassen, falls er selber
uns etwas zugute tut.

107

W i e l a n d.  - Wieland hat besser als irgend jemand
deutsch geschrieben und dabei sein rechtes meisterliches
Genügen und Ungenügen gehabt (seine Übersetzungen der
Briefe Ciceros und des Lucian sind die besten deutschen
Übersetzungen); aber seine Gedanken geben uns nichts
mehr zu denken. Wir vertragen seine heiteren Moralitäten
ebensowenig wie seine heiteren Immoralitäten: beide
gehören so gut zu einander. Die Menschen, die an ihnen
ihre Freude hatten, waren doch wohl im Grunde bessere
Menschen als wir, - aber auch um ein gut Teil schwerfälligere,
denen ein solcher Schriftsteller eben n o t  tat. -
G o e t h e  tat den Deutschen nicht not, daher sie auch von
ihm keinen Gebrauch zu machen wissen. Man sehe sich
die Besten unserer Staatsmänner und Künstler daraufhin
an: sie alle haben Goethe nicht zum Erzieher gehabt -
nicht haben können.

108

S e l t e n e   F e s t e.  - Körnige Gedrängtheit, Ruhe und
Reife - wo du diese Eigenschaften bei einem Autor
findest, da mache Halt und feiere ein langes Fest mitten
in der Wüste: es wird dir lange nicht wieder so wohl
werden.

109

D e r   S c h a t z   d e r   d e u t s c h e n   P r o s a.  - Wenn
man von Goethes Schriften absieht und namentlich von
Goethes Unterhaltungen mit Eckermann, dem besten deutschen
Buche, das es gibt: was bleibt eigentlich von der
deutschen Prosa-Literatur übrig, das es verdiente, wieder
und wieder gelesen zu werden? Lichtenbergs Aphorismen,
das erste Buch von Jung-Stillings Lebensgeschichte, Adalbert
Stifters Nachsommer und Gottfried Kellers Leute
von Seldwyla, - und damit wird es einstweilen am
Ende sein.

110

S c h r e i b s t i l   u n d   S p r e c h s t i l.  - Die Kunst zu
schreiben verlangt vor allem E r s a t z m i t t e l  für die
Ausdrucksarten, welche nur der Redende hat: also für Gebärden,
Akzente, Töne, Blicke. Deshalb ist der Schreibstil
ein ganz anderer als der Sprechstil, und etwas viel Schwierigeres:
- er will mit wenigerem sich ebenso verständlich
machen wie jener. Demosthenes hielt seine Reden anders
als wir sie lesen: er hat sie zum Gelesenwerden erst
überarbeitet. - Ciceros Reden sollten zum gleichen
Zwecke erst demosthenisiert werden: jetzt ist viel mehr
römisches Forum in ihnen, als der Leser vertragen kann.

111

V o r s i c h t   i m   Z i t i e r e n.  - Die jungen Autoren
wissen nicht, daß der gute Ausdruck, der gute Gedanke
sich nur unter seinesgleichen gut ausnimmt, daß ein
vorzügliches Zitat ganze Seiten, ja das ganze Buch vernichten
kann, indem es den Leser warnt und ihm zuzurufen
scheint: "Gib acht, ich bin der Edelstein und rings um
mich ist Blei, bleiches, schmähliches Blei!" Jedes Wort,
jeder Gedanke will nur i n   s e i n e r   G e s e l l s c h a f t 
leben: das ist die Moral des gewählten Stils.

112

W i e   s o l l   m a n   I r r t ü m e r   s a g e n ?  - Man kann
streiten, ob es schädlicher sei, wenn Irrtümer schlecht gesagt
werden oder gut wie die besten Wahrheiten. Gewiß
ist, daß sie im ersteren Fall auf doppelte Weise dem
Kopfe schaden und schwerer aus ihm zu entfernen sind;
aber freilich wirken sie nicht so sicher wie im zweiten
Falle: sie sind weniger ansteckend.

113

B e s c h r ä n k e n   u n d   v e r g r ö ß e r n.  - Homer hat
den Umfang des Stoffes beschränkt, verkleinert, aber die
einzelnen Szenen aus sich wachsen lassen und vergrößert
- und so machen es später die Tragiker immer von
neuem: jeder nimmt den Stoff in noch k l e i n e r e n 
Stücken als sein Vorgänger, jeder aber erzielt eine
r e i c h e r e  Blütenfülle innerhalb dieser abgegrenzten,
umfriedeten Gartenhecken.

114

L i t e r a t u r   u n d   M o r a l i t ä t   s i c h   e r k l ä r e n d. 
- Man kann an der griechischen Literatur zeigen, durch
welche Kräfte der griechische Geist sich entfaltete, wie er
in verschiedene Bahnen geriet und woran er schwach
wurde. Alles das gibt ein Bild davon ab, wie es im Grunde auch
mit der griechischen M o r a l i t ä t  zugegangen ist
und wie es mit jeder Moralität zugehen wird: wie sie erst
Zwang war, erst Härte zeigte, dann allmählich milder
wurde, wie endlich Lust an gewissen Handlungen, an gewissen
Konventionen und Formen entstand, und daraus
wieder ein Hang zur alleinigen Ausübung, zum Alleinbesitz
derselben: wie die Bahn sich mit Wettbewerbenden füllt und
überfüllt, wie Übersättigung eintritt, neue
Gegenstände des Kampfes und Ehrgeizes aufgesucht,
veraltete ins Leben erweckt werden, wie das Schauspiel sich
wiederholt und die Zuschauer des Zuschauens überhaupt
müde werden, weil nun der ganze Kreis durchlaufen
scheint - - und dann kommt ein Stillstehen, ein Ausatmen:
die Bäche verlieren sich im Sande. Es ist das
Ende da, wenigstens e i n  Ende.

115

W e l c h e   G e g e n d e n   d a u e r n d   e r f r e u e n.  -
Diese Gegend hat bedeutende Züge zu einem Gemälde,
aber ich kann die Formel für sie nicht finden, als Ganzes
bleibt sie mir unfaßbar. Ich bemerke, daß alle Landschaften,
die mir dauernd zusagen, unter aller Mannigfaltigkeit
ein einfaches geometrisches Linien-Schema haben.
Ohne ein solches mathematisches Substrat wird keine
Gegend etwas künstlerisch Erfreuendes. Und vielleicht gestattet
diese Regel eine gleichnishafte Anwendung auf den Menschen.

116
V o r l e s e n.  - Vorlesen können setzt voraus, daß
man v o r t r a g e n  könne: man hat überall blasse Farben
anzuwenden, aber die Grade der Blässe in genauen Proportionen
zu dem immer vorschwebenden und dirigierenden, voll und tief
gefärbten Grundgemälde, das heißt nach
dem V o r t r a g e  derselben Partie zu bestimmen. Also
muß man dieses letzteren mächtig sein.

117

D e r   d r a m a t i s c h e   S i n n.  - Wer die feineren vier
Sinne der Kunst nicht hat, sucht alles mit dem gröbsten,
dem fünften zu verstehen: dies ist der dramatische Sinn.

118

H e r d e r.  - Herder ist alles das nicht, was er von
sich wähnen machte (und selber zu wähnen wünschte):
kein großer Denker und Erfinder, kein neuer treibender
Fruchtboden mit einer urwaldfrischen unausgenutzten
Kraft. Aber er besaß im höchsten Maße den Sinn der
Witterung, er sah und pflückte die Erstlinge der Jahreszeit
früher als alle anderen, welche dann glauben konnten,
er habe sie wachsen lassen: sein Geist war zwischen Hellem
und Dunklem, Altem und Jungem und überall dort
wie ein Jäger auf der Lauer, wo es Übergänge, Senkungen,
Erschütterungen, die Anzeichen inneren Quellens
und Werdens gab: die Unruhe des Frühlings trieb ihn
umher, aber er selber war der Frühling nicht! - Das
ahnte er wohl zuzeiten, und wollte es doch sich selber
nicht glauben, er, der ehrgeizige Priester, der so gern
der Geister-Papst seiner Zeit gewesen wäre! Dies ist sein
Leiden: er scheint lange als Prätendent mehrerer Königtümer,
ja eines Universalreiches gelebt zu haben und
hatte seinen Anhang, welcher an ihn glaubte: der junge
Goethe war unter ihm. Aber überall, wo zuletzt Kronen
wirklich vergeben wurden, ging er leer aus: Kant, Goethe,
sodann die wirklichen ersten deutschen Historiker und
Philologen nahmen ihm weg, was er sich vorbehalten
wähnte, - oft aber auch im stillsten und geheimsten
n i c h t  wähnte. Gerade wenn er an sich zweifelte, warf
er sich gern die Würde und die Begeisterung um: dies
waren bei ihm allzuoft Gewänder, die viel verbergen, ihn
selber täuschen und trösten mußten. Er hatte wirklich
Begeisterung und Feuer, aber sein Ehrgeiz war viel
größer! Dieser blies ungeduldig in das Feuer, daß es flackerte,
knisterte und rauchte - sein S t i l  flackert, knistert
und raucht - aber er wünschte die g r o ß e  Flamme,
und diese brach nie hervor! Er saß nicht an der Tafel der
eigentlich Schaffenden: und sein Ehrgeiz ließ nicht zu,
daß er sich bescheiden unter die eigentlich Genießenden
setzte. So war er ein unruhiger Gast, der Vorkoster
aller geistigen Gerichte, die sich die Deutschen in einem
halben Jahrhundert aus allen Welt- und Zeitreichen
zusammenholten. Nie wirklich satt und froh, war Herder
überdies allzu häufig krank: da setzte sich bisweilen der
Neid an sein Bett, auch die Heuchelei machte ihren Besuch.
Etwas Wundes und Unfreies blieb an ihm haften: und
mehr als irgend einem unserer sogenannten "Klassiker"
geht ihm die einfältige wackere Mannhaftigkeit ab.

119

G e r u c h   d e r   W o r t e.  - Jedes Wort hat seinen Geruch:
es gibt eine Harmonie und Disharmonie der Gerüche
und also der Worte.

120

D e r   g e s u c h t e   S t i l.  - Der gefundene Stil ist eine
Beleidigung für den Freund des gesuchten Stils.

121

G e l ö b n i s.  - Ich will keinen Autor mehr lesen, dem
man anmerkt, er wollte ein Buch machen: sondern nur
jene, deren Gedanken unversehens ein Buch wurden.

122

D i e   k ü n s t l e r i s c h e   K o n v e n t i o n.  - Dreiviertel
Homer ist Konvention; und ähnlich steht es bei
allen griechischen Künstlern, die zu der modernen
Originalitätswut keinen Grund hatten. Es fehlte ihnen alle
Angst vor der Konvention; durch diese hingen sie ja mit
ihrem Publikum zusammen. Konventionen sind nämlich
die für das Verständnis der Zuhörer e r o b e r t e n 
Kunstmittel, die mühevoll erlernte gemeinsame Sprache, mit
welcher der Künstler sich wirklich m i t t e i l e n  kann.
Zumal wenn er, wie der griechische Dichter und Musiker, mit
jedem seiner Kunstwerke s o f o r t  siegen will - da er
öffentlich mit einem oder zweien Nebenbuhlern zu ringen
gewöhnt ist -, so ist die erste Bedingung, daß er s o f o r t 
auch v e r s t a n d e n  werde: was aber nur durch
die Konvention möglich ist. Das, was der Künstler über
die Konvention hinaus erfindet, das gibt er aus freien
Stücken darauf und wagt dabei sich selber daran, im besten
Fall mit dem Erfolge, daß er eine neue Konvention
s c h a f f t.  Für gewöhnlich wird das Originale angestaunt,
mitunter sogar angebetet, aber selten verstanden; der Konvention
hartnäckig ausweichen heißt: nicht verstanden
werden wollen. Worauf weist also die moderne
Originalitätswut hin?

123

A f f e k t a t i o n   d e r   W i s s e n s c h a f t l i c h k e i t 
 b e i   K ü n s t l e r n.  - Schiller glaubte, gleich anderen
deutschen Künstlern, wenn man Geist habe, dürfe man
über allerlei schwierige Gegenstände auch wohl m i t   d e r 
 F e d e r   i m p r o v i s i e r e n.  Und nun stehen seine Prosa-Aufsätze
da - in jeder Beziehung ein Muster, wie man
wissenschaftliche Fragen der Ästhetik und Moral n i c h t 
angreifen dürfe - und eine Gefahr für junge Leser,
welche, in ihrer Bewunderung des Dichters Schiller, nicht
den Mut haben, vom Denker und Schriftsteller Schiller
gering zu denken. - Die Versuchung, welche den Künstler
so leicht und so begreiflicherweise befällt, auch einmal
über die gerade ihm verbotene Wiese zu gehen und in
der W i s s e n s c h a f t  ein Wort mitzusprechen - der
Tüchtigste nämlich findet zeitweilig sein Handwerk und
seine Werkstätte unausstehlich -, diese Versuchung bringt
den Künstler so weit, aller Welt zu zeigen, was sie gar
nicht zu sehen braucht, nämlich daß es in seinem
Denkzimmerchen eng und unordentlich aussieht - warum auch
nicht? er wohnt ja nicht darin! -, daß die Vorratsspeicher
seines Wissens teils leer, teils mit Krimskrams gefüllt sind
- warum auch nicht? es steht dies sogar im Grunde dem
Künstler-Kinde nicht übel an -, namentlich aber, daß
selbst für die leichtesten Handgriffe der wissenschaftlichen
Methode, die selbst Anfängern geläufig sind, seine
Gelenke zu ungeübt und schwerfällig sind - und auch
dessen braucht er sich wahrlich nicht zu schämen! - Da
gegen entfaltet er oftmals keine geringe Kunst darin, alle
die Fehler, Unarten und schlechten Gelehrtenhaftigkeiten,
wie sie in der wissenschaftlichen Zunft vorkommen,
n a c h z u a h m e n,  im Glauben, dies eben gehöre, wenn
nicht zur Sache, so doch zum Schein der Sache; und dies
gerade ist das Lustige an solchen Künstler-Schriften, daß
hier der Künstler, ohne es zu wollen, doch tut, was
seines Amtes ist: die wissenschaftlichen und unkünstlerischen
Naturen zu p a r o d i e r e n.  Eine andere Stellung
zur Wissenschaft als die parodische sollte er nämlich
nicht haben, soweit er eben der Künstler und nur der
Künstler ist.

124

D i e   F a u s t - I d e e.  - Eine kleine Nähterin wird
verführt und unglücklich gemacht; ein großer Gelehrter
aller vier Fakultäten ist der Übeltäter. Das kann doch
nicht mit rechten Dingen zugegangen sein? Nein, gewiß
nicht! Ohne die Beihilfe des leibhaftigen Teufels hätte
es der große Gelehrte nicht zustande gebracht. - Sollte
dies wirklich der größte deutsche "tragische Gedanke"
sein, wie man unter Deutschen sagen hört? - Für Goethe
war aber auch dieser Gedanke noch zu fürchterlich; sein
mildes Herz konnte nicht umhin, die kleine Nähterin,
"die gute Seele, die nur einmal sich vergessen", nach ihrem
unfreiwilligen Tode in die Nähe der Heiligen zu
versetzen; ja selbst den großen Gelehrten brachte er, durch
einen Possen, der dem Teufel im entscheidenden Augenblick
gespielt wird, noch zur rechten Zeit in den Himmel,
ihn, "den guten Menschen" mit dem "dunklen Drange":
- dort im Himmel finden sich die Liebenden wieder. -
Goethe sagt einmal, für das eigentlich Tragische sei seine
Natur zu konziliant gewesen.

125

G i b t   e s   " d e u t s c h e   K l a s s i k e r " ?  - Sainte-Beuve
bemerkt einmal, daß zu der Art einiger Literaturen
das Wort "Klassiker" durchaus nicht klingen wolle: wer
werde zum Beispiel so leicht von "deutschen Klassikern"
reden! - Was sagen unsre deutschen Buchhändler dazu
welche auf dem Wege sind, die fünfzig deutschen Klassiker,
an die wir schon glauben sollen, noch um weitere
fünfzig zu vermehren? Scheint es doch fast, als ob man
eben nur 30 Jahre lang tot zu sein und als erlaubte Beute
öffentlich dazuliegen brauche, um unversehens plötzlich
als Klassiker die Trompete der Auferstehung zu hören!
Und dies in einer Zeit und unter einem Volke, wo selbst
von den sechs großen Stammvätern der Literatur fünf
unzweideutig veralten oder veraltet sind, - o h n e  daß
diese Zeit und dieses Volk sich gerade d e s s e n  zu
schämen hätten! Denn jene sind vor den
S t ä r k e n  dieser Zeit
zurückgewichen - man überlege es sich nur mit aller
Billigkeit! - Von Goethe, wie angedeutet, sehe ich ab,
er gehört in eine höhere Gattung von Literaturen, als
"National-Literaturen" sind: deshalb steht er auch zu
seiner N a t i o n  weder im Verhältnis des Lebens, noch
des Neuseins, noch des Veraltens. Nur für wenige hat
er gelebt und lebt er noch: für die meisten ist er nichts
als eine Fanfare der Eitelkeit, welche man von Zeit zu
Zeit über die deutsche Grenze hinüberbläst. Goethe, nicht
nur ein guter und großer Mensch, sondern eine K u l t u r, 
Goethe ist in der Geschichte der Deutschen ein Zwischenfall
ohne Folgen: wer wäre imstande, in der deutschen
Politik der letzten 70 Jahre zum Beispiel ein Stück
Goethe aufzuzeigen! (während jedenfalls darin ein Stück
Schiller, und vielleicht sogar ein Stückchen Lessing tätig
gewesen ist). Aber jene andern fünf! Klopstock veraltete
schon bei Lebzeiten auf eine sehr ehrwürdige Weise; und
so gründlich, daß das nachdenkliche Buch seiner späteren
Jahre, die Gelehrten-Republik, wohl bis heutigen
Tag von niemandem ernst genommen worden ist. Herder
hatte das Unglück, daß seine Schriften immer entweder
neu oder veraltet waren; für die feineren und stärkeren
Köpfe (wie für Lichtenberg) war zum Beispiel selbst
Herders Hauptwerk, seine Ideen zur Geschichte der
Menschheit, sofort beim Erscheinen etwas Veraltetes. Wieland,
der reichlich gelebt und zu leben gegeben hat,
kam als ein kluger Mann dem Schwinden seines
Einflusses durch den Tod zuvor. Lessing lebt vielleicht heute
noch, - aber unter jungen und immer jüngeren
Gelehrten! Und Schiller ist jetzt aus den Händen der
Jünglinge in die der Knaben, aller deutschen Knaben
geraten! Es ist ja eine bekannte Art des Veraltens, daß
ein Buch zu immer unreiferen Lebensaltern hinabsteigt.
- Und was hat diese fünf zurückgedrängt, so daß gut
unterrichtete und arbeitsame Männer sie nicht mehr
lesen? Der bessere Geschmack, das bessere Wissen, die
bessere Achtung vor dem Wahren und Wirklichen: also
lauter Tugenden, welche gerade durch jene fünf (und
durch zehn und zwanzig andere weniger lauten Namens)
erst wieder in Deutschland a n g e p f l a n z t  worden sind,
und welche jetzt als hoher Wald über ihren Gräbern
neben dem Schatten der Ehrfurcht auch etwas vom Schatten
der Vergessenheit breiten. - Aber K l a s s i k e r 
sind nicht A n p f l a n z e r  von intellektuellen und
literarischen Tugenden, sondern V o l l e n d e r  und höchste
Lichtspitzen derselben, welche über den Völkern stehen
bleiben, wenn diese selber zugrundegehen: denn sie sind
leichter, freier, reiner als sie. Es ist ein hoher Zustand
der Menschheit möglich, wo das Europa der Völker eine
dunkle Vergessenheit ist, wo Europa aber noch in dreißig
sehr alten, nie veralteten Büchern l e b t: 
in den Klassikern.

126

I n t e r e s s a n t,   a b e r   n i c h t   s c h ö n.  - Diese
Gegend verbirgt ihren Sinn, aber sie hat einen, den man
erraten möchte: wohin ich sehe, lese ich Worte und Winke
zu Worten aber ich weiß nicht, wo der Satz beginnt, der
das Rätsel aller dieser Winke löst, und werde zum Wendehals
darüber, zu untersuchen, ob von hier oder von dort
aus zu lesen ist.

127

G e g e n   d i e   S p r a c h - N e u e r e r.  - In der Sprache
neuern oder altertümeln, das Seltene und Fremdartige
vorziehen, auf Reichtum des Wortschatzes statt auf
Beschränkung trachten, ist immer ein Zeichen des ungereiften
oder verderbten Geschmacks. Eine edle Armut, aber
innerhalb des unscheinbaren Besitzes eine meisterliche
Freiheit zeichnet die griechischen Künstler der Rede aus:
sie wollen w e n i g e r  haben, als das Volk hat - denn
dieses ist am reichsten in Altem und Neuem - aber sie
wollen dies Weniger b e s s e r  haben. Man ist schnell mit
dem Aufzählen ihrer Archaismen und Fremdartigkeiten
fertig, aber kommt nicht zu Ende im Bewundern, wenn
man für die leichte und zarte Art ihres Verkehrs mit dem
Alltäglichen und scheinbar längst Verbrauchten in Worten
und Wendungen ein gutes Auge hat.

128

D i e   t r a u r i g e n   u n d   d i e   e r n s t e n   A u t o r e n. 
- Wer zu Papier bringt, was er l e i d e t,  wird ein
t r a u r i g e r  Autor: aber ein e r n s t e r,  wenn er uns sagt,
was er l i t t  und weshalb er jetzt in der Freude ausruht.

129

G e s u n d h e i t   d e s   G e s c h m a c k s.  - Wie kommt
es, daß die Gesundheiten nicht so ansteckend sind wie die
Krankheiten - überhaupt, und namentlich im Geschmack?
Oder gibt es Epidemien der Gesundheit? -

130

V o r s a t z.  - Kein Buch mehr lesen, das zu gleicher
Zeit geboren und (mit Tinte) getauft wurde.

131

D e n   G e d a n k e n   v e r b e s s e r n.  - Den Stil
verbessern - das heißt den Gedanken verbessern, und gar
Nichts weiter! - Wer dies nicht sofort zugibt, ist auch
nie davon zu überzeugen.

132

K l a s s i s c h e   B ü c h e r.  - Die schwächste Seite
jedes klassischen Buches ist die, daß es zu sehr in der
Muttersprache seines Autors geschrieben ist.

133

S c h l e c h t e   B ü c h e r.  - Das Buch soll nach Feder,
Tinte und Schreibtisch verlangen: aber gewöhnlich
verlangen Feder, Tinte und Schreibtisch nach dem Buche.
Deshalb ist es jetzt so wenig mit Büchern.

134

S i n n e s g e g e n w a r t.  - Das Publikum wird, wenn
es über Gemälde nachdenkt, dabei zum Dichter, und wenn
es über Gedichte nachdenkt, zum Forscher. Im Augenblick,
da der Künstler es anruft, fehlt es ihm immer am r e c h t e n 
Sinn, nicht also an der Geistes-, sondern an der
Sinnesgegenwart.

135

G e w ä h l t e   G e d a n k e n.  - Der gewählte Stil
einer bedeutenden Zeit wählt nicht nur die Worte, sondern
auch die Gedanken aus, - und zwar beide aus dem
Ü b l i c h e n  und H e r r s c h e n d e n:  die gewagten und
allzufrisch riechenden Gedanken sind dem reiferen
Geschmack nicht minder zuwider als die neuen tollkühnen
Bilder und Ausdrücke. Später riecht beides - der
gewählte Gedanke und das gewählte Wort - leicht nach
Mittelmäßigkeit, weil der Geruch des Gewählten sich
schnell verflüchtigt und dann nur noch das Übliche und
Alltägliche daran geschmeckt wird.

136

H a u p t g r u n d   d e r   V e r d e r b n i s   d e s   S t i l s.  -
Mehr Empfindung für eine Sache z e i g e n  wollen, als man
wirklich h a t,  verdirbt den S t i l,  in der Sprache und in
allen Künsten. Vielmehr hat alle große Kunst die
umgekehrte Neigung: sie liebt es, gleich jedem sittlich
bedeutenden Menschen, das Gefühl auf seinem Wege anzuhalten
und nicht g a n z  ans Ende laufen zu lassen. Diese
Scham der halben Gefühls-Sichtbarkeit ist zum Beispiel
bei Sophokles auf das Schönste zu beobachten; und es
scheint die Züge der Empfindung zu verklären, wenn diese
sich selber nüchterner gibt, als sie ist.

137

Z u r   E n t s c h u l d i g u n g   d e r   s c h w e r f ä l l i g e n 
 S t i l i s t e n.  - Das Leicht-Gesagte fällt selten so schwer
ins Gehör, als die Sache wirklich wiegt - das liegt aber
an den schlecht geschulten Ohren, welche aus der Erziehung
durch das, was man bisher Musik nannte, in
die Schule der höheren Tonkunst, das heißt der R e d e, 
übergehen müssen.

138

V o g e l p e r s p e k t i v e.  - Hier stürzen Wildwasser
von mehreren Seiten einem Schlunde zu: ihre Bewegung
ist so stürmisch und reißt das Auge so mit sich fort, daß
die kahlen und bewaldeten Gebirgshänge ringsum nicht
abzusinken, sondern wie h i n a b z u f l i e h e n  scheinen.
Man wird beim Anblick angstvoll gespannt, als ob etwas
Feindseliges hinter alledem verborgen liege, vor dem alles
flüchten müsse, und gegen das uns der Abgrund Schutz
verliehe. Diese Gegend ist gar nicht zu malen, es sei denn,
daß man wie ein Vogel in der freien Luft über ihr
schwebe. Hier ist einmal die sogenannte Vogelperspektive
nicht eine künstlerische Willkür, sondern die einzige
Möglichkeit.

139

G e w a g t e   V e r g l e i c h u n g e n.  - Wenn die gewagten
Vergleichungen nicht Beweise vom Mutwillen des
Schriftstellers sind, so sind sie Beweise seiner ermüdeten
Phantasie. In jedem Falle aber sind sie Beweise seines
schlechten Geschmackes.

140

I n   K e t t e n   t a n z e n.  - Bei jedem griechischen
Künstler, Dichter und Schriftsteller ist zu fragen: welches
ist der n e u e   Z w a n g,  den er sich auferlegt und den
er seinen Zeitgenossen reizvoll macht (so daß er Nachahmer
findet)? Denn was man "Erfindung" (im Metrischen
zum Beispiel) nennt, ist immer eine solche selbstgelegte
Fessel. "In Ketten tanzen", es sich schwer machen
und dann die Täuschung der Leichtigkeit darüber breiten,
- das ist das Kunststück, welches sie uns zeigen
wollen. Schon bei Homer ist eine Fülle von vererbten
Formeln und epischen Erzählungsgesetzen wahrzunehmen
i n n e r h a l b  deren er tanzen mußte: und er selber
schuf neue Konventionen für die Kommenden hinzu. Dies
war die Erziehungs-Schule der griechischen Dichter:
zuerst also einen vielfältigen Zwang sich auferlegen
lassen durch die früheren Dichter; sodann einen neuen
Zwang hinzuerfinden, ihn sich auferlegen und ihn anmutig
besiegen: so daß Zwang und Sieg bemerkt und bewundert
werden.

141

F ü l l e   d e r   A u t o r e n.  - Das Letzte, was ein guter
Autor bekommt, ist Fülle; wer sie mitbringt, wird nie
ein guter Autor werden. Die edelsten Rennpferde sind
mager, bis sie von ihren Siegen a u s r u h e n  dürfen.

142

K e u c h e n d e   H e l d e n.  - Dichter und Künstler,
die an Engbrüstigkeit des Gefühls leiden, lassen ihre Helden
am meisten keuchen: sie verstehen sich auf das leichte
Atmen nicht.

143

D e r   H a l b - B l i n d e.  - Der Halb-Blinde ist der
Todfeind aller Autoren, welche sich gehen lassen. Diese
sollten seinen Ingrimm kennen, mit dem er ein Buch
zuschlägt, aus welchem er merkt, daß sein Verfasser fünfzig
Seiten braucht, um fünf Gedanken mitzuteilen; jenen Ingrimm
darüber, den Rest seiner Augen fast ohne Entgelt
in Gefahr gebracht zu haben. - Ein Halb-Blinder sagte:
a l l e  Autoren haben sich gehen lassen. - "Auch der
heilige Geist?" - Auch der heilige Geist. Aber der durfte
es; er schrieb für, die Ganz-Blinden.

144

D e r   S t i l   d e r   U n s t e r b l i c h k e i t.  - Thukydides
sowohl wie Tacitus - beide haben beim Ausarbeiten
ihrer Werke an eine unsterbliche Dauer derselben gedacht:
dies würde, wenn man es sonst nicht wüßte, schon aus
ihrem Stile zu erraten sein. Der eine glaubte seinen
Gedanken durch Einsalzen, der andere durch Einkochen
Dauerhaftigkeit zu geben; und beide, scheint es, haben
sich nicht verrechnet.

145

G e g e n   B i l d e r   u n d   G l e i c h n i s s e.  - Mit Bildern,
und Gleichnissen überzeugt man, aber beweist nicht.
Deshalb hat man innerhalb der Wissenschaft eine solche
Scheu vor Bildern und Gleichnissen; man will hier gerade
das Überzeugende, das G l a u b l i c h -Machende n i c h t 
und fordert vielmehr das kälteste Mißtrauen auch schon
durch die Ausdrucksweise und die kahlen Wände heraus:
weil das Mißtrauen der Prüfstein für das Gold der
Gewißheit ist.

146

V o r s i c h t.  - Wem es an gründlichem Wissen
gebricht, der mag sich in Deutschland ja hüten, zu schreiben.
Denn der gute Deutsche sagt da nicht: "er ist
unwissend", sondern: "er ist von zweifelhaftem Charakter".
- Dieser übereilte Schluß macht übrigens den Deutschen
alle Ehre.

147

B e m a l t e   G e r i p p e.  - Bemalte Gerippe: das sind
jene Autoren, welche d a s,  was ihnen an Fleisch abgeht,
durch künstliche Farben ersetzen möchten.

148

D e r   g r o ß a r t i g e   S t i l   u n d   d a s   H ö h e r e.  -
an lernt es schneller, großartig schreiben, als leicht und
schlicht schreiben. Die Gründe davon verlieren sich ins
Moralische.

149

S e b a s t i a n   B a c h.  - Sofern man Bachs Musik
n i c h t  als vollkommener und gewitzigter Kenner des
Kontrapunktes und aller Arten des fugierten Stiles hört
und demgemäß des eigentlichen artistischen Genusses entraten
muß, wird es uns als Hörern seiner Musik zumute
sein (um uns grandios mit Goethe auszudrücken), als ob
wir dabei wären, w i e   G o t t   d i e   W e l t   s c h u f.  Das
heißt: wir fühlen, daß hier etwas Großes im Werden ist,
aber noch nicht i s t:  unsere g r o ß e  moderne Musik. Sie
hat schon die Welt überwunden, dadurch daß sie die
Kirche, die Nationalitäten und den Kontrapunkt überwand.
In Bach ist noch zuviel krude Christlichkeit, krudes
Deutschtum, krude Scholastik; er steht an der Schwelle
der europäischen (modernen) Musik, aber schaut sich von
hier nach dem Mittelalter um.

150

H ä n d e l.  - Händel, im Erfinden seiner Musik kühn,
neuerungssüchtig, wahrhaft, gewaltig, dem Heroischen
zugewandt und verwandt, dessen ein Volk fähig ist, -
wurde bei der Ausarbeitung oft befangen und kalt, ja
an sich selber müde; da wendete er einige erprobte
Methoden der Durchführung an, schrieb schnell und viel und
war froh, wenn er fertig war, - aber nicht in der Art
froh, wie es Gott und andere Schöpfer am Abende ihres
Werktages gewesen sind.

151

H a y d n.  - Soweit sich Genialität mit einem schlechthin
g u t e n  Menschen verbinden kann, hat Haydn sie
gehabt. Er geht gerade bis an die Grenze, welche die
Moralität dem Intellekt zieht; er macht lauter Musik, die
"keine Vergangenheit" hat.

152

B e e t h o v e n   u n d   M o z a r t.  - Beethovens Musik
erscheint häufig wie eine tiefbewegte B e t r a c h t u n g 
beim unerwarteten Wiederhören eines längst verloren
geglaubten Stückes "Unschuld in Tönen": es ist Musik
ü b e r  Musik. Im Liede der Bettler und Kinder auf der
Gasse, bei den eintönigen Weisen wandernder Italiener,
beim Tanze in der Dorfschenke oder in den Nächten des
Karnevals, - da entdeckt er seine "Melodien": er trägt
sie wie eine Biene zusammen, indem er bald hier bald
dort einen Laut, eine kurze Folge erhascht. Es sind ihm
verklärte E r i n n e r u n g e n  aus der "besseren Welt":
ähnlich wie Plato es sich von den Ideen dachte. - Mozart
steht ganz anders zu seinen Melodien: er findet seine
Inspirationen nicht beim Hören von Musik, sondern im
Schauen des Lebens, des bewegtesten s ü d l ä n d i s c h e n 
Lebens: er träumte immer von Italien, wenn er nicht
dort war.

153

R e z i t a t i v.  - Ehemals war das Rezitativ trocken;
jetzt leben wir in der Zeit des n a s s e n   R e z i t a t i v s: 
es ist ins Wasser gefallen, und die Wellen reißen es,
wohin sie wollen.

154

" H e i t e r e "   M u s i k.  - Hat man lange die Musik
entbehrt, so geht sie nachher wie ein schwerer Südwein
allzuschnell ins Blut und hinterläßt eine narkotisch
betäubte, halbwache, schlaf-sehnsüchtige Seele; namentlich
tut dies gerade die h e i t e r e  Musik, welche zusammen
Bitterkeit und Verwundung, Überdruß und Heimweh gibt
und alles wie in einem verzuckerten Giftgetränk wieder
und wieder zu schlürfen nötigt. Dabei scheint der Saal
der heiter rauschenden Freude sich zu verengern, das Licht
an Helle zu verlieren und bräuner zu werden: zuletzt ist
es einem zu Mute, als ob die Musik wie in ein Gefängnis
hineinklinge, wo ein armer Mensch vor Heimweh nicht
schlafen kann.

155

F r a n z   S c h u b e r t.  - Franz Schubert, ein geringerer
Artist als die anderen großen Musiker, hatte doch von
allen den größten E r b r e i c h t u m  an Musik. Er
verschwendete ihn mit voller Hand und aus gütigem Herzen:
so daß die Musiker noch ein paar Jahrhunderte an seinen
Gedanken und Einfällen zu z e h r e n  haben werden. In
seinen Werken haben wir einen Schatz von u n v e r b r a u c h t e n 
Erfindungen; andere werden ihre Größe
im Verbrauchen haben. - Dürfte man Beethoven den
idealen Zuhörer eines Spielmannes nennen, so hätte Schubert
darauf ein Anrecht, selber der ideale Spielmann zu
heißen.

156

M o d e r n s t e r   V o r t r a g   d e r   M u s i k.  - Der
große tragisch dramatische Vortrag in der Musik bekommt
seinen Charakter durch Nachahmung der Gebärden des
g r o ß e n   S ü n d e r s,  wie ihn das Christentum sich denkt
und wünscht: des langsam Schreitenden, leidenschaftlich
Grübelnden, des von Gewissensqual Hin- und Hergeworfenen,
des entsetzt Fliehenden, des entzückt Haschenden,
des verzweifelt Stillestehenden - und was sonst
alles die Merkmale des großen Sündertums sind. Nur
unter der Voraussetzung des Christen, daß alle Menschen
große Sünder sind und gar nichts tun, als sündigen,
ließe es sich rechtfertigen, jenen Stil des Vortrags auf
a l l e  Musik anzuwenden: insofern die Musik das Abbild
alles menschlichen Tun und Treibens wäre, und als solches
die Gebärdensprache des großen Sünders fortwährend
zu sprechen hätte. Ein Zuhörer, der nicht genug Christ
wäre, um diese Logik zu verstehen, dürfte freilich bei
einem solchen Vortrage erschreckt ausrufen: "Um des
Himmels willen, wie ist denn die Sünde in die Musik
gekommen!"

157

F e l i x   M e n d e l s s o h n.  - Felix Mendelssohns Musik
ist die Musik des guten Geschmacks an allem Guten,
was dagewesen ist: sie weist immer hinter sich. Wie
könnte sie viel "Vor-sich", viel Zukunft haben! - Aber
hat er sie denn haben w o l l e n ?  Er besaß eine Tugend,
die unter Künstlern selten ist, die der Dankbarkeit
ohne Nebengedanken: auch diese Tugend weist immer
hinter sich.

158

E i n e   M u t t e r   d e r   K ü n s t e.  - In unserem skeptischen
Zeitalter gehört zur eigentlichen D e v o t i o n  fast
ein brutaler Heroismus des E h r g e i z e s;  das fanatische
Augenschließen und Kniebeugen genügt nicht mehr. Wäre
es nicht möglich, daß der Ehrgeiz, in der Devotion der
Letzte für alle Zeiten zu sein, der Vater einer letzten
katholischen Kirchenmusik würde, wie er schon der Vater
des letzten kirchlichen Baustils gewesen ist? (Man nennt
ihn Jesuitenstil.)

159

F r e i h e i t   i n   F e s s e l n   -   e i n e   f ü r s t l i c h e 
 F r e i h e i t.  - Der letzte der neueren Musiker, der die
Schönheit geschaut und angebetet hat gleich Leopardi, der
Pole Chopin, der Unnachahmliche - alle vor und nach
ihm Gekommenen haben auf dies Beiwort kein Anrecht -
Chopin hatte dieselbe fürstliche Vornehmheit der
Konvention, welche Raffael im Gebrauche der herkömmlichsten
einfachsten Farben zeigt, - aber nicht in bezug auf
Farben, sondern auf die melodischen und rhythmischen
Herkömmlichkeiten. Diese ließ er gelten, als g e b o r e n 
 i n   d e r   E t i q u e t t e,  aber wie der freieste und
anmutigste Geist in diesen Fesseln spielend und tanzend -
und zwar o h n e  sie zu verhöhnen.

160

C h o p i n s   B a r c a r o l e.  - Fast alle Zustände und
Lebensweisen haben einen s e l i g e n  Moment. D e n 
wissen die guten Künstler herauszufischen. So hat einen
solchen selbst das Leben am Strande, das so langweilige,
schmutzige, ungesunde, in der Nähe des lärmendsten und
habgierigsten Gesindels sich abspinnende; - diesen seligen
Moment hat Chopin in der Barcarole so zum Ertönen
gebracht, daß selbst Götter dabei gelüsten könnte, lange
Sommerabende in einem Kahne zu liegen.

161

R o b e r t   S c h u m a n n.  - Der "Jüngling", wie ihn
die romantischen Liederdichter Deutschlands und Frankreichs
um das erste Drittel dieses Jahrhunderts träumten,
- dieser Jüngling ist vollständig in Sang und Ton übersetzt
worden - durch Robert Schumann, den ewigen
Jüngling, so lange er sich in voller eigner Kraft fühlte:
es gibt freilich Momente, in denen seine Musik an die
ewige "alte Jungfer" erinnert.

162

D i e   d r a m a t i s c h e n   S ä n g e r.  - "Warum singt
dieser Bettler?" - Er versteht wahrscheinlich nicht zu
jammern. - "Dann tut er Recht: aber unsere dramatischen
Sänger, welche jammern, weil sie nicht zu singen
verstehen - tun sie auch das Rechte?"

163

D r a m a t i s c h e   M u s i k.  - Für den, welcher nicht
sieht, was auf der Bühne vorgeht, ist die dramatische
Musik ein Unding; so gut der fortlaufende Kommentar
zu einem verloren gegangenen Texte ein Unding ist. Sie
verlangt ganz eigentlich, daß man auch die Ohren dort
habe, wo die Augen stehen; damit ist aber an Euterpe
Gewalt geübt: diese arme Muse will, daß man ihre Augen
und Ohren dort stehen lasse, wo alle anderen Musen sie
auch haben.

164

S i e g   u n d   V e r n ü n f t i g k e i t.  - Leider entscheidet
auch bei den ästhetischen Kriegen, welche Künstler mit
ihren Werken und deren Schutzreden erregen, zuletzt die
Kraft und nicht die Vernunft. Jetzt nimmt alle Welt als
historische Tatsache an, daß Gluck im Kampfe mit Piccini
R e c h t  gehabt habe: jedenfalls hat er g e s i e g t;  die
Kraft stand auf seiner Seite.

165

V o m   P r i n z i p e   d e s   V o r t r a g s   i n   d e r   M u s i k. 
- Glauben denn wirklich die jetzigen Künstler des
musikalischen Vortrags, das höchste Gebot ihrer Kunst sei,
jedem Stück so viel H o c h r e l i e f  zu geben, als nur
möglich ist, und es um jeden Preis eine d r a m a t i s c h e 
Sprache reden zu lassen? Ist dies, zum Beispiel auf Mozart
angewendet, nicht ganz eigentlich eine Sünde wider den
Geist, den heiteren, sonnigen, zärtlichen, leichtsinnigen
Geist Mozarts, dessen Ernst ein gütiger und nicht ein
furchtbarer Ernst ist, dessen Bilder nicht aus der Wand
herausspringen wollen, um die Anschauenden in Entsetzen
und Flucht zu jagen. Oder meint ihr, Mozartische Musik
sei gleichbedeutend mit "Musik des steinernen Gastes"?
Und nicht nur Mozartische, sondern alle Musik? - Aber
ihr entgegnet, die größere W i r k u n g  spreche zugunsten
eures Prinzips - und ihr hättet recht, wofern nicht die
Gegenfrage übrig bliebe, a u f   w e n  da gewirkt worden
sei, und auf wen ein vornehmer Künstler überhaupt nur
wirken w o l l e n   d ü r f e !  Niemals auf das Volk!
Niemals auf die Unreifen! Niemals auf die Empfindsamen!
Niemals auf die Krankhaften! Vor allem aber: niemals
auf die Abgestumpften!

166

M u s i k   v o n   h e u t e.  - Diese modernste Musik, mit
ihren starken Lungen und schwachen Nerven, erschrickt
immer zuerst vor sich selber.

167

W o   d i e   M u s i k   h e i m i s c h   i s t.  - Die Musik erlangt
ihre große Macht nur unter Menschen, welche nicht
diskutieren können oder dürfen. Ihre Förderer ersten Ranges
sind deshalb Fürsten, welche wollen, daß in ihrer Nähe
nicht viel kritisiert, ja nicht einmal viel gedacht werde;
sodann Gesellschaften, welche unter irgend einem Drucke
(einem fürstlichen oder religiösen) sich an das Schweigen
gewöhnen müssen, aber um so stärkere Zaubermittel gegen
die Langeweile des Gefühls suchen (gewöhnlich die ewige
Verliebtheit und die ewige Musik); drittens ganze Völker,
in denen es keine "Gesellschaft" gibt, aber um so mehr
einzelne mit einem Hang zur Einsamkeit, zu halbdunklen
Gedanken und zur Verehrung alles Unaussprechlichen:
es sind die eigentlichen Musikseelen. - Die Griechen, als
ein red- und streitlustiges Volk, haben deshalb die Musik
nur als Z u k o s t  zu Künsten vertragen, über welche
sich wirklich streiten und reden läßt: während über die
Musik sich kaum reinlich d e n k e n  läßt. Die Pythagoreer,
jene Ausnahme-Griechen in vielen Stücken, waren,
wie verlautet, auch große Musiker: dieselben, welche das
fünfjährige Schweigen, aber n i c h t  die Dialektik
erfunden haben.

168

S e n t i m e n t a l i t ä t   i n   d e r   M u s i k.  - Man sei
der ernsten und reichen Musik noch so gewogen, um so
mehr vielleicht wird man in einzelnen Stunden von dem
Gegenstück derselben überwunden, bezaubert und fast
hinweggeschmolzen; ich meine: von jenen allereinfachsten
italienischen Opern-Melismen, welche, trotz aller rhythmischen
Einförmigkeit und harmonischen Kinderei, uns mitunter
wie die Seele der Musik selber anzusingen scheinen.
Gebt es zu oder nicht, ihr Pharisäer des guten Geschmacks:
es i s t  so, und mir liegt jetzt daran, dieses
Rätsel, daß es so ist, zum Raten aufzugeben und selber
ein wenig daran herumzuraten. - Als wir noch Kinder
waren, haben wir den Honigseim vieler Dinge zum erstenmal
gekostet, niemals wieder war der Honig so gut wie
damals, er verführte zum Leben, zum längsten Leben,
in der Gestalt des ersten Frühlings, der ersten Blumen,
der ersten Schmetterlinge, der ersten Freundschaft. Damals
- es war vielleicht um das neunte Jahr unseres
Lebens - hörten wir die erste Musik, und das war die,
welche wir zuerst v e r s t a n d e n,  die einfachste und
kindlichste also, welche nicht viel mehr als ein Weiterspinnen
des Ammenliedes und der Spielmannsweise war.
(Man muß nämlich auch für die geringsten "Offenbarungen"
der Kunst erst v o r b e r e i t e t  und e i n g e l e r n t 
werden: es gibt durchaus keine "unmittelbare" Wirkung
der Kunst, so schön auch die Philosophen davon gefabelt
haben.) An jene ersten musikalischen Entzückungen -
die stärksten unseres Lebens - knüpft unsere Empfindung
an, wenn wir jene italienischen Melismen hören:
die Kindes-Seligkeit und der Verlust der Kindheit, das
Gefühl des Unwiederbringlichsten als des köstlichsten Besitzes
- das rührt dabei die Saiten unsrer Seele an, so
stark wie es die reichste und ernsteste Gegenwart der
Kunst allein nicht vermag. - Diese Mischung ästhetischer
Freude mit einem moralischen Kummer, welche man
gemeinhin jetzt "Sentimentalität" zu nennen pflegt, etwas
gar zu hoffärtig, wie mir scheint - es ist die Stimmung
Faustens am Schlusse der ersten Szene - diese "Sentimentalität"
der Hörenden kommt der italienischen Musik
zugute, welche sonst die erfahrenen Feinschmecker der
Kunst, die reinen "Ästhetiker", zu ignorieren lieben.
- Übrigens wirkt fast jede Musik erst von da an
z a u b e r h a f t,  wo wir aus ihr die Sprache der eigenen
V e r g a n g e n h e i t  reden hören: und insofern scheint
dem Laien alle a l t e  Musik immer besser zu werden,
und alle eben geborene nur wenig wert zu sein: denn sie
erregt noch keine "Sentimentalität", welche, wie gesagt,
das wesentlichste Glücks-Element der Musik für jeden
ist, der nicht rein als Artist sich an dieser Kunst zu freuen
vermag.

169

A l s   F r e u n d e   d e r   M u s i k.  - Zuletzt sind und
bleiben wir der Musik gut, wie wir dem Mondlicht gut
bleiben. Beide wollen ja nicht die Sonne verdrängen, -
sie wollen nur, so gut sie es können, unsere N ä c h t e 
erhellen. Aber nicht wahr? scherzen und lachen dürfen wir
trotzdem über sie? Ein wenig wenigstens? Und von Zeit zu Zeit!
Über den Mann im Monde! Über das Weib in der Musik!

170

D i e   K u n s t   i n   d e r   Z e i t   d e r   A r b e i t.  - Wir
haben das Gewissen eines a r b e i t s a m e n  Zeitalters:
dies erlaubt uns nicht, die besten Stunden und Vormittage
der Kunst zu geben, und wenn diese Kunst selber die
größte und würdigste wäre. Sie gilt uns als Sache der
Muße, der Erholung: wir weihen ihr die R e s t e  unserer
Zeit, unserer Kräfte. - Dies ist die allgemeinste Tatsache,
durch welche die Stellung der Kunst zum Leben verändert
ist: sie hat, wenn sie ihre g r o ß e n  Zeit- und
Kraft-Ansprüche an die Kunst-Empfangenden macht, das
Gewissen der Arbeitsamen und Tüchtigen g e g e n  sich,
sie ist auf die Gewissenlosen und Lässigen angewiesen,
welche aber, ihrer Natur nach, gerade der g r o ß e n  Kunst
nicht zugetan sind und ihre Ansprüche als Anmaßungen
empfinden. Es dürfte deshalb mit ihr zu Ende sein, weil
ihr die Luft und der freie Atem fehlt: oder - die große
Kunst versucht, in einer Art Vergröberung und Verkleidung,
in jener anderen Luft heimisch zu werden (mindestens
es in ihr auszuhalten), die eigentlich nur für die
k l e i n e  Kunst, für die Kunst der Erholung, der
ergötzlichen Zerstreuung das natürliche Element ist. Dies
geschieht jetzt allerwärts; auch die Künstler der großen
Kunst versprechen Erholung und Zerstreuung, auch sie
wenden sich an den Ermüdeten, auch sie bitten ihn um
die Abendstunden seines Arbeitstages, - ganz wie die
unterhaltenden Künstler, welche zufrieden sind, gegen
den schweren Ernst der Stirnen, das Versunkene der Augen
einen Sieg errungen zu haben. Welches ist nun der Kunstgriff
ihrer größeren Genossen? Diese haben in ihren
Büchsen die gewaltsamsten Erregungsmittel, bei denen
selbst der Halbtote noch zusammenschrecken muß; sie
haben Betäubungen, Berauschungen, Erschütterungen,
Tränenkrämpfe: mit diesen überwältigen sie den Ermüdeten
und bringen ihn in eine übernächtige Überlebendigkeit,
in ein Außer-sich-sein des Entzückens und des Schreckens.
Dürfte man, wegen der Gefährlichkeit ihrer Mittel, der
großen Kunst, wie sie jetzt, als Oper, Tragödie und Musik,
lebt, - dürfte man ihr als einer arglistigen Sünderin
zürnen? Gewiß nicht, sie lebte ja selber hundertmal lieber
in dem reinen Element der morgendlichen Stille und wendete
sich an die erwartenden, unverbrauchten, kraftgefüllten
Morgen-Seelen der Zuschauer und Zuhörer. Danken
wir ihr, daß sie es vorzieht, so zu leben, als
davonzufliehen: aber gestehen wir uns auch ein, daß für ein
Zeitalter, welches einmal wieder freie, volle Fest- und
Freudentage in das Leben einführt, u n s e r e  große Kunst
unbrauchbar sein wird.

171

D i e   A n g e s t e l l t e n   d e r   W i s s e n s c h a f t   u n d 
 d i e   a n d e r e n.  - Die eigentlich tüchtigen und
erfolgreichen Gelehrten könnte man insgesamt als "Angestellte"
bezeichnen. Wenn, in jungen Jahren, ihr Scharfsinn
hinreichend geübt, ihr Gedächtnis gefüllt ist, wenn Hand
und Auge Sicherheit gewonnen haben, so werden sie von
einem älteren Gelehrten auf eine Stelle der Wissenschaft
angewiesen, wo ihre Eigenschaften Nutzen bringen können:
späterhin, nachdem sie selber den Blick für die
lückenhaften und schadhaften Stellen ihrer Wissenschaft
erlangt haben, stellen sie sich von selber dorthin, wo sie
not tun. Diese Naturen allesamt sind um der Wissenschaft
willen da: aber es gibt seltnere, selten gelingende
und völlig ausreifende Naturen, "um derentwillen die
Wissenschaft da ist" - wenigstens scheint es ihnen selber
so -: oft unangenehme, oft eingebildete, oft querköpfige,
fast immer aber bis zu einem Grade zauberhafte
Menschen. Sie sind nicht Angestellte und auch nicht
Ansteller, sie bedienen sich dessen, was von jenen erarbeitet
und sichergestellt worden ist, in einer gewissen fürstenhaften
Gelassenheit und mit geringem und seltenem Lobe:
gleichsam als ob jene einer niedrigeren Gattung von Wesen
angehörten. Und doch haben sie eben nur die gleichen
Eigenschaften, wodurch diese anderen sich auszeichnen,
und diese mitunter sogar ungenügender entwickelt: obendrein
ist ihnen eine B e s c h r ä n k t h e i t  eigentümlich,
die jenen fehlt, um derentwegen es unmöglich ist, sie an
einen Posten zu stellen und in ihnen nützliche Werkzeuge
zu sehen, - sie können nur i n   i h r e r   e i g e n e n   L u f t, 
auf eigenem Boden leben. Diese Beschränktheit gibt ihnen
ein, was alles von einer Wissenschaft "zu ihnen gehöre",
das heißt, was sie in ihre Luft und Wohnung heimtragen
können; sie wähnen immer ihr zerstreutes "Eigentum"
zu sammeln. Verhindert man sie, an ihrem eigenen Neste
zu bauen, so gehen sie wie obdachlose Vögel zugrunde;
Unfreiheit ist für sie Schwindsucht. Pflegen sie einzelne
Gegenden der Wissenschaft in der Art jener anderen, so
sind es doch immer nur solche, wo gerade die ihnen nötigen
Früchte und Samen gedeihen; was geht es sie an, ob
die Wissenschaft, im ganzen gesehen, unangebaute oder
schlecht gepflegte Gegenden hat? Es fehlt ihnen jede
u n p e r s ö n l i c h e  Teilnahme an einem Problem der
Erkenntnis; wie sie selber durch und durch Person sind,
so wachsen auch alle ihre Einsichten und Kenntnisse wieder
zu einer Person zusammen, zu einem lebendigen
Vielfachen, dessen einzelne Teile voneinander abhängen,
ineinander greifen, gemeinsam ernährt werden, das als
Ganzes eine eigne Luft und einen eignen Geruch hat. -
Solche Naturen bringen, mit diesen ihren p e r s o n e n h a f t e n 
Erkenntnis-Gebilden, jene T ä u s c h u n g  hervor,
daß eine Wissenschaft (oder gar die ganze Philosophie)
fertig sei und am Ziele stehe; das L e b e n  in ihrem
Gebilde übt diesen Zauber aus: als welcher zuzeiten sehr
verhängnisvoll für die Wissenschaft und irreführend für
jene vorhin beschriebenen, eigentlich tüchtigen Arbeiter
des Geistes gewesen ist, zu andern Zeiten wiederum, als
die Dürre und die Ermattung herrschten, wie ein Labsal
und gleich dem Anhauche einer kühlen, erquicklichen Raststätte
gewirkt hat. - Gewöhnlich nennt man solche
Menschen P h i l o s o p h e n. 

172

A n e r k e n n u n g   d e s   T a l e n t s.  - Als ich durch
das Dorf S. ging, fing ein Knabe aus Leibeskräften an,
mit der Peitsche zu knallen, - er hatte es schon weit in
dieser Kunst gebracht und wußte es. Ich warf ihm einen
Blick der Anerkennung zu, - im Grunde tat mir's b i t t e r 
 w e h e.  - So machen wir es bei der Anerkennung vieler
Talente. Wir tun ihnen wohl, wenn sie uns wehe tun.

173

L a c h e n   u n d   L ä c h e l n.  - Je freudiger und sicherer
der Geist wird, um so mehr verlernt der Mensch das
laute Gelächter; dagegen quillt ihm ein geistiges Lächeln
fortwährend auf, ein Zeichen seines Verwunderns über
die zahllosen versteckten Annehmlichkeiten des guten
Daseins.

174

U n t e r h a l t u n g   d e r   K r a n k e n.  - Wie man bei
seelischem Kummer sich die Haare rauft, sich vor die Stirn
schlägt, die Wange zerfleischt oder gar wie Ödipus die
Augen ausbohrt: so ruft man gegen heftige körperliche
Schmerzen mitunter eine heftige bittere Empfindung zu
Hilfe, durch Erinnerung an Verleumder und Verdächtiger,
durch Verdüsterung unserer Zukunft, durch Bosheiten
und Dolchstiche, welche man im Geiste gegen Abwesende
schleudert. Und es ist bisweilen dabei wahr:
daß ein Teufel den andern austreibt, - aber man h a t 
dann den andern. - Darum sei den Kranken jene andere
Unterhaltung anempfohlen, bei der sich die Schmerzen
zu mildern scheinen: über Wohltaten und Artigkeiten
nachzudenken, welche man Freund und Feind erweisen
kann.

175

M e d i o k r i t ä t   a l s   M a s k e.  - Die Mediokrität ist
die glücklichste Maske, die der überlegene Geist tragen
kann, weil sie die große Menge, das heißt die Mediokren,
nicht an Maskierung denken läßt -: und doch nimmt er
sie gerade ihretwegen vor, - um sie nicht zu reizen, ja
nicht selten aus Mitleid und Güte.




176

Die Geduldigen. - Die Pinie scheint zu horchen,
die Tanne zu warten: und beide ohne Ungeduld: - sie
denken nicht an den kleinen Menschen unter sich, den
seine Ungeduld und seine Neugierde auffressen.



177

Die besten Scherze. - Der Scherz ist mir am
willkommensten, der an Stelle eines schweren, nicht
unbedenklichen Gedankens steht, zugleich als Wink mit dem
Finger und Blinzeln des Auges.

178

Zubehör aller Verehrung. - Überall, wo die
Vergangenheit verehrt wird, soll man die Säuberlichen
und Säubernden nicht einlassen. Der Pietät wird ohne
ein wenig Staub, Unrat und Unflat nicht wohl.

179

Die große Gefahr der Gelehrten. - Gerade die
tüchtigsten und gründlichsten Gelehrten sind in
der Gefahr, ihr Lebensziel immer niedriger gesteckt zu
sehen und, im Gefühl davon, in der zweiten Hälfte ihres
Lebens immer mißmutiger und unverträglicher zu werden.
Zuerst schwimmen sie mit breiten Hoffnungen in
ihre Wissenschaft hinein und messen sich kühnere Aufgaben zu,
deren Ziele mitunter durch ihre Phantasie
schon vorweggenommen werden: dann gibt es Augenblicke
wie im Leben der großen entdeckenden Schiffahrer, -
Wissen, Ahnung und Kraft heben einander immer höher,
bis eine ferne neue Küste zum ersten Male dem Auge
aufdämmert. Nun erkennt aber der strenge Mensch von
Jahr zu Jahr mehr, wie viel daran gelegen ist, daß die
Einzelaufgabe des Forschers so beschränkt wie möglich
genommen werde, damit sie ohne Rest gelöst werden
könne und jene unerträgliche Vergeudung von Kraft vermieden werde,
an welcher frühere Perioden der Wissenschaft litten: alle Arbeiten
wurden zehnmal gemacht, und
dann hatte immer noch der elfte das letzte und beste Wort
zu sagen. Je mehr aber der Gelehrte dieses Rätsel-Lösen
ohne Rest kennen lernt und übt, um so größer wird auch
seine Lust daran: aber ebenso wächst auch die Strenge
seiner Ansprüche in bezug auf das, was hier "ohne Rest"
genannt ist. Er legt alles beiseite, was in diesem Sinne
unvollständig bleiben muß, er gewinnt einen Widerwillen
und eine Witterung gegen das Halb-Lösbare, - gegen
alles, was nur im Ganzen und Unbestimmteren eine Art
Sicherheit ergeben kann. Seine Jugendpläne zerfallen
vor seinem Blicke: kaum bleiben einige Knoten und
Knötchen daraus übrig, an deren Entknüpfung jetzt der
Meister seine Lust hat, seine Kraft zeigt. Und nun, mitten
in dieser so nützlichen, so rastlosen Tätigkeit überfällt
ihn, den Ältergewordenen, plötzlich und dann öfter
wieder ein tiefer Mißmut, eine Art Gewissens-Qual: er sieht
auf sich hin, wie auf einen Verwandelten, als ob er
verkleinert, erniedrigt, zum kunstfertigen Z w e r g e n 
umgeschaffen wäre, er beunruhigt sich darüber, ob nicht das
meisterliche Walten im kleinen eine Bequemlichkeit sei,
eine Ausflucht vor der Mahnung zur Größe des Lebens
und Gestaltens. Aber er kann nicht mehr h i n ü b e r,
- die Zeit ist um.

180

Die Lehrer im Zeitalter der Bücher. -
Dadurch, daß die Selbst-Erziehung und Verbrüderungs-
Erziehung allgemeiner wird, muß der Lehrer in seiner
jetzt gewöhnlichen Form fast entbehrlich werden.
Lernbegierige Freunde, die sich zusammen ein Wissen aneignen
wollen, finden in unserer Zeit der Bücher einen kürzeren
und natürlicheren Weg, als "Schule" und "Lehrer" sind.

181

Die Eitelkeit als die große Nützlichkeit. -
Ursprünglich behandelt der starke Einzelne
nicht nur die Natur, sondern auch die Gesellschaft und
die schwächeren Einzelnen als Gegenstand des Raub-
Baues: er nützt sie aus, so viel er kann, und geht dann
weiter. Weil er sehr unsicher lebt, wechselnd zwischen
Hunger und Überfluß, so tötet er mehr Tiere, als er
verzehren kann, und plündert und mißhandelt die Menschen
mehr, als nötig wäre. Seine Machtäußerung ist eine
Racheäußerung zugleich gegen seinen pein- und angstvollen
Zustand: sodann will er für mächtiger gelten, als er ist,
und mißbraucht deshalb die Gelegenheiten: der
Furchtzuwachs, den er erzeugt, ist sein Machtzuwachs. Er merkt
zeitig, daß nicht das, was er i s t, sondern das, was er
g i l t, ihn trägt oder niederwirft: hier ist der Ursprung
der E i t e l k e i t. Der Mächtige sucht mit allen Mitteln
Vermehrung des G l a u b e n s  an seine Macht. - Die
Unterworfenen, die vor ihm zittern und ihm dienen,
wissen wiederum, daß sie genau so viel wert sind, als sie ihm
g e l t e n: weshalb sie auf diese Geltung hinarbeiten und
nicht auf ihre eigene Befriedigung an sich. Wir kennen die
Eitelkeit nur in den abgeschwächtesten Formen, in ihren
Sublimierungen und kleinen Dosen, weil wir in einem
späten und sehr gemilderten Zustande der Gesellschaft
leben: ursprünglich ist sie d i e   g r o ß e   N ü t z l i c h k e i t,
das stärkste Mittel der Erhaltung. Und zwar wird die
Eitelkeit um so größer sein, je klüger der einzelne ist: weil
die Vermehrung des Glaubens an Macht leichter ist, als die
Vermehrung der Macht selber, aber nur für den, der G e i s t 
hat - oder, wie es für Urzustände heißen muß, der
l i s t i g  und h i n t e r h a l t i g  ist.

182

Wetterzeichen der Kultur. - Es gibt so
wenig entscheidende Wetterzeichen der Kultur, daß man
froh sein muß, für seinen Haus- und Gartengebrauch
wenigstens e i n  untrügliches in den Händen zu haben. Um
zu prüfen, ob jemand zu uns gehört oder nicht - ich
meine zu den freien Geistern -, so prüfe man seine
Empfindung für das Christentum. Steht er irgendwie anders zu
ihm als k r i t i s c h, so kehren wir ihm den Rücken: er
bringt uns unreine Luft und schlechtes Wetter. - 
U n s e r e  Aufgabe ist es nicht mehr, solche Menschen zu
lehren, was ein Skirokko-Wind ist; sie haben Mosen und die
Propheten des Wetters und der Aufklärung: wollen sie
diese nicht hören, so -

183

Zürnen und strafen hat seine Zeit. -
Zürnen und strafen ist unser Angebinde von der Tierheit her.
Der Mensch wird erst mündig, wenn er dies
Wiegengeschenk den Tieren zurückgibt. - Hier liegt einer der
größten Gedanken vergraben, welche Menschen haben
können, der Gedanke an einen Fortschritt aller
Fortschritte. - Gehen wir einige Jahrtausende miteinander
vorwärts, meine Freunde! Es ist s e h r   v i e l  Freude noch
den Menschen vorbehalten, wovon den Gegenwärtigen
noch kein Geruch zugeweht ist! Und zwar dürfen wir
uns diese Freude versprechen, ja als etwas Notwendiges
verheißen und beschwören, im Fall nur die Entwicklung
der menschlichen Vernunft n i c h t   s t i l l e   s t e h t !
Einstmals wird man die l o g i s c h e  Sünde, welche im Zürnen
und Strafen, einzeln oder gesellschaftsweise geübt,
verborgen liegt, n i c h t   m e h r   ü b e r s   H e r z  bringen:
einstmals, wenn Herz und Kopf so nah beieinander zu wohnen
gelernt haben, wie sie jetzt noch einander ferne stehen.
Daß sie sich n i c h t   m e h r   s o   f e r n e   s t e h e n  wie
ursprünglich, ist beim Blick auf den ganzen Gang der
Menschheit ziemlich ersichtlich; und der einzelne, der ein
Leben innerer Arbeit zu überschauen hat, wird mit
stolzer Freude sich der überwundenen Entfernung, der
erreichten Annäherung bewußt werden, um daraufhin noch
größere Hoffnungen wagen zu dürfen.

184

Abkunft der "Pessimisten". - Ein Bissen
guter Nahrung entscheidet oft, ob wir mit hohlem Auge
oder hoffnungsreich in die Zukunft schauen: dies reicht
ins Höchste und Geistigste hinauf. Die Unzufriedenheit
und Welt-Schwärzerei ist dem gegenwärtigen Geschlechte
von den ehemaligen Hungerleidern her v e r e r b t. Auch
unsern Künstlern und Dichtern merkt man häufig an,
wenn sie selber auch noch so üppig leben, daß sie von
keiner guten Herkunft sind, daß sie von unterdrückt
lebenden und schlecht genährten Vorfahren mancherlei ins
Blut und Gehirn mitbekommen haben, was als Gegenstand
und gewählte Farbe in ihrem Werke wieder sichtbar
wird. Die Kultur der Griechen ist die der Vermögenden,
und zwar der Altvermögenden: sie lebten ein paar
Jahrhunderte hindurch b e s s e r  als wir (in jedem Sinne
besser, namentlich viel einfacher in Speise und Trank): da
wurden endlich die Gehirne so voll und fein zugleich, da
floß das Blut so rasch hindurch, einem freudigen, hellen
Weine gleich, daß das Gute und Beste bei ihnen nicht mehr
düster, verzückt und gewaltsam, sondern schön und
sonnenhaft heraustrat.

185

Vom vernünftigen Tode. - Was ist
vernünftiger, die Maschine stillzustellen, wenn das Werk, das man
von ihr verlangte, ausgeführt ist, - oder sie laufen zu
lassen, bis sie von selber stille steht, das heißt bis sie
verdorben ist? Ist letzteres nicht eine Vergeudung der
Unterhaltungskosten, ein Mißbrauch mit der Kraft und
Aufmerksamkeit der Bedienenden? Wird hier nicht
weggeworfen, was anderswo sehr not täte? Wird nicht selbst eine
Art Mißachtung gegen die Maschinen überhaupt verbreitet
dadurch, daß viele von ihnen so nutzlos unterhalten und
bedient werden? -Ich spreche vom unfreiwilligen
(natürlichen) und vom freiwilligen (vernünftigen) Tode. Der
natürliche Tod ist der von aller Vernunft unabhängige,
der eigentlich u n v e r n ü n f t i g e  Tod, bei dem die
erbärmliche Substanz der Schale darüber bestimmt, wie
lange der Kern bestehen soll oder nicht: bei dem also
der verkümmernde, oft kranke und stumpfsinnige
Gefängniswärter der Herr ist, der den Punkt bezeichnet, wo
sein vornehmer Gefangener sterben soll. Der natürliche
Tod ist der Selbstmord der Natur, das heißt die
Vernichtung des vernünftigen Wesens durch das unvernünftige,
welches an das erstere gebunden ist. Nur unter der
religiösen Beleuchtung kann es umgekehrt erscheinen: weil
dann, wie billig, die höhere Vernunft (Gottes) ihren
Befehl gibt, dem die niedere Vernunft sich zu fügen hat.
Außerhalb der religiösen Denkungsart ist der natürliche
Tod keiner Verherrlichung wert. - Die weisheitsvolle
Anordnung und Verfügung des Todes gehört in jene jetzt
ganz unfaßbar und unmoralisch klingende Moral der
Zukunft, in deren Morgenröte zu blicken ein
unbeschreibliches Glück sein muß.

186

Zurückbildend. - Alle Verbrecher zwingen die
Gesellschaft auf frühere Stufen der Kultur zurück, als die
ist, auf welcher sie gerade steht; sie wirken
zurückbildend. Man denke an die Werkzeuge, welche die
Gesellschaft der Notwehr halber sich schaffen und unterhalten
muß: an den verschmitzten Polizisten, den
Gefängniswärter, den Henker; man vergesse den öffentlichen
Ankläger und den Advokaten nicht; endlich frage man sich,
ob nicht der Richter selber und die Strafe und das ganze
Gerichtsverfahren in ihrer Wirkung auf die 
Nicht-Verbrecher viel eher niederdrückende, als erhebende
Erscheinungen sind; es wird eben nie gelingen, der Notwehr und
der Rache das Gewand der Unschuld umzulegen; und so
oft man den Menschen als ein Mittel zum Zwecke der
Gesellschaft benutzt und opfert, trauert alle höhere
Menschlichkeit darüber.

187

Krieg als Heilmittel. - Matt und erbärmlich
werdenden Völkern mag der Krieg als Heilmittel
anzuraten sein, falls sie nämlich durchaus noch fortleben
wollen: denn es gibt für die Völker-Schwindsucht auch eine
Brutalitäts-Kur. Das ewige Leben-wollen und
Nichtsterben-können ist aber selber schon ein Zeichen von
Greisenhaftigkeit der Empfindung: je voller und tüchtiger man
lebt, um so schneller ist man bereit, das Leben für eine
einzige gute Empfindung dahinzugeben. Ein Volk, das so
lebt und empfindet, hat die Kriege nicht nötig.

188

Geistige und leibliche Verpflanzung als
Heilmittel. - Die verschiedenen K u l t u r e n  sind
verschiedene geistige Klimata, von denen ein jedes diesem
oder jenem Organismus vornehmlich schädlich oder
heilsam ist. Die H i s t o r i e  im Ganzen, als das Wissen um
die verschiedenen Kulturen, ist die H e i l m i t t e l l e h r e,
nicht aber die Wissenschaft der Heilkunst selber. Der
A r z t  ist erst recht noch nötig, der sich dieser
Heilmittellehre bedient, um jeden in sein ihm gerade ersprießliches
Klima zu senden - zeitweilig oder auf immer. In der
Gegenwart leben, innerhalb einer einzigen Kultur, genügt
nicht als allgemeines Rezept, dabei würden zu viele höchst
nützliche Arten von Menschen aussterben, die in ihr nicht
gesund atmen können. Mit der Historie muß man ihnen
L u f t  machen und sie zu erhalten suchen; auch die
Menschen zurückgebliebener Kulturen haben ihren Wert. -
Dieser Kur der Geister steht zur Seite, daß die
Menschheit in leiblicher Beziehung danach streben muß, durch
eine medizinische Geographie dahinterzukommen, zu
welchen Entartungen und Krankheiten jede Gegend der Erde
Anlaß gibt, und umgekehrt, welche Heilfaktoren sie
bietet: und dann müssen allmählich Völker, Familien
und Einzelne so lange und so anhaltend verpflanzt
werden, bis man über die angeerbten physischen Gebrechen
Herr geworden ist. Die ganze Erde wird endlich eine
Summe von Gesundheits-Stationen sein.

189

Der Baum der Menschheit und die
Vernunft. - Das, was ihr als Übervölkerung der Erde
in greisenhafter Kurzsichtigkeit fürchtet, gibt dem
Hoffnungsvolleren eben die große Aufgabe in die Hand: die
Menschheit soll einmal ein Baum werden, der die ganze
Erde überschattet, mit vielen Milliarden von Blüten, die
alle nebeneinander Früchte werden sollen, und die Erde
selbst soll zur Ernährung dieses Baumes vorbereitet
werden. Daß der jetzige n o c h   k l e i n e  Ansatz dazu an Saft
und Kraft zunehme, daß in unzähligen Kanälen der Saft
zur Ernährung des Ganzen und des Einzelnen umströme
- aus diesen und ähnlichen Aufgaben ist der M a ß s t a b 
zu entnehmen, ob ein jetziger Mensch nützlich oder
unnütz ist. Die Aufgabe ist unsäglich groß und kühn: wir
alle wollen dazutun, daß der Baum nicht vor der Zeit
verfaule! Dem historischen Kopfe gelingt es wohl, das
menschliche Wesen und Treiben sich im Ganzen der Zeit
so vor die Augen zu stellen, wie uns allen das Ameisen-
Wesen mit seinen kunstvoll getürmten Haufen vor Augen
steht. Oberflächlich beurteilt, würde auch das gesamte
Menschentum gleich dem Ameisentum von "Instinkt"
reden lassen. Bei strengerer Prüfung nehmen wir wahr,
wie ganze Völker, ganze Jahrhunderte sich abmühen, neue
Mittel ausfindig zu machen und a u s z u p r o b i e r e n,
womit man einem großen menschlichen Ganzen und
zuletzt dem großen Gesamt-Fruchtbaume der Menschheit
wohltun könne; und was auch immer bei diesem
Ausprobieren die Einzelnen, die Völker und die Zeiten für
Schaden leiden, durch diesen Schaden sind jedesmal einzelne
k l u g  geworden, und von ihnen aus strömt die Klugheit
langsam auf die Maßregeln ganzer Völker, ganzer Zeiten
über. Auch die Ameisen irren und vergreifen sich; die
Menschheit kann recht wohl durch Torheit der Mittel
verderben und verdorren, vor der Zeit, es gibt weder für
jene, noch für diese einen sicher führenden Instinkt. Wir
müssen vielmehr der großen Aufgabe i n s   G e s i c h t 
 s e h e n, die Erde für ein Gewächs der größten und
freudigsten Fruchtbarkeit v o r z u b e r e i t e n, - einer
Aufgabe der Vernunft für die Vernunft!

190

Das Lob des Uneigennützigen und sein
Ursprung. - Zwischen zwei nachbarlichen
Häuptlingen war seit Jahren Hader: man verwüstete einander
die Saaten, führte Herden weg, brannte Häuser nieder,
mit einem unentschiedenen Erfolge im Ganzen, weil ihre
Macht ziemlich gleich war. Ein Dritter, der durch die
abgeschlossene Lage seines Besitztums von diesen Fehden
sich fernhalten konnte, aber doch Grund hatte, den Tag
zu fürchten, an dem einer dieser händelsüchtigen
Nachbarn entscheidend zum Übergewicht kommen würde, trat
endlich zwischen die Streitenden, mit Wohlwollen und
Feierlichkeit: und im Geheimen legte er auf seinen
Friedensvorschlag ein schweres Gewicht, indem er jedem
einzeln zu verstehen gab, fürderhin gegen den, welcher sich
wider den Frieden sträube, mit dem andern gemeinsame
Sache zu machen. Man kam vor ihm zusammen, man
legte zögernd in seine Hand die Hände, welche bisher
die Werkzeuge und allzuoft die Ursache des Hasses
gewesen waren, - und wirklich, man versuchte es ernstlich
mit dem Frieden. Jeder sah mit Erstaunen, wie
plötzlich sein Wohlstand, sein Behagen wuchs, wie man jetzt
am Nachbar einen kaufs- und verkaufsbereiten Händler,
anstatt eines tückischen oder offen höhnenden Übeltäters,
hatte, wie selbst, in unvorhergesehenen Notfällen, man
sich gegenseitig aus der Not ziehen konnte, anstatt, wie
es bisher geschehen, diese Not des Nachbars auszunutzen
und aufs höchste zu steigern; ja es schien, als ob der
Menschenschlag in beiden Gegenden sich seitdem
verschönert hätte: denn die Augen hatten sich erhellt, die
Stirnen sich entrunzelt, allen war das Vertrauen zur
Zukunft zu eigen geworden,- und nichts ist den Seelen
und Leibern der Menschen förderlicher, als dies Vertrauen.
Man sah einander alle Jahre am Tage des Bündnisses
wieder, die Häuptlinge sowohl wie deren Anhang: und
zwar vor dem Angesicht des Mittlers, dessen
Handlungsweise man, je größer der Nutzen war, den man ihr
verdankte, immer mehr anstaunte und verehrte. Man nannte
sie u n e i g e n n ü t z i g  - man hatte den Blick viel zu
fest auf den eigenen, seither eingeernteten Nutzen
gerichtet, um von der Handlungsweise des Nachbars mehr
zu sehen, als daß sein Zustand infolge derselben sich nicht
so verändert habe wie der eigene: er war vielmehr,
derselbe geblieben, und so schien es, daß jener den Nutzen
nicht im Auge gehabt habe. Zum ersten Male sagte man
sich, daß die Uneigennützigkeit eine Tugend sei: gewiß
mochten im Kleinen und Privaten sich oftmals bei ihnen
ähnliche Dinge ereignet haben, aber man hatte das
Augenmerk für diese Tugend erst, als sie zum ersten Male in
ganz großer Schrift, lesbar für die ganze Gemeinde, an
die Wand gemalt wurde. Erkannt als Tugenden, zu
Namen gekommen, in Schätzung gebracht, zur Aneignung
anempfohlen sind die moralischen Eigenschaften erst von
dem Augenblicke an, da sie s i c h t b a r  über Glück und
Verhängnis ganzer Gesellschaften entschieden haben: dann
ist nämlich die Höhe der Empfindung und die Erregung
der inneren schöpferischen Kräfte bei v i e l e n  so groß,
daß man dieser Eigenschaft Geschenke bringt, vom Besten,
was jeder hat: der Ernste legt ihr seinen Ernst zu
Füßen, der Würdige seine Würde, die Frauen ihre Milde,
die Jünglinge alles Hoffnungs- und Zukunftsreiche ihres
Wesens; der Dichter leiht ihr Worte und Namen, reiht
sie in den Reigentanz ähnlicher Wesen ein, gibt ihr einen
Stammbaum und betet zuletzt, wie es Künstler tun,
das Gebilde seiner Phantasie als neue Gottheit an -
er lehrt sie anbeten. So wird eine Tugend, weil die
Liebe und die Dankbarkeit aller an ihr arbeitet, wie an
einer Bildsäule, zuletzt eine A n s a m m l u n g  des Guten
und Verehrungswürdigen, eine Art Tempel und göttlicher
Person zugleich. Sie steht fürderhin als einzelne Tugend
da, als ein Wesen für sich, was sie bis dahin nicht war,
und übt die Rechte und die Macht einer geheiligten
Übermenschlichkeit aus. - Im späteren Griechenland standen
die Städte voll von solchen vergottmenschlichten
Abstrakten (man verzeihe das absonderliche Wort um des
absonderlichen Begriffs willen); das Volk hatte sich auf
seine Art einen platonischen "Ideenhimmel" inmitten
seiner Erde hergerichtet, und ich glaube nicht, daß dessen
Inwohner weniger lebendig empfunden wurden, als irgend
eine althomerische Gottheit.

191

Dunkel - Zeiten. - "Dunkel-Zeiten" nennt man
solche in Norwegen, da die Sonne den ganzen Tag unter
dem Horizonte bleibt: die Temperatur fällt dabei
fortwährend langsam. - Ein schönes Gleichnis für alle
Denker, welchen die Sonne der Menschheits-Zukunft
zeitweilig verschwunden ist.

192

Der Philosoph der Üppigkeit. - Ein
Gärtchen, Feigen, kleine Käse und dazu drei oder vier gute
Freunde, - das war die Üppigkeit Epikurs.

193

Die Epochen des Lebens. - Die eigentlichen
Epochen im Leben sind jene kurze Zeiten des Stillstandes,
mitten inne zwischen dem Aufsteigen und Absteigen eines
regierenden Gedankens oder Gefühls. Hier ist wieder
einmal S a t t h e i t  da: alles andere ist Durst und Hunger
- oder Überdruß.

194

Der Traum. - Unsere Träume sind, wenn sie
einmal ausnahmsweise gelingen und vollkommen werden
- für gewöhnlich ist, der Traum eine Pfuscher-Arbeit -,
symbolische Szenen- und Bilder-Ketten an Stelle einer
erzählenden Dichter-Sprache; sie umschreiben unsere
Erlebnisse oder Erwartungen oder Verhältnisse mit
dichterischer Kühnheit und Bestimmtheit, daß wir dann
morgens immer über uns erstaunt sind, wenn wir uns unserer
Träume erinnern. Wir verbrauchen im Traume zu viel
Künstlerisches - und sind deshalb am Tage oft zu arm
daran.

195

Natur und Wissenschaft. - Ganz wie in der
Natur werden auch in der Wissenschaft die schlechteren
unfruchtbareren Gegenden zuerst gut angebaut - weil
hierfür eben die Mittel der a n g e h e n d e n  Wissenschaft
ungefähr ausreichen. Die Bearbeitung der fruchtbarsten
Gegenden setzt eine sorgsam entwickelte, ungeheure Kraft
von Methoden, gewonnene Einzel-Resultate und eine
organisierte Schar von Arbeitern, gut geschulten
Arbeitern, voraus;- dies alles findet sich erst spät
zusammen. - Die Ungeduld und der Ehrgeiz greifen oft zu
früh nach diesen fruchtbarsten Gegenden; aber die
Ergebnisse sind dann gleich Null. In der Natur würden
sich solche Versuche dadurch rächen, daß die Ansiedler
verhungerten.

196

Einfachleben. - Eine einfache Lebensweise ist
jetzt schwer: dazu tut viel mehr Nachdenken und
Erfindungsgabe not, als selbst sehr gescheite Leute haben.
Der Ehrlichste von ihnen wird vielleicht noch sagen:
"Ich habe nicht die Zeit, darüber so lange nachzudenken.
Die einfache Lebensweise ist für mich ein zu vornehmes
Ziel; ich will warten, bis Weisere, als ich bin, sie gefunden
haben."

197

Spitzen und Spitzchen. - Die geringe
Fruchtbarkeit, die häufige Ehelosigkeit und überhaupt die
geschlechtliche Kühle der höchsten und kultiviertesten
Geister, sowie der zu ihnen gehörenden Klassen, ist
wesentlich in der Ökonomie der Menschheit: die Vernunft
erkennt und macht Gebrauch davon, daß bei einem
äußersten Punkte der geistigen Entwicklung die Gefahr einer
n e r v ö s e n  Nachkommenschaft sehr groß ist: solche
Menschen sind S p i t z e n  der Menschheit - sie dürfen
nicht weiter in Spitzchen auslaufen.

198

Keine Natur macht Sprünge. - Wenn der
Mensch sich noch so stark fortentwickelt und aus einem
Gegensatz in den andern überzuspringen scheint: bei
genaueren Beobachtungen wird man doch die
V e r z a h n u n g e n  auffinden, wo das neue Gebäude aus dem
älteren herauswächst. Dies ist die Aufgabe des Biographen:
er muß nach dem Grundsatze über das Leben denken, daß
keine Natur Sprünge macht.

199

Zwar reinlich. - Wer sich mit reingewaschenen
Lumpen kleidet, kleidet sich zwar reinlich, aber doch
lumpenhaft.

200

Der Einsame spricht. - Man erntet als Lohn
für vielen Überdruß, Mißmut, Langeweile - wie dies
alles eine Einsamkeit ohne Freunde, Bücher, Pflichten,
Leidenschaften mit sich bringen muß - jene
Viertelstunden tiefster Einkehr in sich und die Natur. Wer sich völlig
gegen die Langeweile verschanzt, verschanzt sich auch
gegen sich selber: den kräftigsten Labetrunk aus dem
eigenen innersten Born wird er nie zu trinken bekommen.

201

Falsche Berühmtheit. - Ich hasse jene
angeblichen Naturschönheiten, welche im Grunde nur durch
das Wissen, namentlich das geographische, etwas bedeuten,
an sich aber dem schönheitsdurstigen Sinne dürftig
bleiben: zum Beispiel die Ansicht des Mont blanc von Genf
aus - etwas Unbedeutendes ohne die zu Hilfe eilende
Gehirnfreude des Wissens; die näheren Berge dort sind
alle schöner und ausdrucksvoller - aber "lange nicht so
hoch", wie jenes absurde Wissen, zur Abschwächung,
hinzufügt. Das Auge widerspricht dabei dem Wissen: wie
soll es sich im Widersprechen wahrhaft freuen können!

202

Vergnügungs-Reisende. - Sie steigen wie
Tiere den Berg hinauf, dumm und schwitzend; man hatte
ihnen zu sagen vergessen, daß es unterwegs schöne
Aussichten gebe.

203

Zu viel und zu wenig. - Die Menschen
durchleben jetzt alle zu viel und durchdenken zu wenig: sie
haben Heißhunger und Kolik zugleich und werden
deshalb immer magerer, so viel sie auch essen. - Wer jetzt
sagt: "ich habe nichts erlebt" - ist ein Dummkopf.

204

Ende und Ziel. - Nicht jedes Ende ist das Ziel.
Das Ende der Melodie ist nicht deren Ziel; aber
trotzdem: hat die Melodie ihr Ende nicht erreicht, so hat sie
auch ihr Ziel nicht erreicht. Ein Gleichnis.

205

Neutralität der großen Natur. - Die
Neutralität der großen Natur (in Berg, Meer, Wald und
Wüste) gefällt, aber nur eine kurze Zeit: nachher werden
wir ungeduldig. "Wollen denn diese Dinge gar nichts zu
uns sagen? Sind wir für sie nicht da?" Es entsteht das
Gefühl eines.

206

Die Absichten vergessen. - Man vergißt
über der Reise gemeinhin deren Ziel. Fast jeder Beruf
wird als Mittel zu einem Zwecke gewählt und begonnen,
aber als letzter Zweck fortgeführt. Das Vergessen der
Absichten ist die häufigste Dummheit, die gemacht wird.

207

Sonnenbahn der Idee. - Wenn eine Idee am
Horizonte eben aufgeht, ist gewöhnlich die Temperatur
der Seele dabei sehr kalt. Erst allmählich entwickelt die
Idee ihre Wärme, und am heißesten ist diese (das heißt
sie tut ihre größten Wirkungen), wenn der Glaube an
die Idee schon wieder im Sinken ist.

208

Wodurch man alle wider sich hätte. -
Wenn jetzt jemand zu sagen wagte: "wer nicht für mich
ist, der ist wider mich", so hätte er sofort alle wider sich.
- Diese Empfindung macht unserm Zeitalter Ehre.

209

Sich des Reichtums schämen. - Unsere Zeit
verträgt nur eine einzige Gattung von Reichen, solche,
welche sich ihres Reichtums s c h ä m e n. Hört man von
jemandem "er ist sehr reich", so hat man dabei sofort
eine ähnliche Empfindung wie beim Anblick einer
widerlich anschwellenden Krankheit, einer Fett- oder
Wassersucht: man muß sich gewaltsam seiner Humanität
erinnern, um mit einem solchen Reichen so verkehren zu
können, daß er von unserm Ekelgefühle nichts merkt.
Sobald er aber gar sich etwas auf seinen Reichtum
zugute tut, so mischt sich zu unserm Gefühle die fast
mitleidige Verwunderung über einen so hohen Grad der
menschlichen Unvernunft: so daß man die Hände gen
Himmel erheben und rufen möchte "armer Entstellter,
Überbürdeter, hundertfach Gefesselter, dem jede Stunde
etwas Unangenehmes bringt o d e r   b r i n g e n   k a n n, in
dessen Gliedern j e d e s  Ereignis von zwanzig Völkern
nachzuckt, wie magst du uns glauben machen, daß du
dich in deinem Zustande wohlfühlst! Wenn du irgendwo
öffentlich erscheinst, so wissen wir, daß es eine Art
Spießrutenlaufens ist, unter lauter Blicken, welche für
dich nur kalten Haß oder Zudringlichkeit oder
schweigsamen Spott haben. Dein Erwerben mag leichter sein als
das der anderen: aber es ist ein überflüssiges Erwerben,
welches wenig Freude macht, und dein B e w a h r e n  alles
Erworbenen ist jedenfalls jetzt ein mühseligeres Ding
als irgend ein mühseliges Erwerben. Du leidest f o r t   - 
 w ä h r e n d, denn du verlierst fortwährend. Was nützt
es dir, daß man dir immer neues künstliches Blut
zuführt: deshalb tun doch die Schröpfköpfe nicht weniger
weh, die auf deinem Nacken sitzen, beständig sitzen!-
Aber, um nicht unbillig zu werden, es ist schwer,
vielleicht unmöglich für dich, n i c h t  reich zu sein: du m u ß t 
bewahren, m u ß t  neu erwerben, der vererbte Hang
deiner Natur ist das J o c h  über dir - aber deshalb täusche
uns nicht und s c h ä m e  dich ehrlich und sichtlich des
Joches, das du trägst: da du ja im Grunde deiner Seele
müde und unwillig bist, es zu tragen. Diese Scham
schändet nicht."

210

Ausschweifung in der Anmaßung. - Es
gibt so anmaßende Menschen, daß sie eine Größe, welche
sie öffentlich bewundern, nicht anders zu loben wissen, als
indem sie dieselbe als Vorstufe und Brücke, die zu i h n e n 
führt, darstellen.

211

Auf dem Boden der Schmach. - Wer den
Menschen eine Vorstellung nehmen will, tut sich
gewöhnlich nicht genug damit, sie zu widerlegen und den
unlogischen Wurm, der in ihr sitzt, herauszuziehen: vielmehr
wirft er, nachdem der Wurm getötet ist, die ganze Frucht
auch noch in den K o t, um sie den Menschen
unansehnlich zu machen und Ekel vor ihr einzuflößen. So glaubt
er das Mittel gefunden zu haben, die bei widerlegten
Vorstellungen so gewöhnliche "Wiederauferstehung am dritten
Tage" unmöglich zu machen. - Er irrt sich, denn gerade
auf dem B o d e n   d e r   S c h m a c h, inmitten des
Unflates, treibt der Fruchtkern der Vorstellung schnell neue
Keime. - Also: ja nicht verhöhnen, beschmutzen, was
man endgültig beseitigen will, sondern es achtungsvoll
a u f   E i s   l e g e n, immer und immer wieder, in
Anbetracht, daß Vorstellungen ein sehr zähes Leben haben.
Hier muß man nach der Maxime handeln: "Eine
Widerlegung ist keine Widerlegung."

212

Los der Moralität. - Da die Gebundenheit der
Geister abnimmt, ist sicherlich die Moralität (die
vererbte, überlieferte, instinkthafte Handlungsweise n a c h 
 m o r a l i s c h e n   G e f ü h l e n ) ebenfalls in Abnahme:
nicht aber die einzelnen Tugenden, Mäßigkeit,
Gerechtigkeit, Seelenruhe, - denn die größte Freiheit des
bewußten Geistes führt einmal schon unwillkürlich zu ihnen hin
und rät sie sodann auch als n ü t z l i c h  an.

213

Der Fanatiker des Mißtrauens und seine
Bürgschaft. - D e r   A l t e: Du willst das
Ungeheure wagen und die Menschen im Großen belehren? Wo
ist deine Bürgschaft? - P y r r h o n: Hier ist sie: ich will
die Menschen vor mir selber warnen, ich will alle Fehler
meiner Natur öffentlich bekennen und meine
Übereilungen, Widersprüche und Dummheiten vor aller Augen
bloßstellen. Hört nicht auf mich, will ich ihnen sagen, bis ich
nicht eurem Geringsten gleich geworden bin, und noch
geringer bin, als er; sträubt euch gegen die Wahrheit, so
lange ihr nur könnt, aus Ekel vor dem, der ihr
Fürsprecher ist. Ich werde euer Verführer und Betrüger sein, wenn
ihr noch den mindesten Glanz von Achtbarkeit und
Würde an mir wahrnehmt. - D e r   A l t e: Du versprichst
zuviel, du kannst diese Last nicht tragen - P y r r h o n  -
So will ich auch dies den Menschen sagen, daß ich zu
schwach bin und nicht halten kann, was ich verspreche. Je
größer meine Unwürdigkeit, um so mehr werden sie der
Wahrheit mißtrauen, wenn sie durch meinen Mund geht.
- D e r   A l t e: Willst du denn der Lehrer des
Mißtrauens gegen die Wahrheit sein? - P y r r h o n: Des
Mißtrauens, wie es noch nie in der Welt war, des
Mißtrauens gegen Alles und Jedes. Es ist der einzige Weg zur
Wahrheit. Das rechte Auge darf dem linken nicht trauen,
und Licht wird eine Zeitlang Finsternis heißen müssen:
dies ist der Weg, den ihr gehen müßt. Glaubt nicht, daß
er euch zu Fruchtbäumen und schönen Weiden führe.
Kleine harte Körner werdet ihr auf ihm finden, - das
sind die Wahrheiten: Jahrzehntelang werdet ihr die Lügen
händevoll verschlingen müssen, um nicht Hungers zu
sterben, ob ihr schon wisset, daß es Lügen sind. Jene
Körner aber werden gesäet und eingegraben, und
vielleicht, vielleicht gibt es einmal einen Tag der Ernte:
niemand darf ihn v e r s p r e c h e n, er sei denn ein
Fanatiker. - D e r   A l t e: Freund, Freund! Auch deine Worte
sind die des Fanatikers! - P y r r h o n: Du hast recht!
ich will gegen alle Worte mißtrauisch sein. - D e r   A l t e:
Dann wirst du schweigen müssen. - P y r r h o n: Ich
werde den Menschen sagen, daß ich schweigen muß und
daß sie meinem Schweigen mißtrauen sollen. - D e r 
 A l t e: Du trittst also von deinem Unternehmen zurück?
- P y r r h o n: Vielmehr- du hast mir eben das Tor
gezeigt, durch welches ich gehen muß. - D e r   A l t e: Ich
weiß nicht -: verstehen wir uns jetzt noch völlig? -
P y r r h o n: Wahrscheinlich nicht. - D e r   A l t e: Wenn
du dich nur selber völlig verstehst! - Pyrrhon dreht
sich um und lacht. - D e r   A l t e: Ach Freund!
Schweigen und Lachen - ist das jetzt deine ganze Philosophie?
- P y r r h o n: Es wäre nicht die schlechteste.-

214

Europäische Bücher. - Man ist beim Lesen
von Montaigne, La Rochefoucauld, La Bruyere, Fontenelle
(namentlich der ), Vauvenargues,
Chamfort dem Altertum näher als bei irgend welcher
Gruppe von sechs Autoren anderer Völker. Durch jene
Sechs ist der G e i s t   d e r   l e t z t e n   J a h r h u n d e r t e 
der a l t e n  Zeitrechnung wieder erstanden - sie
zusammen bilden ein wichtiges Glied in der großen noch
fortlaufenden Kette der Renaissance. Ihre Bücher erheben
sich über den Wechsel des nationalen Geschmacks und
der philosophischen Färbungen, in denen für gewöhnlich
jetzt jedes Buch schillert und schillern muß, um berühmt
zu werden: sie enthalten mehr w i r k l i c h e 
 G e d a n k e n  als alle Bücher deutscher Philosophen
zusammengenommen: Gedanken von der Art, welche Gedanken
macht, und die - ich bin in Verlegenheit zu Ende zu
definieren; genug, daß es mir Autoren zu sein scheinen, welche
weder für Kinder noch für Schwärmer geschrieben haben,
weder für Jungfrauen noch für Christen, weder für
Deutsche noch für - ich bin wieder in Verlegenheit, meine
Liste zu schließen. - Um aber ein deutliches Lob zu
sagen: sie wären, griechisch geschrieben, auch von Griechen
verstanden worden. Wieviel hätte dagegen selbst ein Plato
von den Schriften unserer besten deutschen Denker, zum
Beispiel Goethes und Schopenhauers, überhaupt verstehen
k ö n n e n, von dem Widerwillen zu schweigen, welchen
ihre Schreibart ihm erregt haben würde, nämlich das
Dunkle, Übertriebene und gelegentlich wieder
Klapperdürre, - Fehler, an denen die Genannten noch am
wenigsten von den deutschen Denkern und doch noch allzuviel
leiden (Goethe, als Denker, hat die Wolke lieber umarmt,
als billig ist, und Schopenhauer wandelt nicht ungestraft
fast fortwährend unter Gleichnissen der Dinge statt unter
den Dingen selber). - Dagegen, welche Helligkeit und
zierliche Bestimmtheit bei jenen Franzosen! Diese Kunst
hätten auch die feinohrigsten Griechen gutheißen müssen,
und eines würden sie sogar bewundert und angebetet
haben, den französischen Witz des Ausdrucks: so etwas
l i e b t e n  sie sehr, ohne gerade darin besonders stark zu
sein.

215

Mode und modern. - Überall, wo noch die
Unwissenheit, die Unreinlichkeit, der Aberglaube im
Schwange sind, wo der Verkehr lahm, die Landwirtschaft
armselig, die Priesterschaft mächtig ist, da finden sich
auch noch die N a t i o n a I t r a c h t e n. Dagegen herrscht
die M o d e, wo die Anzeichen des Entgegengesetzten sich
finden. Die Mode ist also neben den Tugenden des
jetzigen Europa zu finden: sollte sie wirklich deren
Schattenseite sein? - Zunächst sagt die m ä n n l i c h e 
Bekleidung, welche modisch und nicht mehr national ist, von
dem, der sie trägt, aus, daß der Europäer nicht als
E i n z e l n e r  noch als S t a n d e s -   u n d   V o l k s g e n o s s e 
 a u f f a l l e n  will, daß er sich eine absichtliche Dämpfung
dieser Arten von Eitelkeit zum Gesetz gemacht hat: dann,
daß er arbeitsam ist und nicht viel Zeit zum Ankleiden
und Sich-putzen hat, auch alles Kostbare und Üppige in
Stoff und Faltenwurf im Widerspruch mit seiner Arbeit
findet; endlich, daß er durch seine Tracht auf die
gelehrteren und geistigeren Berufe als die hinweist, welchen
er als europäischer Mensch am nächsten steht oder stehen
möchte: während durch die noch vorhandenen
Nationaltrachten der Räuber, der Hirt oder der Soldat als die
wünschbarsten und tonangebenden Lebensstellungen
hindurchschimmern. Innerhalb dieses Gesamt-Charakters der
männlichen Mode gibt es dann jene kleinen
Schwankungen, welche die Eitelkeit der jungen Männer, der Stutzer
und Nichtstuer der großen Städte hervorbringt, also
d e r e r,   w e l c h e   a l s   e u r o p ä i s c h e   M e n s c h e n 
 n o c h   n i c h t   r e i f   g e w o r d e n   s i n d. - Die
europäischen Frauen sind dies n o c h   v i e l   w e n i g e r,
weshalb die Schwankungen bei ihnen viel größer sind: sie
wollen auch das Nationale nicht und hassen es, als
Deutsche, Franzosen, Russen an der Kleidung erkannt zu
werden, aber als einzelne wollen sie sehr gern auffallen;
ebenso soll niemand schon durch ihre Bekleidung im
Zweifel gelassen werden, daß sie zu einer angeseheneren Klasse
der Gesellschaft (zur "guten" oder "hohen" oder "großen"
Welt) gehören, und zwar wünschen sie nach dieser
Seite hin gerade um so mehr voreinzunehmen, als sie nicht
oder kaum zu jener Klasse gehören. Vor allem aber will
die junge Frau nichts tragen, was die etwas ältere trägt,
weil sie durch den Verdacht eines höheren Lebensalters
im Preise zu fallen glaubt: die ältere wiederum möchte
durch jugendlichere Tracht so lange täuschen, als es irgend
angeht, - aus welchem Wettbewerb sich zeitweilig
immer Moden ergeben müssen, bei denen das eigentlich
Jugendliche ganz unzweideutig und unnachahmlich
sichtbar wird. Hat der Erfindungsgeist der jungen
Künstlerinnen in solchen Bloßstellungen der Jugend eine
Zeitlang geschwelgt, oder um die ganze Wahrheit zu sagen
- hat man wieder einmal den Erfindungsgeist älterer
höfischer Kulturen, sowie den der noch bestehenden
Nationen, und überhaupt den ganzen kostümierten
Erdkreis zu Rate gezogen und etwa die Spanier, die
Türken und Altgriechen zur Inszenierung des schönen
Fleisches zusammengekoppelt: so entdeckt man endlich immer
wieder, daß man sich doch nicht zum Besten auf seinen
Vorteil verstanden habe; daß, um auf die Männer
Wirkung zu machen, das Versteckspielen mit dem schönen
Leibe glücklicher sei, als die nackte und halbnackte
Ehrlichkeit; und nun dreht sich das Rad des Geschmackes
und der Eitelkeit einmal wieder in entgegengesetzter
Richtung: die etwas älteren jungen Frauen finden, daß
ihr Reich gekommen sei, und der Wettkampf der
lieblichsten und absurdesten Geschöpfe tobt wieder von neuem.
J e   m e h r  aber die Frauen innerlich zunehmen und nicht
mehr unter sich, wie bisher, den unreifen Altersklassen
den Vorrang zugestehen, um so geringer werden diese
Schwankungen ihrer Tracht, um so einfacher ihr Putz:
über welchen man billigerweise nicht nach antiken Mustern
das Urteil sprechen darf, also n i c h t  nach dem
Maßstabe der Gewandung südländischer See-Anwohnerinnen,
sondern in Berücksichtigung der klimatischen
Bedingungen der mittleren und nördlichen Gegenden Europas, derer
nämlich, in welchen jetzt der geist- und formerfindende
Genius Europas seine liebste Heimat hat. - Im ganzen
wird also gerade n i c h t  das W e c h s e l n d e  das
charakteristische Zeichen der M o d e  und des M o d e r n e n  sein,
denn gerade der Wechsel ist etwas Rückständiges und
bezeichnet die noch u n g e r e i f t e n  männlichen und
weiblichen Europäer: sondern die A b l e h n u n g   d e r 
 n a t i o n a l e n,   s t ä n d i s c h e n   u n d   i n d i v i d u e l l e n   E i t e l k e i t.
Dementsprechend ist es zu loben, weil es
kraft- und zeitersparend ist, wenn einzelne Städte und
Gegenden Europas für alle übrigen in Sachen der
Kleidung denken und erfinden, in Anbetracht dessen, daß der
Formensinn nicht jedermann geschenkt zu sein pflegt;
auch ist es wirklich kein allzu hochfliegender Ehrgeiz,
wenn zum Beispiel Paris, so lange jene Schwankungen
noch bestehen, es in Anspruch nimmt, der alleinige
Erfinder und Neuerer in diesem Reiche zu sein. Will ein
Deutscher, aus Haß gegen diese Ansprüche einer
französischen Stadt, sich anders kleiden, zum Beispiel so wie
Albrecht Dürer sich trug, so möge er erwägen, daß er
dann ein Kostüm hat, welches ehemalige Deutsche trugen,
welches aber die Deutschen ebensowenig erfunden haben,
- es hat n i e  eine Tracht gegeben, welche den Deutschen
als Deutschen bezeichnete; übrigens mag er zusehen, wie
er aus dieser Tracht herausschaut und ob etwa der
ganz moderne Kopf nicht mit all seiner Linien- und
Fältchenschrift, welche das neunzehnte Jahrhundert
hineingrub, gegen eine Dürerische Bekleidung Einsprache
tut. - Hier, wo die Begriffe "modern" und "europäisch"
fast gleich gesetzt sind, wird unter Europa viel mehr an
Länderstrecken verstanden, als das geographische Europa,
die kleine Halbinsel Asiens, umfaßt: namentlich gehört
Amerika hinzu, soweit es eben das Tochterland unserer
Kultur ist. Andererseits fällt nicht einmal ganz Europa
unter den Kultur-Begriff, "Europa"; sondern nur alle
jene Völker und Völkerteile, welche im Griechen-,
Römer-, Juden- und Christentum ihre gemeinsame
Vergangenheit haben.

216

Die "deutsche Tugend". - Es ist nicht zu
leugnen, daß vom Ausgange des vorigen Jahrhunderts an
ein Strom moralischer Erweckung durch Europa floß.
Damals erst wurde die Tugend wieder beredt; sie lernte
es, die ungezwungenen Gebärden der Erhebung, der
Rührung finden, sie schämte sich ihrer selber nicht mehr und
ersann Philosophien und Gedichte zur eigenen
Verherrlichung. Sucht man nach den Quellen dieses Stromes:
so findet man einmal Rousseau, aber den mythischen
Rousseau, den man sich nach dem Eindrucke seiner
Schriften - fast könnte man wieder sagen: seiner
mythisch ausgelegten Schriften - und nach den
Fingerzeigen, die er selber gab, erdichtet hatte ( - er und sein
Publikum arbeiteten beständig an dieser Idealfigur). Der
andere Ursprung liegt in jener Wiederauferstehung des
stoisch-großen Römertums, durch welche die Franzosen
die Aufgabe der Renaissance auf das würdigste
weitergeführt haben. Sie gingen von der Nachschöpfung antiker
Formen mit herrlichstem Gelingen zur Nachschöpfung
antiker Charaktere über: so daß sie ein Anrecht auf die
allerhöchsten Ehren immerdar behalten werden, als das
Volk, welches der neueren Menschheit bisher die besten
Bücher und die besten Menschen gegeben hat. Wie diese
doppelte Vorbildlichkeit, die des mythischen Rousseau
und die jenes wiedererweckten Römergeistes, auf die
schwächeren Nachbarn wirkte, sieht man namentlich an
Deutschland: welches infolge seines neuen und ganz
ungewohnten Aufschwunges zu Ernst und Größe des
Wollens und Sich - Beherrschens zuletzt vor seiner eigenen
neuen Tugend in Staunen geriet und den Begriff "deutsche
Tugend" in die Welt warf, wie als ob es nichts
Ursprünglicheres, Erbeigneres geben könnte als diese. Die ersten
großen Männer, welche jene französische Anregung zur
Größe und Bewußtheit des sittlichen Wollens auf sich
überleiteten, waren ehrlicher und vergaßen die
Dankbarkeit nicht. Der Moralismus Kants - woher kommt
er? Er gibt es wieder und wieder zu verstehen: von
Rousseau und dem wiedererweckten stoischen Rom. Der
Moralismus Schillers: gleiche Quelle, gleiche
Verherrlichung der Quelle. Der Moralismus Beethovens in Tönen:
er ist das ewige Loblied Rousseaus, der antiken Franzosen
und Schillers. Erst "der deutsche Jüngling" vergaß die
Dankbarkeit, inzwischen hatte man ja das Ohr nach den
Predigern des Franzosenhasses hingewendet: jener
deutsche Jüngling, der eine Zeitlang mit mehr Bewußtheit
als man bei andern Jünglingen für erlaubt hält, in den
Vordergrund trat. Wenn er nach seiner Vaterschaft
spürte, so mochte er mit Recht an die Nähe Schillers,
Fichtes und Schleiermachers denken: aber seine
Großväter hätte er in Paris, in Genf suchen müssen, und es
war sehr kurzsichtig zu glauben, was er glaubte: daß
die Tugend nicht älter als dreißig Jahre sei. Damals
gewöhnte man sich daran, zu verlangen, daß beim Worte
"deutsch" auch noch so nebenbei die Tugend
mitverstanden werde: und bis auf den heutigen Tag hat man es noch
nicht völlig verlernt. - Nebenbei bemerkt, jene genannte
moralische Erweckung hat für die E r k e n n t n i s  der
moralischen Erscheinungen, wie sich fast erraten läßt,
nur Nachteile und rückschreitende Bewegungen zur Folge
gehabt. Was ist die ganze deutsche Moralphilosophie,
von Kant an gerechnet, mit allen ihren französischen,
englischen und italienischen Ausläufern und
Nebenzüglern? Ein halbtheologisches Attentat gegen Helvetius, ein
Abweisen der lange und mühsam erkämpften Freiblicke
oder Fingerzeige des rechten Weges, welche er
zuletzt gut ausgesprochen und zusammengebracht hat. Bis
auf den heutigen Tag ist Helvetius in Deutschland der
bestbeschimpfte aller guten Moralisten und guten
Menschen.

217

Klassisch und romantisch. - Sowohl die
klassisch als die romantisch gesinnten Geister- wie es
diese beiden Gattungen immer gibt - tragen sich mit einer
Vision der Zukunft: aber die ersteren aus einer S t ä r k e 
ihrer Zeit heraus, die letzteren aus deren S c h w ä c h e.

218

Die Maschine als Lehrerin. - Die Maschine
lehrt durch sich selber das Ineinandergreifen von
Menschenhaufen, bei Aktionen, wo jeder nur eins zu tun hat:
sie gibt das Muster der Partei - Organisation und der
Kriegsführung. Sie lehrt dagegen nicht die individuelle
Selbstherrlichkeit: sie macht aus Vielen Eine Maschine,
und aus jedem einzelnen ein Werkzeug zu E i n e m  Zwecke.
Ihre allgemeinste Wirkung ist: den Nutzen der
Zentralisation zu lehren.

219

Nicht seßhaft. - Man wohnt gerne in der
kleinen Stadt; aber von Zeit zu Zeit treibt gerade sie uns in
die einsamste unenthüllteste Natur: dann nämlich, wenn
jene uns einmal wieder zu durchsichtig geworden ist.
Endlich gehen wir, um uns wieder von dieser Natur zu
e r h o l e n, in die große Stadt. Einige Züge aus derselben
- und wir erraten den Bodensatz ihres Bechers, - der
Kreislauf, mit der kleinen Stadt am Anfange, beginnt
von neuem. - So leben die Modernen: welche in allem
etwas zu g r ü n d l i c h  sind, um s e ß h a f t  zu sein gleich
den Menschen anderer Zeiten.

220

Reaktion gegen die Maschinen-Kultur
- Die Maschine, selber ein Erzeugnis der höchsten
Denkkräfte, setzt bei den Personen, welche sie bedienen, fast
nur die niederen, gedankenlosen Kräfte in Bewegung. Sie
entfesselt dabei eine Unmasse Kraft überhaupt, die sonst
schlafen läge, das ist wahr, aber sie gibt n i c h t  den
Antrieb zum Höhersteigen, zum Bessermachen, zum
Künstlerwerden. Sie macht t ä t i g  und e i n f ö r m i g - das
erzeugt aber auf die Dauer eine Gegenwirkung, eine
verzweifelte Langeweile der Seele, welche durch sie nach
wechselvollem Müßiggange dürsten lernt.

221

Die Gefährlichkeit der Aufklärung. -
Alles das Halbverrückte, Schauspielerische,
Tierisch-Grausame, Wollüstige, namentlich Sentimentale und Sich-selbst-
Berauschende, was zusammen die eigentlich
r e v o l u t i o n ä r e   S u b s t a n z  ausmacht und in Rousseau, vor
der Revolution, Fleisch und Geist geworden war, - dieses
ganze Wesen setzte sich mit perfider Begeisterung noch
d i e   A u f k l ä r u n g  auf das fanatische Haupt, welches
durch diese selber wie in einer verklärenden Glorie zu
leuchten begann: die Aufklärung, die im Grunde jenem Wesen
so fremd ist und, für sich waltend, still wie ein
Lichtglanz durch Wolken gegangen sein würde, lange Zeit
zufrieden damit, nur die Einzelnen umzubilden: so daß
sie nur sehr langsam auch die Sitten und Einrichtungen
der Völker umgebildet hätte. Jetzt aber, an ein
gewaltsames und plötzliches Wesen gebunden, wurde die
Aufklärung selber gewaltsam und plötzlich. Ihre
Gefährlichkeit ist dadurch fast größer geworden als die befreiende
und erhellende Nützlichkeit, welche durch sie in die große
Revolutions-Bewegung kam. Wer dies begreift, wird auch
wissen, aus welcher Vermischung man sie herauszuziehen,
von welcher Verunreinigung man sie zu läutern hat: um
dann, a n   s i c h   s e l b e r, das Werk der Aufklärung
f o r t z u s e t z e n  und die Revolution n a c h t r ä g l i c h  in der
Geburt zu ersticken, ungeschehen zu machen.

222

Die Leidenschaft im Mittelalter. - Das
Mittelalter ist die Zeit der größten Leidenschaften. Weder
das Altertum noch unsere Zeit hat diese Ausweitung der
Seele: ihre R ä u m l i c h k e i t  war nie größer, und nie
ist mit längeren Maßstäben gemessen worden. Die
physische Urwald-Leiblichkeit von Barbarenvölkern und die
überseelenhaften, überwachen, allzuglänzenden Augen
von christlichen Mysterien-Jüngern, das Kindlichste,
Jüngste und ebenso das Überreifste, Altersmüdeste, die
Roheit des Raubtiers und die Verzärtelung und
Ausspitzung des spätantiken Geistes - alles dies kam damals
an Einer Person nicht selten zusammen: da mußte, wenn
einer in Leidenschaft geriet, die Stromschnelle des
Gemütes gewaltiger, der Strudel verwirrter, der Sturz tiefer
sein als je. - Wir neueren Menschen dürfen mit der
Einbuße zufrieden sein, welche hier gemacht worden ist.

223

Rauben und Sparen. - Alle geistigen
Bewegungen gehen vorwärts, infolge deren die Großen zu
r a u b e n, die Kleinen zu s p a r e n  hoffen können. Deshalb
ging zum Beispiel die deutsche Reformation vorwärts.

224

Fröhliche Seelen. - Wenn auf Trunk,
Trunkenheit und eine übelriechende Art von Unfläterei auch nur
von ferne hingewinkt wurde, dann wurden die Seelen
der älteren Deutschen fröhlich, - sonst waren sie
verdrossen; aber dort hatten sie ihre Art von Verständnis-Innigkeit.

225

Das ausschweifende Athen. - Selbst als der
Fischmarkt Athens seine Denker und Dichter bekommen
hatte, besaß die griechische Ausschweifung immer noch ein
idyllischeres und feineres Aussehen, als es je die römische
oder die deutsche Ausschweifung hatte. Die Stimme
Juvenals hätte dort wie eine hohle Trompete geklungen:
ein artiges und fast kindliches Gelächter hätte ihm
geantwortet.

226

Klugheit der Griechen. - Da das Siegen- und
Hervorragen-wollen ein unüberwindlicher Zug der Natur
ist, älter und ursprünglicher als alle Achtung und Freude
der Gleichstellung, so hat der griechische Staat den
gymnastischen und musischen Wettkampf innerhalb der
Gleichen sanktioniert, also einen Tummelplatz abgegrenzt, wo
jener Trieb sich entladen konnte, ohne die politische
Ordnung in Gefahr zu bringen. Mit dem endlichen Verfalle
des gymnastischen und musischen Wettkampfes geriet der
griechische Staat in innere Unruhe und Auflösung.

227

"Der ewige Epikur." - Epikur hat zu allen
Zeiten gelebt und lebt noch, unbekannt denen, welche
sich Epikureer nannten und nennen, und ohne Ruf bei
den Philosophen. Auch hat er selber den eigenen Namen
vergessen: es war das schwerste Gepäck, welches er je
abgeworfen hat.

228

Stil der Überlegenheit. - Studentendeutsch,
die Sprechweise des deutschen Studenten, hat ihren
Ursprung unter den nicht-studierenden Studenten, welche
eine Art von Übergewicht über ihre ernsteren Genossen
dadurch zu erlangen wissen, daß sie an Bildung,
Sittsamkeit, Gelehrtheit, Ordnung, Mäßigung alles
Maskeradenhafte aufdecken und die Worte aus jenen Bereichen zwar
fortwährend ebenso im Munde führen, wie die Besseren,
Gelehrteren, aber mit einer Bosheit im Blicke und einer
begleitenden Grimasse. In dieser Sprache der
Überlegenheit- der einzigen, die in Deutschland original ist -
reden nun unwillkürlich auch die Staatsmänner und die
Zeitungs-Kritiker: es ist ein beständiges ironisches
Zitieren, ein unruhiges, unfriedfertiges Schielen des Auges
nach Rechts und Links ein Gänsefüßchen- und Grimassen-
Deutsch.

229

Die Vergrabenen. - Wir ziehen uns ins
Verborgene zurück: aber nicht aus irgend einem persönlichen
Mißmute, als ob uns die politischen und sozialen
Verhältnisse der Gegenwart nicht genugtäten, sondern weil wir
durch unsere Zurückziehung Kräfte sparen und sammeln
wollen, welche s p ä t e r  einmal der Kultur ganz not tun
werden, je mehr diese Gegenwart d i e s e  Gegenwart ist
und als solche i h r e  Aufgabe erfüllt. Wir bilden ein
Kapital und suchen es sicherzustellen: aber, wie in g a n z 
 g e f ä h r l i c h e n  Zeiten, dadurch, daß wir es v e r g r a b e n.

230

Tyrannen des Geistes. - In unserer Zeit
würde man jeden, der so streng der Ausdruck eines
moralischen Zuges wäre, wie die Personen Theophrasts
und Molieres es sind, für krank halten, und von "fixer
Idee" bei ihm reden. Das Athen des dritten Jahrhunderts
würde uns, wenn wir dort einen Besuch machen dürften,
wie von Narren bevölkert erscheinen. Jetzt herrscht die
Demokratie der B e g r i f f e  in jedem Kopfe, - v i e l e 
 z u s a m m e n  sind der Herr: ein einzelner Begriff, der
Herr sein w o l l t e, heißt jetzt, wie gesagt, "fixe Idee".
Dies ist u n s e r e  Art, die Tyrannen zu morden, - wir
winken mach dem lrrenhause hin.

231

Gefährlichste Auswanderung - In
Rußland gibt es eine Auswanderung der Intelligenz: man geht
über die Grenze, um gute Bücher zu lesen und zu
schreiben. So wirkt man aber dahin, das vom Geiste verlassene
Vaterland immer mehr zum vorgestreckten Rachen Asiens
zu machen, der das kleine Europa verschlingen möchte.

232

Die Staats-Narren. - Die fast religiöse Liebe
zum Könige ging bei den Griechen auf die Polis über, als
es mit dem Königtum zu Ende war. Und weil ein Begriff
mehr Liebe erträgt als eine Person, und namentlich dem
Liebenden nicht so oft vor den Kopf stößt, wie geliebte
Menschen es tun (- denn je mehr sie sich geliebt wissen,
desto rücksichtsloser werden sie meistens, bis sie endlich
der Liebe nicht mehr würdig sind, und wirklich ein Riß
entsteht), so war die Polis- und Staats-Verehrung größer,
als irgend je vorher die Fürsten-Verehrung. Die Griechen
sind die S t a a t s - N a r r e n  der alten Geschichte - in
der neueren sind es andere Völker.

233

Gegen die Vernachlässigung der Augen. -
Ob man nicht bei den gebildeten Klassen Englands,
welche die  lesen, alle zehn Jahre eine Abnahme
der Sehkraft nachweisen könnte?

234

Große Werke und großer Glaube. - Jener
hatte die großen Werke, sein Genosse aber hatte den
großen Glauben an diese Werke. Sie waren unzertrennlich:
aber ersichtlich hing der erstere völlig vom zweiten ab.

235

Der Gesellige. - "Ich bekomme mir nicht gut"
sagte jemand, um seinen Hang zur Gesellschaft zu
erklären. "Der Magen der Gesellschaft ist stärker als der
meinige, er verträgt mich."

236

Augen-Schließen des Geistes. - Ist man
geübt und gewohnt, über das Handeln nachzudenken, so
muß man doch beim Handeln selber (sei dieses selbst nur
Briefschreiben oder Essen und Trinken) das innere Auge
schließen. Ja, im Gespräch mit Durchschnittsmenschen
muß man es verstehen, mit geschlossenen Denker-Augen
zu d e n k e n, - um nämlich das Durchschnitts-Denken
zu erreichen und zu begreifen. Dieses Augen-Schließen
ist ein fühlbarer, mit Willen vollziehbarer Akt.

237

Die furchtbarste Rache. - Wenn man sich
an einem Gegner durchaus r ä c h e n  will, so soll man so
lange warten, bis man die ganze Hand voll Wahrheiten
und Gerechtigkeiten hat und sie gegen ihn ausspielen
kann, mit Gelassenheit: so daß Rache üben mit
Gerechtigkeit üben zusammenfällt. Es ist die furchtbarste Art der
Rache: denn sie hat keine Instanz über sich, an die noch
apelliert werden könnte. So rächte sich Voltaire an Piron,
mit fünf Zeilen, die über dessen ganzes Leben, Schaffen
und Wollen richten: soviel Worte, soviel Wahrheiten; so
rächte sich derselbe an Friedrich dem Großen (in einem
Briefe an ihn, von Ferney aus).

238

Luxus-Steuer. - Man kauft in den Läden das
Nötige und Nächste und muß es teuer bezahlen, weil man
mitbezahlt, was dort auch feil steht, aber nur selten seine
Abnehmer hat: das Luxushafte und Gelüstartige. So legt
der Luxus dem Einfachen, der seiner enträt, doch eine
fortwährende Steuer auf.

239

Warum die Bettler noch leben. - Wenn alle
Almosen nur aus Mitleiden gegeben würden, so wären
die Bettler allesamt verhungert.

240

Warum die Bettler noch leben. - Die größte
Almosenspenderin ist die Feigheit.

241

Wie der Denker ein Gespräch benutzt. -
Ohne Horcher zu sein, kann man viel hören, wenn man
versteht, gut zu sehen, doch sich selber für Zeiten aus den
Augen zu verlieren. Aber die Menschen wissen ein
Gespräch nicht zu benutzen; sie verwenden bei weitem
zuviel Aufmerksamkeit auf das, was sie sagen und
entgegnen wollen, während der wirkliche H ö r e r  sich oft
begnügt, vorläufig zu antworten und etwas als
Abschlagszahlung der Höflichkeit überhaupt zu s a g e n, dagegen
mit seinem hinterhaltigen Gedächtnisse alles davonträgt,
was der andere geäußert hat, nebst der Art in Ton und
Gebärde, w i e  er es äußerte. - Im gewöhnlichen
Gespräche meint jeder der Führende zu sein, wie wenn zwei
Schiffe, die nebeneinander fahren und sich hier und da
einen kleinen Stoß geben, beiderseits im guten Glauben
sind, ihr Nachbarschiff folge oder werde sogar geschleppt.

242

Die Kunst, sich zu entschuldigen. - Wenn
sich jemand vor uns entschuldigt, so muß er es sehr gut
machen: sonst kommen wir uns selber leicht als die
Schuldigen vor und haben eine unangenehme Empfindung.

243

Unmöglicher Umgang. - Das Schiff deiner
Gedanken geht zu tief, als daß du mit ihm auf den
Gewässern dieser freundlichen, anständigen,
entgegenkommenden Personen fahren konntest. Es sind da der
Untiefen und Sandbänke zu viele: du würdest dich drehen
und wenden müssen und in fortwährender Verlegenheit
sein, und jene würden alsbald auch in Verlegenheit
geraten - über deine Verlegenheit, deren Ursache sie nicht
erraten können.

244

Fuchs der Füchse. - Ein rechter Fuchs nennt
nicht nur die Trauben sauer, welche er nicht erreichen
kann, sondern auch die, welche er erreicht und anderen
vorweggenommen hat.

245

Im nächsten Verkehre. - Wenn Menschen auch
noch so eng zusammengehören: es gibt innerhalb ihres
gemeinsamen Horizontes doch noch alle vier
Himmelsrichtungen, und in manchen Stunden merken sie es.

246

Das Schweigen des Ekels. - Da macht jemand
als Denker und Mensch eine tiefe, schmerzhafte
Umwandlung durch und legt dann öffentlich Zeugnis davon ab.
Und die Hörer merken nichts! glauben ihn noch ganz als
den alten! - Diese gewöhnliche Erfahrung hat manchen
Schriftstellern schon Ekel gemacht: sie hatten die
Intellektualität der Menschen zu hoch geachtet und gelobten
sich, als sie ihren Irrtum wahrnahmen, das Schweigen an.

247

Geschäfts-Ernst. - Die Geschäfte manches
Reichen und Vornehmen sind seine Art A u s r u h e n s  von
allzulangem gewohnheitsmäßigem M ü ß i g g a n g: er
nimmt sie deshalb so ernst und passioniert, wie andere
Leute ihre seltenen Muße-Erholungen und -Liebhabereien.

248

Doppelsinn des Auges. - Wie das Gewässer
zu deinen Füßen eine plötzliche schuppenhafte
Erzitterung überläuft, so gibt es auch im menschlichen Auge
solche plötzliche Unsicherheiten und Zweideutigkeiten, bei
denen man sich fragt: ist's ein Schaudern? ist's ein Lächeln?
ist's beides?

249

Positiv und negativ. - Dieser Denker braucht
niemanden, der ihn widerlegt: er genügt sich dazu selber.

250

Die Rache der leeren Netze. - Man nehme
sich vor allen Personen in acht, welche das bittre Gefühl
des Fischers haben, der nach mühevollem Tagewerk am
Abend mit leeren Netzen heimfährt.

251

Sein Recht nicht geltend machen. - Macht
ausüben kostet Mühe und erfordert Mut. Deshalb machen
so viele ihr gutes, allerbestes Recht nicht geltend, weil
dies Recht eine Art M a c h t  ist, sie aber zu faul oder zu
feige sind, es auszuüben. N a c h s i c h t  und G e d u l d 
heißen die Deckmantel-Tugenden dieser Fehler.

252

Lichtträger. - In der Gesellschaft wäre kein
Sonnenschein, wenn ihn nicht die geborenen
Schmeichelkatzen mit hineinbrächten, ich meine die sogenannten
Liebenswürdigen.

253

Am mildtätigsten. - Wenn der Mensch eben
sehr geehrt worden ist und ein wenig gegessen hat, so ist
er am mildtätigsten.

254

Zum Lichte. - Die Menschen drängen sich zum
Lichte, nicht um besser zu sehen, sondern um besser zu
glänzen. - Vor wem man glänzt, den läßt man gerne
als Licht gelten.

255

Die Hypochonder. - Der Hypochonder ist ein
Mensch, der gerade genug Geist und Lust am Geiste
besitzt, um seine Leiden, seinen Verlust, seine Fehler
gründlich zu nehmen: aber sein Gebiet, auf dem er sich nährt,
ist zu klein; er weidet es so ab, daß er endlich die
einzelnen Hälmchen suchen muß. Dabei wird er endlich zum
Neider und Geizhals - und dann erst ist er unausstehlich.

256

Zurückerstatten. - Hesiod rät an, dem
Nachbar, der uns ausgeholfen hat, mit gutem Maße und
womöglich reichlicher zurückzugeben, sobald wir es
vermögen. Dabei hat nämlich der Nachbar seine Freude,
denn seine einstmalige Gutmütigkeit trägt ihm Zinsen
ein; aber auch der, welcher zurückgibt, hat sein Freude,
insofern er die kleine einstmalige Demütigung, sich
aushelfen lassen zu müssen, durch ein kleines Übergewicht,
als Schenkender, zurückkauft.

257

Feiner als nötig. - Unser Beobachtungssinn dafür,
ob andere unsere Schwächen wahrnehmen, ist viel feiner,
als unser Beobachtungssinn für die Schwächen anderer:
woraus sich also ergibt, daß er feiner ist, als nötig wäre.

258

Eine lichte Art von Schatten. - Dicht neben
den ganz mächtigen Menschen befindet sich fast
regelmäßig, wie an sie angebunden eine Lichtseele. Sie ist
gleichsam der negative Schatten, den jene werfen.

259

Sich nicht rächen? - Es gibt so viele feine
Arten der Rache, daß einer der Anlaß hätte sich zu
rächen, im Grunde tun oder lassen kann, was er will: alle
Welt wird doch nach einiger Zeit übereingekommen sein,
daß er sich gerächt h a b e. Sich nicht zu rächen steht also
kaum im Belieben eines Menschen: daß er es nicht
w o l l e, darf er nicht einmal aussprechen, weil die
Verachtung der Rache als eine sublime, sehr ernpfindliche
Rache gedeutet und e m p f u n d e n  wird - Woraus sich
ergibt, daß man nichts Ü b e r f l ü s s i g e s  tun soll - -

260

Irrtum der Ehrenden. - Jeder glaubt einem
Denker etwas Ehrendes und Angenehmes Zu sagen wenn
er ihm zeigt, wie er von selber genau auf denselben
Gedanken und selbst auf den gleichen Ausdruck geraten sei;
und doch wird bei solchen Mitteilungen der Denker nur
selten ergötzt, aber häufig gegen seinen Gedanken und
dessen Ausdruck mißtrauisch: er beschließt im Stillen,
beide einmal zu revidieren. - Man muß, wenn man
jemanden ehren will, sich vor dem Ausdruck: der
Übereinstimmung hüten: sie stellt auf ein gleiches Niveau. -
In vielen Fällen ist es die Sache der gesellschaftlichen
Schicklichkeit, eine Meinung so anzuhören, als sei sie
nicht die unsrige, ja als ginge sie über unsern Horizont
hinaus: zum Beispiel wenn der Alte, Alterfahrene einmal
ausnahmsweise den Schrein seiner Erkenntnisse
aufschließt.

261

Brief. - Der Brief ist ein unangemeldeter Besuch,
der Briefbote der Vermittler unhöflicher Überfälle. Man
sollte alle acht Tage eine Stunde zum Briefempfangen
haben und darnach ein Bad nehmen.

262

Der Voreingenommene. - Jemand sagte: ich
bin gegen mich v o r e i n g e n o m m e n, von
Kindesbeinen an: deshalb finde ich in jedem Tadel etwas
Wahrheit und in jedem Lobe etwas Dummheit. Das Lob wird
von mir gewöhnlich zu gering und der Tadel zu hoch
geschätzt.

263

Weg zur Gleichheit. - Einige Stunden
Bergsteigens machen aus einem Schuft und einem Heiligen zwei
ziemlich gleiche Geschöpfe. Die Ermüdung ist der kürzeste
Weg zur G l e i c h h e i t  und B r ü d e r l i c h k e i t  - und
die F r e i h e i t  wird endlich durch den Schlaf hinzugegeben.

264

Verleumdung. - Kommt man einer eigentlich
infamen Verdächtigung auf die Spur, so suche man ihren
Ursprung nie bei seinen ehrlichen und einfachen F e i n - 
 d e n; denn diese würden, wenn sie so etwas über uns
erfänden, als Feinde keinen Glauben finden. Aber jene,
denen wir eine Zeitlang am meisten genützt haben,
welche aber, aus irgend einem Grunde, im Geheimen
sicher darüber sein dürfen, nichts mehr von uns zu
erlangen, - solche sind imstande, die Infamie ins Rollen
zu bringen: sie finden Glauben, einmal weil man
annimmt, daß sie nichts erfinden würden, was ihnen selber
Schaden bringen könnte; sodann weil sie uns näher
kennengelernt haben. - Zum Troste mag sich der so schlimm
verleumdete sagen: Verleumdungen sind Krankheiten
anderer, die an deinem Leibe ausbrechen; sie beweisen, daß
die Gesellschaft ein (moralischer) Körper ist, so daß du
an d i r  die Kur vornehmen kannst, die den A n d e r e n 
nützen soll.

265

Das Kinder-Himmelreich. - Das Glück des
Kindes ist ebenso sehr ein Mythus wie das Glück der
Hyperboreer, von dem die Griechen erzählten. W e n n 
das Glück überhaupt auf Erden wohnt, meinten diese,
dann gewiß möglichst weit von uns, etwa dort am Rande
der Erde. Ebenso denken die älteren Menschen: wenn
der Mensch überhaupt glücklich sein kann, dann gewiß
möglichst fern von u n s e r e m  Alter, an den Grenzen
und Anfängen des Lebens. Für manchen Menschen ist der
Anblick der Kinder, d u r c h  den Schleier dieses Mythus
hindurch, das größte Glück, dessen er teilhaftig werden
kann; er geht selber bis in den Vorhof des
Himmelreichs, wenn er sagt "lasset die Kindlein zu mir kommen,
denn ihrer ist das Himmelreich". - Der Mythus vom
Kinder-Himmelreich ist überall irgendwie tätig, wo es in
der modernen Welt etwas von Sentimentalität gibt.

266

Die Ungeduldigen. - Gerade der Werdende
will das Werdende nicht: er ist zu ungeduldig dafür. Der
Jüngling will nicht warten, bis, nach langen Studien,
Leiden und Entbehrungen, sein Gemälde von Menschen
und Dingen voll werde: so nimmt er ein anderes, das
fertig dasteht und ihm angeboten wird, auf Treu und
Glauben an, als müsse es ihm die Linien und Farben
s e i n e s  Gemäldes vorweg geben, er wirft sich einem
Philosophen, einem Dichter ans Herz und muß nun eine
lange Zeit Frondienste tun und sich selber verleugnen.
Vieles lernt er dabei: aber häufig vergißt ein Jüngling
das Lernens- und Erkenntniswerteste darüber - sich
selber; er bleibt zeitlebens ein Parteigänger. Ach, es ist
viel Langeweile zu überwinden, viel Schweiß nötig, bis
man seine Farben, seinen Pinsel, seine Leinwand
gefunden hat! - Und dann ist man noch lange nicht Meister
seiner Lebenskunst - aber wenigstens Herr in der eigenen
Werkstatt.

267

Es gibt keine Erzieher. - Nur von
Selbst-Erziehung solle man als Denker reden. Die
Jugend-Erziehung durch andere ist entweder ein Experiment, an
einem noch Unerkannten, Unerkennbaren vollzogen, oder
eine grundsätzliche Nivellierung, um das neue Wesen,
w e l c h e s  es auch sei, den Gewohnheiten und Sitten, welche
herrschen, gemäß zu m a c h e n: in beiden Fällen also
etwas, das des Denkers unwürdig ist, das Werk der Eltern
und Lehrer, welche einer der verwegenen Ehrlichen 
 genannt hat. - Eines Tages, wenn man
längst, nach der Meinung der Welt, erzogen ist, e n t - 
 d e c k t  man sich s e l b e r: da beginnt die Aufgabe des
Denkers; jetzt ist es Zeit, ihn zu Hilfe zu rufen - nicht
als einen Erzieher, sondern als einen Selbst-Erzogenen,
der Erfahrung hat.

268

Mitleiden mit der Jugend. - Es jammert
uns, wenn wir hören, daß einem Jünglinge schon die
Zähne ausbrechen, einem andern die Augen erblinden.
Wüßten wir alles Unwiderrufliche und Hoffnungslose,
das in seinem ganzen Wesen steckt, wie groß würde erst
der Jammer sein! - Weshalb l e i d e n  wir hierbei
eigentlich? Weil die Jugend fortführen soll, was wir
unternommen haben, und jeder Ab- und Anbruch ihrer Kraft
u n s e r e m  Werke, das in ihre Hände fällt, zum Schaden
gereichen will. Es ist der Jammer über die schlechte
Garantie unserer Unsterblichkeit: oder wenn wir uns nur
als Vollstrecker der Menschheits-Mission fühlen, der
Jammer darüber, daß diese Mission in schwächere Hände, als
die unsrigen sind, übergehen muß.

269

Die Lebensalter. - Die Vergleichung der vier
Jahreszeiten mit den vier Lebensaltern ist eine
ehrwürdige Albernheit. Weder die ersten 20, noch die letzten
20 Jahre des Lebens entsprechen einer Jahreszeit:
vorausgesetzt, daß man sich bei der Vergleichung nicht mit
dem Weiß des Haares und Schnees und mit ähnlichen
Farbenspielen begnügt. Jene ersten zwanzig Jahre sind
eine Vorbereitung auf das Leben überhaupt, auf das
ganze Lebensjahr, als eine Art langen Neujahrstages;
und die letzten zwanzig überschauen, verinnerlichen,
bringen in Fug und Zusammenklang, was nur alles
vorher erlebt wurde: so wie man es, in kleinem Maße, an
jedem Silvestertage mit dem ganzen verflossenen Jahre
tut. Zwischen inne liegt aber in der Tat ein Zeitraum,
welcher die Vergleichung mit den Jahreszeiten nahelegt
der Zeitraum vom zwanzigsten bis zum fünfzigsten Jahre
(um hier einmal in Bausch und Bogen nach Jahrzehnten
zu rechnen, während es sich von selber versteht, daß
jeder nach seiner Erfahrung diese groben Ansätze für
sich verfeinern muß). Jene dreimal zehn Jahre
entsprechen dreien Jahreszeiten: dem Sommer, dem Frühling
und dem Herbste, - einen Winter hat das menschliche
Leben nicht, es sei denn, daß man die leider nicht selten
eingeflochtenen harten, kalten, einsamen,
hoffnungsarmen, unfruchtbaren K r a n k h e i t s z e i t e n  die
Winterzeiten der Menschen nennen will. Die zwanziger Jahre:
heiß, lästig, gewitterhaft, üppig treibend, müde machend,
Jahre, in denen man den Tag am Abend, wenn er zu
Ende ist, preist und sich dabei die Stirn abwischt: Jahre,
in denen die Arbeit uns hart, aber notwendig dünkt, -
diese zwanziger Jahre sind der S o m m e r  des Lebens. Die
dreißiger dagegen sind sein F r ü h l i n g: die Luft bald
zu warm, bald zu kalt, immer unruhig und anreizend:
quellender Saft, Blätterfülle, Blütenduft überall: viele
bezaubernde Morgen und Nächte: die Arbeit, zu der der
Vogelgesang uns weckt, eine rechte Herzens-Arbeit, eine
Art Genuß der eigenen Rüstigkeit, verstärkt durch
vorgenießende Hoffnungen. Endlich die vierziger Jahre:
geheimnisvoll, wie alles Stillestehende; einer hohen
weiten Berg-Ebene gleichend, an der ein frischer Wind
hinläuft; mit einem klaren, wolkenlosen Himmel
darüber, welcher den Tag über und in die Nächte hinein
immer mit der gleichen Sanftmut blickt: die Zeit der Ernte
und der herzlichsten Heiterkeit - es ist der H e r b s t 
des Lebens.

270

Der Geist der Frauen in der jetzigen
Gesellschaft. - Wie die Frauen jetzt über den Geist
der Männer denken, errät man daraus, daß sie bei ihrer
Kunst des Schmückens an alles eher denken, als den Geist
ihrer Züge oder die geistreichen Einzelheiten ihres
Gesichts noch besonders zu unterstreichen: sie verbergen
Derartiges vielmehr und wissen sich dagegen, zum Beispiel
durch eine Anordnung des Haars über der Stirn, den
Ausdruck einer lebendig begehrenden Sinnlichkeit und
Ungeistigkeit zu geben, gerade wenn sie diese
Eigenschaften nur wenig besitzen. Ihre Überzeugung, daß der Geist
bei Weibern die Männer erschrecke, geht so weit, daß
sie selbst die Schärfe des geistigsten Sinnes gern verleugnen
und den Ruf der K u r z s i c h t i g k e i t  absichtlich auf
sich laden; dadurch glauben sie wohl die Männer
zutraulicher zu machen: es ist, als ob sich eine einladende sanfte
Dämmerung um sie verbreite.

271

Groß und vergänglich. - Was den
Betrachtenden zu Tränen rührt, das ist der schwärmerische Glückes-
Blick, mit dem eine schöne junge Frau ihren Gatten
ansieht. Man empfindet alle Herbst-Wehmut dabei, über
die Größe sowohl, als über die Vergänglichkeit des
menschlichen Glückes.

272

Opfer-Sinn. - Manche Frau hat den 
 und wird ihres Lebens nicht mehr froh,
wenn der Gatte sie nicht opfern will: sie weiß dann mit
ihrem Verstande nicht mehr wohin? und wird unversehens
aus dem Opfertier der Opferpriester selber.

273

Das Unweibliche. - "Dumm wie ein Mann"
sagen die Frauen: "feige wie ein Weib" sagen die Männer.
Die Dummheit ist am Weibe das U n w e i b l i c h e.

274

Männliches und weibliches
Temperament und die Sterblichkeit. - Daß das
männliche Geschlecht ein schlechteres Temperament hat, als das
weibliche, ergibt sich auch daraus, daß die männlichen
Kinder der Sterblichkeit mehr ausgesetzt sind, als die
weiblichen, offenbar weil sie leichter "aus der Haut
fahren": ihre Wildheit und Unverträglichkeit verschlimmert
alle Übel leicht bis ins Tödliche.

275

Die Zeit der Zyklopen-Bauten. - Die
Demokratisierung Europas ist unaufhaltsam: wer sich
dagegen stemmt, gebraucht doch eben die Mittel dazu, welche
erst der demokratische Gedanke jedermann in die Hand
gab, und macht diese Mittel selber handlicher und
wirksamer: und die grundsätzlichsten Gegner der Demokratie
(ich meine die Umsturzgeister) scheinen nur deshalb da zu
sein, um durch die Angst, welche sie erregen, die
verschiedenen Parteien immer schneller auf der demokratischen
Bahn vorwärts zu treiben. Nun kann es einem angesichts
derer, welche jetzt bewußt und ehrlich für diese
Zukunft arbeiten, in der Tat bange werden: es liegt etwas
Ödes und Einförmiges in ihren Gesichtern, und der
graue Staub scheint auch bis in ihre Gehirne hinein
geweht zu sein. Trotzdem: es ist möglich, daß die
Nachwelt über dieses unser Bangen einmal lacht und an die
demokratische Arbeit einer Reihe von Geschlechtern etwa
so denkt, wie wir an den Bau von Steindämmen und
Schutzmauern - als an eine Tätigkeit, die notwendig
viel Staub auf Kleider und Gesichter breitet und
unvermeidlich wohl auch die Arbeiter ein wenig blödsinnig
macht; aber wer würde deswegen solches Tun ungetan
wünschen! Es scheint, daß die Demokratisierung Europas
ein Glied in der Kette jener ungeheuren p r o p h y l a k - 
 t i s c h e n   M a ß r e g e l n  ist, welche der Gedanke der
neuen Zeit sind und mit denen wir uns gegen das
Mittelalter abheben. Jetzt erst ist das Zeitalter der
Zyklopenbauten! Endliche Sicherheit der Fundamente, damit alle
Zukunft auf ihnen ohne Gefahr bauen kann!
Unmöglichkeit fürderhin, daß die Fruchtfelder der Kultur wieder
über Nacht von wilden und sinnlosen Bergwässern
zerstört werden! Steindämme und Schutzmauern gegen
Barbaren, gegen Seuchen, gegen l e i b l i c h e   u n d 
 g e i s t i g e   V e r k n e c h t u n g ! Und dies alles zunächst
wörtlich und gröblich, aber allmählich immer höher und
geistiger verstanden, so daß alle hier angedeuteten
Maßregeln die geistreiche Gesamtvorbereitung des höchsten
Künstlers der Gartenkunst zu sein scheinen, der sich dann
erst zu seiner eigentlichen Aufgabe wenden kann, wenn
jene vollkommen ausgeführt ist! - Freilich: bei den
weiten Zeitstrecken, welche hier zwischen Mittel und Zweck
liegen, bei der großen, übergroßen, Kraft und Geist von
Jahrhunderten anspannenden Mühsal, die schon not tut,
um nur jedes einzelne Mittel zu schaffen oder
herbeizuschaffen, darf man es den Arbeitern an der Gegenwart
nicht zu hart anrechnen, wenn sie laut dekretieren, die
Mauer und das Spalier s e i  schon der Zweck und das
letzte Ziel; da ja noch niemand den Gärtner und die
Fruchtpflanzen sieht, u m   d e r e n t w i l l e n  das Spalier
da ist.

276

Das Recht des allgemeinen Stimmrechts. -
Das Volk hat sich das allgemeine Stimmrecht nicht
gegeben, es hat dasselbe, überall, wo es jetzt in Geltung
ist, empfangen und vorläufig angenommen: jedenfalls hat
es aber das Recht, es wieder zurückzugeben, wenn es
seinen Hoffnungen nicht genug tut. Dies scheint jetzt
allerorten der Fall zu sein: denn wenn bei irgend einer
Gelegenheit, wo es gebraucht wird, kaum Zweidrittel, ja
vielleicht nicht einmal die Majorität aller
Stimmberechtigten an die Stimm-Urne kommt, so ist dies ein Votum
g e g e n  das ganze Stimmsystem überhaupt. - Man muß
hier sogar noch viel strenger urteilen. Ein Gesetz,
welches bestimmt, daß die Majorität über das Wohl aller die
letzte Entscheidung habe, kann nicht auf derselben
Grundlage, welche durch dasselbe erst gegeben wird, aufgebaut
werden; es bedarf notwendig einer noch breiteren: und
dies ist die E i n s t i m m i g k e i t   a l l e r. Das allgemeine
Stimmrecht darf nicht nur der Ausdruck eines
Majoritäten-Willens sein: das ganze Land muß es wollen.
Deshalb genügt schon der Widerspruch einer sehr kleinen
Minorität, dasselbe als untunlich wieder beiseite zu
stellen: und die N i c h t b e t e i l i g u n g  an einer
Abstimmung ist eben ein solcher Widerspruch, der das ganze
Stimmsystem zum Falle bringt. Das "absolute Veto" des
einzelnen oder, um nicht ins Kleinliche zu verfallen, das
Veto weniger Tausende hängt über diesem System, als die
Konsequenz der Gerechtigkeit: bei jedem Gebrauche, den
man von ihm macht, muß es, laut der Art von Beteiligung,
erst beweisen, daß es noch z u   R e c h t  besteht.

277

Das schlechte Schließen. - Wie schlecht
schließt man, auf Gebieten, wo man nicht zu Hause ist,
selbst wenn man als Mann der Wissenschaft noch so sehr
an das gute Schließen gewöhnt ist! Es ist beschämend!
Und nun ist klar, daß im großen Welttreiben, in Sachen
der Politik, bei allem Plötzlichen und Drängenden, wie
es fast jeder Tag heraufführt, eben dieses s c h l e c h t e 
 S c h l i e ß e n  entscheidet: denn niemand ist völlig in dem
zu Hause, was über Nacht neu gewachsen ist; alles
Politisieren, auch bei den größten Staatsmännern, ist
Improvisieren auf gut Glück.

278

Prämissen des Maschinen-Zeitalters. -
Die Presse, die Maschine, die Eisenbahn, der Telegraph
sind Prämissen, deren tausendjährige Konklusion noch
niemand zu ziehen gewagt hat.

279

Ein Hemmschuh der Kultur. - Wenn wir
hören: dort haben die Männer nicht Zeit zu den
produktiven Geschäften; Waffenübungen und Umzüge nehmen
ihnen den Tag weg, und die übrige Bevölkerung muß sie
ernähren und kleiden, ihre Tracht aber ist auffallend,
oftmals bunt und voll Narrheiten; dort sind nur wenige
unterscheidende Eigenschaften anerkannt, die einzelnen
gleichen einander mehr als anderwärts oder werden doch
als Gleiche behandelt; dort verlangt und gibt man
Gehorsam ohne Verständnis: man befiehlt, aber man hütet
sich zu überzeugen; dort sind die Strafen wenige, diese
wenigen aber sind hart und gehen schnell zum Letzten,
Fürchterlichsten; dort gilt der Verrat als das größte
Verbrechen, schon die Kritik der Übelstände wird nur
von den Mutigsten gewagt; dort ist ein Menschenleben
wohlfeil, und der Ehrgeiz nimmt häufig die Form an, daß
er das Leben in Gefahr bringt, - wer dies alles hört,
wird sofort sagen: "es ist das Bild einer
b a r b a r i s c h e n,   i n   G e f a h r   s c h w e b e n d e n 
 G e s e l l s c h a f t. " Vielleicht, daß der eine hinzufügt: "es ist die
Schilderung Spartas"; ein anderer wird aber nachdenklich
werden und vermeinen, es sei u n s e r   m o d e r n e s 
 M i l i t ä r w e s e n  beschrieben, wie es inmitten unsrer
andersartigen Kultur und Sozietät dasteht - als ein lebendiger
Anachronismus, als das Bild, wie gesagt, einer
barbarischen, in Gefahr schwebenden Gesellschaft, als ein
posthumes Werk der Vergangenheit, welches für die Räder der
Gegenwart nur den Wert eines Hemmschuhs haben kann.
- Mitunter tut aber auch ein Hemmschuh der Kultur auf
das Höchste not: wenn es nämlich zu schnell bergab oder,
wie in diesem Falle vielleicht, b e r g a u f  geht.

280

Mehr Achtung vor den Wissenden! - Bei
der Konkurrenz der Arbeit und der Verkäufer ist das
P u b l i k u m  zum Richter über das Handwerk gemacht:
das hat aber keine strenge Sachkenntnis und urteilt nach
dem S c h e i n e  der Güte. Folglich wird die Kunst des
Scheines (und vielleicht der Geschmack) unter der
Herrschaft der Konkurrenz steigen, dagegen die Qualität aller
Erzeugnisse sich verschlechtern müssen. Folglich wird,
wofern nur die Vernunft nicht im Werte fällt, irgendwann
jener Konkurrenz ein Ende gemacht werden und ein neues
Prinzip den Sieg über sie davontragen. Nur der
Handwerksmeister sollte über das Handwerk urteilen, und das
Publikum abhängig sein vom Glauben an die P e r s o n  des
Urteilenden und an seine Ehrlichkeit. Demnach keine
anonyme Arbeit! Mindestens müßte ein Sachkenner als
Bürge derselben dasein und s e i n e n  Namen als Pfand
einsetzen, wenn der Name des Urhebers fehlt oder
klanglos ist. Die W o h l f e i l h e i t  eines Werkes ist für den
Laien eine andere Art Schein und Trug, da erst die
D a u e r h a f t i g k e i t  entscheidet, daß und inwiefern
eine Sache wohlfeil ist; jene aber ist schwer und von dem
Laien gar nicht zu beurteilen. - Also: was Effekt auf
das Auge macht und wenig kostet, das bekommt jetzt
das Übergewicht, - und das wird natürlich die
Maschinenarbeit sein. Hinwiederum begünstigt die Maschine, das
heißt die Ursache der größten Schnelligkeit und
Leichtigkeit der Herstellung, auch ihrerseits die
v e r k ä u f l i c h s t e  Sorte: sonst ist kein erheblicher Gewinn mit
ihr zu machen; sie würde zu wenig gebraucht und zu oft
stille stehen. Was aber am verkäuflichsten ist, darüber
entscheidet das Publikum, wie gesagt: es muß das
Täuschendste sein, das heißt d a s, was einmal gut s c h e i n t 
und sodann auch wohlfeil s c h e i n t. Also auch auf dem
Gebiete der Arbeit muß unser Losungswort sein: "Mehr
Achtung vor den Wissenden!"

281

Die Gefahr der Könige. - Die Demokratie
hat es in der Hand, ohne alle Gewaltmittel, nur durch
einen stetig geübten gesetzmäßigen Druck, das
König- und Kaisertum h o h l  zu machen: bis eine Null übrig
bleibt, vielleicht, wenn man will, mit der Bedeutung
jeder Null, daß sie, an sich nichts, doch an die rechte Seite
gestellt, die W i r k u n g  einer Zahl verzehnfacht. Das
Kaiser- und Königtum bliebe ein prachtvoller Zierrat
an der schlichten und zweckmäßigen Gewandung der
Demokratie, das schöne Überflüssige, welches sie sich gönnt,
der Rest alles historisch ehrwürdigen Urväterzierrates,
ja das Symbol der Historie selber - und in dieser
Einzigkeit etwas höchst Wirksames, wenn es, wie
gesagt, nicht für sich allein steht, sondern richtig g e s t e l l t 
wird. - Um der Gefahr jener Aushöhlung
vorzubeugen, halten die Könige jetzt mit den Zähnen an ihrer
Würde als K r i e g s f ü r s t e n  fest: dazu brauchen sie
Kriege, das heißt Ausnahmezustände, in denen jener
langsame, gesetzmäßige Druck der demokratischen Gewalten
pausiert.

282

Der Lehrer ein notwendiges Übel. - So
wenig wie möglich Personen zwischen den produktiven
Geistern und den hungernden und empfangenden
Geistern! Denn die M i t t l e r w e s e n  fälschen fast
unwillkürlich die Nahrung, die sie vermitteln: sodann wollen
sie zur Belohnung für ihr Vermitteln zu viel für s i c h,
was also den originalen, produktiven Geistern entzogen
wird: nämlich Interesse, Bewunderung, Zeit, Geld und
anderes. - Also: man sehe immerhin den Lehrer als
ein notwendiges Übel an, ganz wie den Handelsmann:
als ein Übel, das man so klein wie möglich machen
muß! - Wenn vielleicht die Not der deutschen Zustände
jetzt ihren Hauptgrund darin hat, daß viel zu viele vom
Handel leben und gut leben wollen (also dem
Erzeugenden die Preise möglichst zu verringern und den
Verzehrenden die Preise möglichst zu erhöhen suchen, um am
möglichst großen Schaden beider den Vorteil zu haben): so
kann man gewiß einen Hauptgrund der geistigen
Notstände in der Überfülle von Lehrern sehen ihretwegen
wird so wenig und so schlecht gelernt.

283

Die Achtungssteuer. - Den uns Bekannten,
von uns Geehrten, sei es ein Arzt, Künstler, Handwerker,
der etwas für uns tut und arbeitet, bezahlen wir gern so
hoch als wir können, oft sogar über unser Vermögen:
dagegen bezahlt man den Unbekannten so niedrig es nur
angehen will; hier ist ein Kampf, in welchem jeder um
den Fußbreit Landes kämpft und mit sich kämpfen macht.
Bei der Arbeit des Bekannten f ü r   u n s  ist etwas U n b e - 
 z a h l b a r e s, die in seine Arbeit u n s e r t w e g e n 
hineingelegte Empfindung und Erfindung: wir glauben
das Gefühl hiervon nicht anders als durch eine Art
A u f o p f e r u n g  unsererseits ausdrücken zu können. - Die
stärkste Steuer ist die A c h t u n g s s t e u e r. Je mehr die
Konkurrenz herrscht und man von Unbekannten kauft, für
Unbekannte arbeitet, desto niedriger wird diese Steuer,
während sie gerade der Maßstab für die Höhe des
menschlichen Seelen-V e r k e h r e s  ist.

284

Das Mittel zum wirklichen Frieden. -
Keine Regierung gibt jetzt zu, daß sie das Heer
unterhalte, um gelegentliche Eroberungsgelüste zu befriedigen;
sondern der Verteidigung soll es dienen. Jene Moral,
welche die Notwehr billigt, wird als ihre Fürsprecherin
angerufen. Das heißt aber: sich die Moralität und dem
Nachbar die Immoralität vorbehalten, weil er
angriffs- und eroberungslustig gedacht werden muß, wenn unser
Staat notwendig an die Mittel der Notwehr denken
soll; überdies erklärt man ihn, der genau ebenso wie
unser Staat die Angriffslust leugnet und auch seinerseits
das Heer vorgeblich nur aus Notwehrgründen unterhält,
durch unsere Erklärung, weshalb wir ein Heer brauchen,
für einen Heuchler und listigen Verbrecher, welcher gar zu
gern ein harmloses und ungeschicktes Opfer ohne allen
Kampf ü b e r f a l l e n  möchte. So stehen nun alle Staaten
jetzt gegeneinander: sie setzen die schlechte Gesinnung
des Nachbars und die gute Gesinnung bei sich voraus.
Diese Voraussetzung ist aber eine I n h u m a n i t ä t, - so
schlimm und schlimmer als der Krieg: ja, im Grunde ist
sie schon die Aufforderung und Ursache zu Kriegen, weil
sie, wie gesagt, dem Nachbar die Immoralität u n t e r - 
 s c h i e b t  und dadurch die feindselige Gesinnung und Tat
zu provozieren scheint. Der Lehre von dem Heer als einem
Mittel der Notwehr muß man ebenso gründlich
abschwören als den Eroberungsgelüsten. Und es kommt vielleicht
ein großer Tag, an welcher ein Volk, durch Kriege und
Siege, durch die höchste Ausbildung der militärischen
Ordnung und Intelligenz ausgezeichnet und gewöhnt,
diesen Dingen die schwersten Opfer zu bringen, freiwillig
ausruft: "w i r   z e r b r e c h e n   d a s   S c h w e r t " - und
sein gesamtes Heerwesen bis in seine letzten Fundamente
zertrümmert. S i c h   w e h r l o s   m a c h e n,   w ä h r e n d 
 m a n   d e r   W e h r h a f t e s t e   w a r, aus einer H ö h e 
der Empfindung heraus, - das ist das Mittel zum
w i r k l i c h e n  Frieden, welcher immer auf einem Frieden der
Gesinnung ruhen muß: während der sogenannte
bewaffnete Friede, wie er jetzt in allen Ländern einhergeht, der
Unfriede der Gesinnung ist, der sich und dem Nachbar
nicht traut und halb aus Haß, halb aus Furcht die Waffen
nicht ablegt. Lieber zugrunde gehn als hassen und fürchten,
und z w e i m a l   l i e b e r   z u g r u n d e   g e h n   a l s   s i c h 
 h a s s e n   u n d   f ü r c h t e n   m a c h e n, - dies muß
einmal auch die oberste Maxime jeder einzelnen staatlichen
Gesellschaft werden! - Unsern liberalen Volksvertretern
fehlt es, wie bekannt, an Zeit zum Nachdenken über die
Natur des Menschen: sonst würden sie wissen, daß sie
umsonst arbeiten, wenn sie für eine "allmähliche
Herabminderung der Militärlast" arbeiten. Vielmehr: erst wenn
diese Art Not am größten ist, wird auch die Art Gott am
nächsten sein, die hier allein helfen kann. Der
Kriegsglorien-Baum kann nur mit einem Male, durch einen
Blitzschlag zerstört werden: der Blitz aber kommt, ihr
wißt es ja, aus der Höhe. -

285

Ob der Besitz mit der Gerechtigkeit
ausgeglichen werden kann. - Wird die
Ungerechtigkeit des Besitzes stark empfunden - der Zeiger der
großen Uhr ist einmal wieder an dieser Stelle -, so
nennt man zwei Mittel, derselben abzuhelfen: einmal
eine gleiche Verteilung und sodann die Aufhebung des
Eigentums und den Zurückfall des Besitzes an die
Gemeinschaft. Letzteres Mittel ist namentlich nach dem
Herzen unserer Sozialisten, welche jenem altertümlichen Juden
darüber gram sind, daß er sagte: du sollst nicht stehlen.
Nach ihnen soll das siebente Gebot vielmehr lauten: du
sollst nicht besitzen. - Die Versuche nach dem ersten
Rezepte sind im Altertum oft gemacht worden, zwar immer
nur in kleinem Maßstabe, aber doch mit einem Mißerfolg,
der auch uns noch Lehrer sein kann. "Gleiche Ackerlose"
ist leicht gesagt; aber wieviel Bitterkeit erzeugt sich
durch die dabei nötig werdende Trennung und Scheidung,
durch den Verlust von altverehrtem Besitz, wieviel Pietät
wird verletzt und geopfert! Man gräbt die Moralität um,
wenn man die Grenzsteine umgräbt. Und wieder, wieviel
neue Bitterkeit unter den neuen Besitzern, wieviel
Eifersucht und Scheelsehen, da es zwei wirklich gleiche
Ackerlose nie gegeben hat, und wenn es solche gäbe, der
menschliche Neid auf den Nachbar nicht an deren Gleichheit
glauben würde. Und wie lange dauerte diese schon in
der Wurzel vergiftete und ungesunde Gleichheit! In
wenigen Geschlechtern war durch Erbschaft hier das eine Los
auf fünf Köpfe, dort waren fünf Lose auf einen Kopf
gekommen: und im Falle man durch harte
Erbschafts-Gesetze solchen Mißständen vorbeugte, gab es zwar noch die
gleichen Ackerlose, aber dazwischen Dürftige und
Unzufriedene, welche nichts besaßen, außer der Mißgunst auf
die Anverwandten und Nachbarn und dem Verlangen
nach dem Umsturz aller Dinge. - Will man aber, nach
dem z w e i t e n  Rezepte, das Eigentum der G e m e i n d e 
zurückgeben und den einzelnen nur zum zeitweiligen
Pächter machen, so zerstört man das Ackerland. Denn
der Mensch ist gegen alles was er nur vorübergehend
besitzt, ohne Vorsorge und Aufopferung, er verfährt
damit ausbeuterisch, als Räuber oder als liederlicher
Verschwender. Wenn Plato meint, die Selbstsucht werde mit
der Aufhebung des Besitzes aufgehoben, so ist ihm zu
antworten, daß, nach Abzug der Selbstsucht, vom
Menschen jedenfalls nicht die vier Kardinaltugenden übrig
bleiben werden, - wie man sagen muß: die ärgste Pest
könnte der Menschheit nicht so schaden, als wenn eines
Tages die Eitelkeit aus ihr entschwände. Ohne Eitelkeit
und Selbstsucht - was sind denn die menschlichen
Tugenden? Womit nicht von ferne gesagt sein soll, daß es
nur Namen und Masken von jenen seien. Platos
utopistische Grundmelodie, die jetzt noch von den Sozialisten
fortgesungen wird, beruht auf einer mangelhaften
Kenntnis des Menschen: ihm fehlte die Historie der
moralischen Empfindungen, die Einsicht in den Ursprung der
guten nützlichen Eigenschaften der menschlichen Seele. Er
glaubte, wie das ganze Altertum, an Gut und Böse, wie
an Weiß und Schwarz: also an eine radikale
Verschiedenheit der guten und der bösen Menschen, der guten und
der schlechten Eigenschaften. - Damit der Besitz
fürderhin mehr Vertrauen einflöße und moralischer werde, halte
man alle Arbeitswege zum k l e i n e n  Vermögen offen,
aber verhindere die mühelose, die plötzliche
Bereicherung; man ziehe alle Zweige des Transports und
Handels, welche der Anhäufung g r o ß e r  Vermögen günstig
sind, also namentlich den Geldhandel, aus den Händen
der Privaten und Privatgesellschaften - und betrachte
ebenso die Zuviel- wie die Nichts-Besitzer als
gemeingefährliche Wesen.

286

Der Wert der Arbeit. - Wollte man den Wert
der Arbeit danach bestimmen, wieviel Zeit, Fleiß, guter
und schlechter Wille, Zwang, Erfindsamkeit oder
Faulheit, Ehrlichkeit oder Schein darauf verwendet ist, so
kann der Wert niemals g e r e c h t  sein; denn die ganze
Person müßte auf die Waagschale gesetzt werden können,
was unmöglich ist. Hier heißt es "richtet nicht!" Aber
der Ruf nach Gerechtigkeit ist es ja, den wir jetzt von
denen hören, welche mit der Abschätzung der Arbeit
unzufrieden sind. Denkt man weiter, so findet man jede
Persönlichkeit unverantwortlich für ihr Produkt, die
Arbeit: ein V e r d i e n s t  ist also niemals daraus
abzuleiten, jede Arbeit ist so gut oder schlecht, wie sie bei der
und der notwendigen Konstellation von Kräften und
Schwächen, Kenntnissen und Begehrungen sein muß. Es
steht nicht im Belieben das Arbeiters, o b  er arbeitet; auch
nicht, w i e  er arbeitet. Nur die Gesichtspunkte des
N u t z e n s, engere und weitere, haben Wertschätzung
der Arbeit geschaffen. Das, was wir jetzt Gerechtigkeit
nennen, ist auf diesem Felde sehr wohl am Platz als eine
höchst verfeinerte Nützlichkeit, welche nicht auf den
Moment nur Rücksicht nimmt und die Gelegenheit
ausbeutet, sondern auf Dauerhaftigkeit aller Zustände sinnt
und deshalb auch das Wohl des Arbeiters, seine leibliche
und seelische Zufriedenheit ins Auge faßt, - d a m i t 
er und seine Nachkommen gut auch für unsere
Nachkommen arbeiten und noch auf längere Zeiträume, als das
menschliche Einzelleben ist, hinaus z u v e r l ä s s i g 
werden. Die A u s b e u t u n g  des Arbeiters war, wie man
jetzt begreift, eine Dummheit, ein Raub-Bau auf Kosten
der Zukunft, eine Gefährdung der Gesellschaft. Jetzt hat
man fast schon den Krieg: und jedenfalls werden die
Kosten, um den Frieden zu erhalten, um Verträge zu
schließen und Vertrauen zu erlangen, nunmehr sehr groß
sein, weil die Torheit der Ausbeutenden sehr groß und
langdauernd war.

287

Vom Studium des Gesellschafts-Körpers. -
Das Übelste für den, welcher jetzt in Europa,
namentlich in Deutschland, Ökonomik und Politik
studieren will, liegt darin, daß die tatsächlichen Zustände,
anstatt die R e g e l n  zu exemplifizieren, die A u s n a h m e 
oder die Ü b e r g a n g s - und A u s g a n g s s t a d i e n 
exemplifizieren. Man muß deshalb über das tatsächlich
Bestehende erst hinwegsehen lernen und zum Beispiel den
Blick fernhin auf Nordamerika richten, - wo man die
anfänglichen und normalen Bewegungen des
gesellschaftlichen Körpers noch mit den Augen s e h e n  und aufsuchen
kann, wenn man nur w i l l, - während in Deutschland
dazu schwierige historische Studien oder, wie gesagt, ein
Fernglas nötig sind.

288

Inwiefern die Maschine demütigt. - Die
Maschine ist unpersönlich, sie entzieht dem Stück Arbeit
seinen Stolz, sein individuell G u t e s  und
F e h l e r h a f t e s, was an jeder Nicht-Maschinenarbeit klebt,- also
sein bißchen Humanität. Früher war alles Kaufen von
Handwerkern ein A u s z e i c h n e n   v o n   P e r s o n e n,
mit deren Abzeichen man sich umgab: der Hausrat und
die Kleidung wurde dergestalt zur Symbolik gegenseitiger
Wertschätzung und persönlicher Zusammengehörigkeit,
während wir jetzt nur inmitten anonymen und
unpersönlichen Sklaventums zu leben scheinen. - Man muß die
Erleichterung der Arbeit nicht zu teuer kaufen.

289

Hundertjährige Quarantäne. - Die
demokratischen Einrichtungen sind Quarantäne-Anstalten gegen
die alte Pest tyrannenhafter Gelüste: als solche sehr
nützlich und sehr langweilig.

290

Der gefährlichste Anhänger. - Der
gefährlichste Anhänger ist der, dessen Abfall die ganze
Partei vernichten würde: also der beste Anhänger.

291

Das Schicksal und der Magen. - Ein
Butterbrot mehr oder weniger im Leibe des Jockeys
entscheidet gelegentlich über Wettrennen und Wetten, also über
Glück und Unglück von Tausenden. - Solange das
Schicksal der Völker noch von den Diplomaten abhängt,
werden die Mägen der Diplomaten immer der Gegenstand
patriotischer Beklemmung sein.  -

292

Sieg der Demokratie. - Es versuchen jetzt alle
politischen Mächte, die Angst vor dem Sozialismus
auszubeuten, um sich zu stärken. Aber auf die Dauer hat
doch allein die Demokratie den Vorteil davon: denn
alle Parteien sind jetzt genötigt, dem "Volke" zu
schmeicheln und ihm Erleichterungen und Freiheiten aller Art
zu geben, wodurch es endlich omnipotent wird. Das Volk
ist vom Sozialismus, als einer Lehre von der Veränderung
des Eigentumerwerbes, am entferntesten: und wenn es erst
einmal die Steuerschraube in den Händen hat, durch die
großen Majoritäten seiner Parlamente, dann wird es mit
der Progressivsteuer dem Kapitalisten-, Kaufmanns- und
Börsenfürstentum an den Leib gehen und in der Tat
langsam einen Mittelstand schaffen, der den Sozialismus
wie eine überstandene Krankheit v e r g e s s e n  darf.-
Das praktische Ergebnis dieser um sich greifenden
Demokratisierung wird zunächst ein europäischer Völkerbund
sein, in welchem jedes einzelne Volk, nach geographischen
Zweckmäßigkeiten abgegrenzt, die Stellung eines
Kantons und dessen Sonderrechte innehat: mit den
historischen Erinnerungen der bisherigen Völker wird dabei
wenig noch gerechnet werden, weil der pietätvolle Sinn
für dieselben unter der neuerungssüchtigen und
versuchslüsternen Herrschaft des demokratischen Prinzips
allmählich von Grund aus entwurzelt wird. Die Korrekturen der
Grenzen, welche dabei sich nötig zeigen, werden so
ausgeführt, daß sie dem N u t z e n  der großen Kantone und
zugleich dem des Gesamtverbandes dienen, nicht aber dem
Gedächtnisse irgend welcher vergrauten Vergangenheit.
Die Gesichtspunkte für diese Korrekturen zu finden wird
die Aufgabe der zukünftigen D i p l o m a t e n  sein, die
zugleich Kulturforscher, Landwirte, Verkehrskenner sein
müssen und keine Heere, sondern Gründe und
Nützlichkeiten hinter sich haben. Dann erst ist die ä u ß e r e 
Politik mit der i n n e r e n  unzertrennbar verknüpft:
während jetzt immer noch die letztere ihrer stolzen Gebieterin
nachläuft und im erbärmlichen Körbchen die Stoppelähren
sammelt, die bei der Ernte der ersteren übrig bleiben.

293

Ziel und Mittel der Demokratie. - Die
Demokratie will möglichst vielen U n a b h ä n g i g k e i t 
schaffen und verbürgen, Unabhängigkeit der Meinungen,
der Lebensart und des Erwerbs. Dazu hat sie nötig,
sowohl den Besitzlosen als den eigentlich Reichen das
politische Stimmrecht abzusprechen: als den zwei unerlaubten
Menschenklassen, an deren Beseitigung sie stetig arbeiten
muß, weil diese ihre Aufgabe immer wieder in Frage
stellen. Ebenso muß sie alles verhindern, was auf die
Organisation von Parteien abzuzielen scheint. Denn die
drei großen Feinde der Unabhängigkeit in jenem
dreifachen Sinne sind die Habenichtse, die Reichen und die
Parteien. - Ich rede von der Demokratie als von etwas
Kommendem. Das, was schon jetzt so heißt, unterscheidet
sich von den älteren Regierungsformen allein dadurch,
daß es mit n e u e n   P f e r d e n  fährt: die Straßen sind noch
die alten, und die Räder sind auch noch die alten. - Ist
die Gefahr bei d i e s e n  Fuhrwerken des Völkerwohls
wirklich geringer geworden?

294

Die Besonnenheit und der Erfolg. - Jene
große Eigenschaft der Besonnenheit, welche im Grunde die
Tugend der Tugenden, ihre Urgroßmutter und Königin
ist, hat im gewöhnlichen Leben keineswegs immer den
Erfolg auf ihrer Seite: und der Freier würde sich
getäuscht finden, der nur des Erfolgs wegen sich um jene
Tugend beworben hätte. Sie gilt nämlich unter den p r a k - 
 t i s c h e n  Leuten für verdächtig und wird mit der
Hinterhaltigkeit und heuchlerischen Schlauheit verwechselt: wem
dagegen ersichtlich die Besonnenheit abgeht, - der Mann,
der rasch zugreift und auch einmal danebengreift, hat das
Vorurteil für sich, ein biederer, zuverlässiger Geselle zu
sein. Die praktischen Leute mögen also den
Besonnenen nicht, er ist für sie, wie sie meinen, eine Gefahr.
Andererseits nimmt man den Besonnenen leicht als
ängstlich, befangen, pedantisch - die unpraktischen und
genießenden Leute gerade finden ihn unbequem, weil er
nicht leichthin lebt wie sie, ohne an das Handeln und
die Pflichten zu denken: er erscheint unter ihnen wie ihr
leibhaftes Gewissen, und der helle Tag wird bei seinem
Anblick ihrem Auge bleich. Wenn ihm also der Erfolg
und die Beliebtheit fehlen, so mag er sich immer zum
Troste sagen: "so hoch sind eben die S t e u e r n, welche
du für den Besitz des köstlichsten Gutes unter Menschen
zahlen mußt, - er ist es wert!"

295

. - Ich sah hinunter, über
Hügel-Wellen, gegen einen milchgrünen See hin, durch
Tannen und altersernste Fichten hindurch: Felsbrocken
aller Art um mich, der Boden bunt von Blumen und
Gräsern. Eine Herde bewegte, streckte und dehnte sich vor
mir; einzelne Kühe und Gruppen ferner, im schärfsten
Abendlichte, neben dem Nadelgehölz; andere näher,
dunkler; alles in Ruhe und Abendsättigung. Die Uhr
zeigte gegen halb sechs. Der Stier der Herde war in den
weißen, schäumenden Bach getreten und ging langsam
widerstrebend und nachgebend seinem stürzenden Laufe
nach: so hatte er wohl seine Art von grimmigem Behagen.
Zwei dunkelbraune Geschöpfe, bergamasker Herkunft,
waren die Hirten: das Mädchen fast als Knabe gekleidet.
Links Felsenhänge und Schneefelder über breiten
Waldgürteln, rechts zwei ungeheure beeiste Zacken, hoch über
mir, im Schleier des Sonnenduftes schwimmend - alles
groß, still und hell. Die gesamte Schönheit wirkte zum
Schaudern und zur stummen Anbetung des Augenblicks
ihrer Offenbarung; unwillkürlich, wie als ob es nichts
Natürlicheres gäbe, stellte man sich in diese reine scharfe
Lichtwelt (die gar nichts Sehnendes, Erwartendes,
Vor- und Zurückblickendes hatte) griechische Heroen hinein;
man mußte wie Poussin und sein Schüler empfinden:
heroisch zugleich und idyllisch. - Und s o  haben einzelne
Menschen auch g e l e b t, so sich dauernd in der Welt und
die Welt in sich g e f ü h l t, und unter ihnen einer der
größten Menschen, der Erfinder einer heroisch-idyllischen
Art zu philosophieren: Epikur.

296

Rechnen und messen. - Viele Dinge sehen,
miteinander erwägen, gegeneinander abrechnen und aus
ihnen einen schnellen Schluß, eine ziemlich sichere Summe
bilden, - das macht den großen Politiker, Feldherrn,
Kaufmann: also die Geschwindigkeit in einer Art von
Kopfrechnen. E i n e  Sache sehen, in ihr das einzige Motiv
zum Handeln, die Richterin alles übrigen Handelns
finden, macht den Helden, auch den Fanatiker - also eine
Fertigkeit im Messen mit einem Maßstabe.

297

Nicht unzeitig sehen wollen. - Solange
man etwas erlebt, muß man dem Erlebnis sich hingeben
und die Augen schließen, also nicht d a r i n  schon den
Beobachter machen. Das nämlich würde die gute
Verdauung des Erlebnisses stören: anstatt einer Weisheit trüge
man eine Indigestion davon.

298

Aus der Praxis des Weisen. - Um weise zu
werden, muß man gewisse Erlebnisse erleben w o l l e n, 
also ihnen in den Rachen laufen. Sehr gefährlich ist dies
freilich; mancher "Weise" wurde dabei aufgefressen.

299

Die Ermüdung des Geistes. - Unsere
gelegentliche Gleichgültigkeit und Kälte gegen Menschen, welche
uns als Härte und Charaktermangel ausgelegt wird, ist
häufig nur eine Ermüdung des Geistes: bei dieser sind uns
die Anderen, wie wir uns selber, gleichgültig oder lästig.

300

"Eins ist not." - Wenn man klug ist, ist einem
allein darum zu tun, daß man Freude im Herzen habe.
- Ach, setzte jemand hinzu, wenn man klug ist, tut man
am besten, weise zu sein.

301

Ein Zeugnis der Liebe. - Jemand sagte: "Über
zwei Personen habe ich nie gründlich nachgedacht: es ist
das Zeugnis meiner Liebe zu ihnen."

302

Wie man schlechte Argumente zu verbessern sucht -
Mancher wirft seinen schlechten
Argumenten noch ein Stück seiner Persönlichkeit
hintennach, wie als ob jene dadurch richtiger ihre Bahn laufen
würden und sich in gerade und gute Argumente
verwandeln ließen; ganz wie die Kegelschieber auch nach dem
Wurfe noch mit Gebärden und Schwenkungen der Kugel
die Richtung zu geben suchen.

303

Die Rechtlichkeit. - Es ist noch wenig, wenn
man in bezug auf Rechte und Eigentum ein Muster-
Mensch ist; wenn man zum Beispiel als Knabe nie Obst
in fremden Gärten nimmt, als Mann nicht über ungemähte
Wiesen läuft, - um kleine Dinge zu nennen, welche wie
bekannt, den Beweis für diese Art von Musterhaftigkeit
besser geben als große. Es ist noch wenig: man ist dann
immer erst eine "juristische Person", mit jenem Grad von
Moralität, deren sogar eine "Gesellschaft", ein
Menschen-Klumpen fähig ist.

304

Mensch! - Was ist die Eitelkeit des eitelsten Menschen
gegen die Eitelkeit, welche der Bescheidenste
besitzt, in Hinsicht darauf, daß er sich in der Natur und
Welt als "Mensch" fühlt.

305

Nötigste Gymnastik. - Durch den Mangel an
kleiner Selbstbeherrschung bröckelt die Fähigkeit zur
großen ab. Jeder Tag ist schlecht benutzt und eine Gefahr
für den nächsten, an dem man nicht wenigstens einmal
sich etwas im kleinen v e r s a g t  hat: diese Gymnastik
ist unentbehrlich, wenn man sich die Freude, sein eigener
Herr zu sein, erhalten will.

306

Sich selber verlieren. - Wenn man erst sich
selber gefunden hat, muß man verstehen, sich von Zeit zu
Zeit zu v e r l i e r e n  - und dann wieder zu finden:
vorausgesetzt daß man ein Denker ist. Diesem ist es nämlich
nachteilig, immerdar an eine Person gebunden zu sein.

307

Wann Abschied nehmen not tut. - Von
dem, was du erkennen und messen willst, mußt du
Abschied nehmen, wenigstens auf eine Zeit. Erst wenn du
die Stadt verlassen hast, siehst du, wie hoch sich ihre
Türme über die Häuser erheben.

308

Am Mittag. - Wem ein tätiger und stürmereicher
Morgen des Lebens beschieden war, dessen Seele überfällt
um den Mittag des Lebens eine seltsame Ruhesucht, die
monden- und jahrelang dauern kann. Es wird still um
ihn, die Stimmen klingen fern und ferner; die Sonne
scheint steil auf ihn herab. Auf einer verborgenen
Waldwiese sieht er den großen Pan schlafend; alle Dinge der
Natur sind mit ihm eingeschlafen, einen Ausdruck von
Ewigkeit im Gesichte - so dünkt es ihm. Er will nichts,
er sorgt sich um nichts, sein Herz steht still, nur sein
Auge lebt, - es ist ein Tod mit wachen Augen. Vieles
sieht da der Mensch, was er nie sah, und soweit er sieht,
ist alles in ein Lichtnetz eingesponnen und gleichsam
darin begraben. Er fühlt sich glücklich dabei, aber es
ist ein schweres, schweres Glück. - Da endlich erhebt
sich der Wind in den Bäumen, Mittag ist vorbei, das
L e b e n  reißt ihn wieder an sich, das Leben mit blinden
Augen, hinter dem sein Gefolge herstürmt: Wunsch, Trug,
Vergessen, Genießen, Vernichten, Vergänglichkeit. Und
so kommt der Abend herauf, stürmereicher und
tatenvoller, als selbst der Morgen war. - Den eigentlich
tätigen Menschen erscheinen die länger währenden Zustände
des Erkennens fast unheimlich und krankhaft, aber nicht
unangenehm.

309

Sich vor seinem Maler hüten. - Ein großer
Maler, der in einem Porträt den vollsten Ausdruck und
Augenblick, dessen ein Mensch fähig ist, enthüllt und
niedergelegt hat, wird von diesem Menschen, wenn er ihn
später im wirklichen Leben wiedersieht, fast immer nur
eine Karikatur zu sehen glauben.

310

Die zwei Grundsätze des neuen Lebens.
- E r s t e r   G r u n d s a t z: man soll das Leben auf das
Sicherste, Beweisbarste hin einrichten: nicht wie bisher
auf das Entfernteste, Unbestimmteste, Horizont-Wolken-
hafteste hin. Z w e i t e r   G r u n d s a t z: man soll sich die
R e i h e n f o l g e  des Nächsten und Nahen, des Sicheren
und weniger Sicheren feststellen, bevor man sein Leben
einrichtet und in eine endgültige Richtung bringt.

311

Gefährliche Reizbarkeit. - Begabte
Menschen, die aber t r ä g e  sind, werden immer etwas gereizt
erscheinen, wenn einer ihrer Freunde mit einer tüchtigen
Arbeit f e r t i g  geworden ist. Ihre Eifersucht ist rege, sie
schämen sich ihrer Faulheit - oder vielmehr, sie
befürchten, der Tätige verachte sie gegenwärtig noch m e h r 
als sonst. In dieser Stimmung kritisieren sie das neue
Werk - und ihre Kritik wird zur Rache, zum höchsten
Befremden des Urhebers.

312

Zerstören der Illusionen. - Die Illusionen
sind gewiß kostspielige Vergnügungen: aber das
Zerstören der Illusionen ist noch kostspieliger - als Vergnügen
betrachtet, was es unleugbar für manchen Menschen ist.

313

Das Eintönige des Weisen. - Die Kühe haben
mitunter den Ausdruck der Verwunderung, die auf dem
Wege zur F r a g e  stehen bleibt. Dagegen liegt im Auge
der höheren Intelligenz das  ausgebreitet wie
die Eintönigkeit des wolkenlosen Himmels.

314

Nicht zu lange krank sein. - Man hüte sich,
zu lange krank zu sein: denn bald werden die Zuschauer
durch die übliche Verpflichtung, Mitleiden zu bezeigen,
ungeduldig, weil es ihnen zuviel Mühe macht, diesen
Zustand lange bei sich aufrecht zu erhalten - und dann
gehen sie unmittelbar zur Verdächtigung eures
Charakters über, mit dem Schlusse: "ihr v e r d i e n t  es krank
zu sein, und wir brauchen uns nicht mehr mit Mitleiden
anzustrengen."

315

Wink für Enthusiasten. - Wer gern h i n g e - 
 r i s s e n  werden will und sich leicht nach oben tragen lassen
möchte, soll zusehen, daß er nicht zu schwer werde:
das heißt zum Beispiel, daß er nicht viel lerne und
namentlich von der Wissenschaft sich nicht e r f ü l l e n 
lasse. Diese macht schwerfällig! - nehmt euch in Acht,
ihr Enthusiasten!

316

Sich zu überraschen wissen. - Wer sich
selber sehen will, so wie er ist, muß es verstehen, sich selber
zu ü b e r r a s c h e n, mit der Fackel in der Hand. Denn
es steht mit dem Geistigen so, wie es mit dem
Körperlichen steht: wer gewohnt ist, sich im Spiegel zu schauen,
vergißt immer seine Häßlichkeit: erst durch den Maler
bekommt er den Eindruck derselben wieder. Aber er
gewöhnt sich auch an das Gemälde und vergißt seine
Häßlichkeit zum zweiten Male. - Dies nach dem allgemeinen
Gesetze, daß der Mensch das Unveränderlich-Häßliche
n i c h t   e r t r ä g t: es sei denn auf einen Augenblick; er
vergißt es oder leugnet es in allen Fällen. - Die
Moralisten müssen auf jenen "Augenblick" rechnen, um ihre
Wahrheiten vorbringen zu dürfen.

317

Meinungen und Fische. - Man ist Besitzer
seiner Meinungen, wie man Besitzer von Fischen ist, -
insofern man nämlich Besitzer eines Fischteiches ist. Man
muß fischen gehen und Glück haben, - dann hat man
s e i n e  Fische, s e i n e  Meinungen. Ich rede hier von
lebendigen Meinungen, von lebendigen Fischen. Andere
sind zufrieden, wenn sie ein Fossilien-Kabinett besitzen
- und, in ihrem Kopfe, "Überzeugungen".

318

Anzeichen von Freiheit und Unfreiheit.
- Seine notwendigen Bedürfnisse soviel wie möglich
selber befriedigen, wenn auch unvollkommen, das ist die
Richtung auf F r e i h e i t   v o n   G e i s t   u n d   P e r s o n.
Viele, auch überflüssige Bedürfnisse sich befriedigen lassen,
und so vollkommen als möglich, - erzieht zur
U n f r e i h e i t. Der Sophist Hippias, der alles was er trug, innen
und außen, selbst erworben, selber gemacht hatte,
entspricht eben damit der Richtung auf höchste Freiheit des
Geistes und der Person. Nicht darauf kommt es an, daß
alles gleich gut und vollkommen gearbeitet ist; der Stolz
flickt schon die schadhaften Stellen aus.

319

Sich selber glauben. - In unserer Zeit
mißtraut man jedem, der an sich selber glaubt; ehemals
genügte es, um an sich glauben zu machen. Das Rezept, um
j e t z t  Glauben zu finden, heißt: "Schone dich selber
nicht! Willst du deine Meinung in ein glaubwürdiges Licht
setzen, so zünde zuerst die eigene Hütte an!"

320

Reicher und ärmer zugleich. - Ich kenne
einen Menschen, der als Kind schon sich gewöhnt hatte,
gut von der Intellektualität der Menschen zu denken, also
von ihrer wahren Hingebung in bezug auf geistige Dinge,
ihrer uneigennützigen Bevorzugung des als wahr
Erkannten und dergleichen, dagegen von seinem eigenen Kopfe
(Urteil, Gedächtnis, Geistesgegenwart, Phantasie)
bescheidene, ja niedrige Begriffe zu haben. Er machte sich nichts
aus sich, wenn er sich mit anderen verglich. Nun wurde
er im Laufe der Jahre erst einmal und dann
hundertfach gezwungen, in diesem Punkte umzulernen, - man
sollte denken zu seiner großen Freude und Genugtuung.
Es gab auch in der Tat etwas davon; aber "doch ist,
wie er einmal sagte, eine Bitterkeit der bittersten Art
beigemischt, welche ich im früheren Leben nicht kannte:
denn seit ich die Menschen und mich selber gerechter
schätze, scheint mir mein Geist weniger nütze; ich glaube
damit kaum noch etwas Gutes erweisen zu können, weil
der Geist der Anderen es nicht anzunehmen versteht: ich
sehe jetzt die schreckliche Kluft zwischen dem Hilfreichen
und dem Hilfebedürftigen immer vor mir. Und so quält
mich die Not, meinen Geist für mich haben und allein
genießen zu müssen, soweit er genießbar ist. Aber g e b e n 
ist seliger als h a b e n: und was ist der Reichste in der
Einsamkeit einer Wüste!"

321

Wie man angreifen soll. - Die Gründe, um
derentwillen man an etwas glaubt oder nicht glaubt, sind
bei den allerseltensten Menschen überhaupt so stark, a l s 
 s i e   s e i n   k ö n n e n. Für gewöhnlich hat man, um den
Glauben an etwas zu erschüttern, durchaus nicht nötig,
ohne weiteres das schwerste Geschütz des Angriffs
vorzufahren; bei vielen führt es schon zum Ziele, wenn man
den Angriff mit etwas Lärm macht: so daß oft
Knallerbsen genügen. Gegen sehr eitle Personen reicht die
Miene des allerschwersten Angriffs aus: sie sehen sich
sehr ernst genommen - und geben gern nach.

322

Tod. - Durch die sichere Aussicht auf den Tod
könnte jedem Leben ein köstlicher, wohlriechender Tropfen
von Leichtsinn beigemischt sein - und nun habt ihr
wunderlichen Apotheker-Seelen aus ihm einen übelschmeckenden
Gift-Tropfen gemacht, durch den das ganze Leben
widerlich wird!

323

Reue. - Niemals der Reue Raum geben, sondern
sich sofort sagen: dies hieße ja der ersten Dummheit eine
zweite zugesellen. - Hat man Schaden gestiftet, so sinne
man darauf, Gutes zu stiften. Wird man wegen seiner
Handlungen gestraft, dann ertrage man die Strafe mit
der Empfindung, damit schon etwas Gutes zu
stiften, man schreckt die anderen ab, in die gleiche Torheit zu
verfallen. Jeder gestrafte Übeltäter darf sich als
Wohltäter der Menschheit fühlen.

324

Zum Denker werden. - Wie kann jemand zum
Denker werden, wenn er nicht mindestens den dritten
Teil jeden Tages ohne Leidenschaften, Menschen und
Bücher verbringt?

325

Das beste Heilmittel. - Etwas Gesundheit ab
und zu ist das beste Heilmittel des Kranken.

326

Nicht anrühren! - Es gibt schreckliche
Menschen, welche ein Problem, anstatt es zu lösen, für alle,
welche sich mit ihm abgeben wollen, verfitzen und
schwerer lösbar machen. Wer es nicht versteht, den Nagel
auf den Kopf zu treffen, soll ja gebeten sein, ihn gar nicht
zu treffen.

327

Die vergessene Natur. - Wir sprechen von
Natur und vergessen uns dabei: wir selber sind Natur,
 -. Folglich ist Natur etwas ganz anderes
als das, was wir beim Nennen ihres Namens empfinden.

328

Tiefe und Langweiligkeit. - Bei tiefen
Menschen wie bei tiefen Brunnen dauert es lange, bis etwas,
das in sie fällt, ihren Grund erreicht. Die Zuschauer,
welche gewöhnlich nicht lange genug warten, halten solche
Menschen leicht für unbeweglich und hart - oder auch
für langweilig.

329

Wann es Zeit ist, sich Treue zu geloben. -
Man verläuft sich mitunter in eine geistige Richtung,
welcher unsere Begabung widerspricht; eine Zeitlang kämpft
man heroisch wider die Flut und den Wind an, im Grunde
gegen sich selbst: man wird müde, keucht; was man
vollbringt, macht einem keine rechte Freude, man meint zu
viel bei diesen Erfolgen eingebüßt zu haben. Ja, man
v e r z w e i f e l t  an seiner Fruchtbarkeit, an seiner
Zukunft, mitten im Siege vielleicht. Endlich, endlich k e h r t 
man um - und jetzt weht der Wind in unser Segel und
treibt uns in u n s e r  Fahrwasser. Welches Glück! Wie
s i e g e s g e w i ß  fühlen wir uns! Jetzt erst wissen wir,
was wir sind und was wir wollen, jetzt geloben wir uns
Treue und d ü r f e n  es - als Wissende.

333

Wetterpropheten. - Wie die Wolken uns
verraten, wohin hoch über uns die Winde laufen, so sind
die leichtesten und freiesten Geister in ihren Richtungen
vorausverkündend für das Wetter, das kommen wird.
Der Wind im Tale und die Meinungen des Marktes von
heute bedeuten nichts für das, was kommt, sondern nur
für das, was war.

331

Stetige Beschleunigung. - Jene Personen,
welche langsam beginnen und schwer in einer Sache
heimisch werden, haben nachher mitunter die Eigenschaft
der stetigen Beschleunigung, - so daß zuletzt niemand
weiß, wohin der Strom sie noch reißen kann.

332

Die guten Drei. - Größe, Ruhe, Sonnenlicht-
diese Drei umfassen alles, was ein Denker wünscht und
auch von sich fordert: seine Hoffnungen und Pflichten,
seine Ansprüche im Intellektuellen und Moralischen,
sogar in der täglichen Lebensweise und selbst im
Landschaftlichen seines Wohnsitzes. Ihnen entsprechen einmal
e r h e b e n d e  Gedanken, sodann b e r u h i g e n d e,
drittens a u f h e l l e n d e  - viertens aber Gedanken, welche
an allen drei Eigenschaften Anteil haben, in denen alles
Irdische zur Verklärung kommt: es ist das Reich, wo die
große D r e i f a l t i g k e i t   d e r   F r e u d e  herrscht.

333

Für die "Wahrheit" sterben. - Wir würden
uns für unsere Meinungen nicht verbrennen lassen: wir
sind ihrer nicht so sicher. Aber vielleicht dafür, daß wir
unsere Meinungen haben dürfen und ändern dürfen.

334

Seine Taxe haben. - Wenn man gerade so viel
g e l t e n  will, als man ist, muß man etwas sein, das
s e i n e   T a x e  hat. Aber nur das Gewöhnliche hat eine
Taxe. Somit ist jenes Verlangen entweder die Folge
einsichtiger Bescheidenheit - oder dummer Unbescheidenheit.

335

Moral für Häuserbauer. - Man muß die
Gerüste wegnehmen, wenn das Haus gebaut ist.

336

Sophokleismus. - Wer hat mehr Wasser in den
Wein gegossen als die Griechen! Nüchternheit und Grazie
verbunden - das war das Adels-Vorrecht des Atheners
zur Zeit des Sophokles und nach ihm. Mache es nach, wer
da kann! Im Leben und Schaffen!

337

Das Heroische. - Das Heroische besteht darin,
daß man Großes tut (oder etwas in großer Weise nicht
tut), ohne sich im Wettkampfe m i t  anderen, v o r 
anderen zu fühlen. Der Heros trägt die Einöde und den
heiligen unbetretbaren Grenzbezirk immer mit sich, wohin er
auch gehe.

338

Doppelgängerei der Natur. - In mancher
Natur-Gegend entdecken wir uns selber wieder, mit
angenehmem Grausen; es ist die schönste Doppelgängerei. -
Wie glücklich muß der sein können, welcher jene
Empfindung gerade h i e r  hat, in dieser beständigen sonnigen
Oktoberluft, in diesem schalkhaft glücklichen Spielen des
Windzuges von Früh bis Abend, in dieser reinsten Helle
und mäßigsten Kühle, in dem gesamten anmutig ernsten
Hügel-, Seen- und Wald-Charakter dieser Hochebene,
welche sich ohne Furcht neben die Schrecknisse des ewigen
Schnees hingelagert hat - hier, wo Italien und Finnland
zum Bunde zusammengekommen sind und die Heimat
aller silbernen Farbentöne der Natur zu sein scheint:
wie glücklich der, welcher sagen kann: "es gibt gewiß
viel Größeres und Schöneres in der Natur, d i e s  aber
ist mir innig und vertraut, blutsverwandt, ja noch
mehr."

339

Leutseligkeit des Weisen. - Der Weise wird
unwillkürlich mit den anderen Menschen leutselig umgehen
wie ein Fürst und sie, trotz aller Verschiedenheit der
Begabung, des Standes und der Gesittung, leicht als
gleichartig behandeln: was man, sobald es bemerkt wird, ihm
sehr übel nimmt.

340

Gold. - Alles, was Gold ist, glänzt nicht. Die sanfte
Strahlung ist dem edelsten Metalle zu eigen.

341

Rad und Hemmschuh. - Das Rad und der
Hemmschuh haben verschiedene Pflichten, aber auch eine
gleiche: einander wehe zu tun.

342

Störungen des Denkers. - Auf alles, was den
Denker in seinen Gedanken unterbricht (stört, wie man
sagt), muß er friedfertig hinschauen, wie auf ein neues
Modell, das zur Tür hereintritt, um sich dem Künstler
anzubieten. Die Unterbrechungen sind die Raben, welche
dem Einsamen Speise bringen.

343

Viel Geist haben. - Viel Geist haben erhält
j u n g: aber man muß es ertragen, damit gerade für
ä l t e r  zu gelten, als man ist. Denn die Menschen lesen
die Schriftzüge des G e i s t e s  ab als Spuren der
L e b e n s e r f a h r u n g, das heißt des Viel- und
Schlimm-g e l e b t -habens, des Leidens, Irrens, Bereuens. Also: man
gilt ihnen für älter sowohl als für s c h l e c h t e r, als
man ist, wenn man viel Geist hat und zeigt.

344

Wie man siegen muß. - Man soll nicht siegen
wollen, wenn man nur die Aussicht hat, um eines H a a - 
 r e s   B r e i t e  seinen Gegner zu überholen. Der gute Sieg
muß den Besiegten freudig stimmen, er muß etwas
Göttliches haben, welches die B e s c h ä m u n g  erspart.

345

Wahn der überlegenen Geister. - Die
überlegenen Geister haben Mühe, sich von einem Wahne frei
zu machen: sie bilden sich nämlich ein, daß sie bei den
Mittelmäßigen Neid erregen und als Ausnahme
empfunden werden. Tatsächlich aber werden sie als das
empfunden, was überflüssig ist und was man, wenn es fehlte,
nicht entbehren würde.

346

Forderung der Reinlichkeit. - Daß man
seine Meinungen wechselt, ist für die einen Naturen
ebenso eine Forderung der Reinlichkeit, wie die, daß man
seine Kleider wechselt: für andere Naturen aber nur eine
Forderung ihrer Eitelkeit.

347

Auch eines Heros würdig. - Hier ist ein
Heros, der nichts getan hat als den Baum geschüttelt,
sobald die Früchte reif waren. Dünkt euch dies zu wenig?
So seht euch den Baum erst an, den er schüttelte.

348

Woran die Weisheit zu messen ist. - Der
Zuwachs an Weisheit läßt sich genau nach der Abnahme
an Galle bemessen.

349

Den Irrtum unangenehm sagen. - Es ist
nicht nach jedermanns Geschmack, daß die Wahrheit
angenehm gesagt werde. Möge aber wenigstens niemand
glauben, daß der Irrtum zur Wahrheit werde, wenn man
ihn u n a n g e n e h m  sage.

350

Die goldene Losung. - Dem Menschen sind
viele Ketten angelegt worden, damit er es verlerne, sich
wie ein Tier zu gebärden: und wirklich, er ist milder,
geistiger, freudiger, besonnener geworden, als alle Tiere
sind. Nun aber leidet er noch daran, daß er so lange seine
Ketten trug, daß es ihm so lange an reiner Luft und freier
Bewegung fehlte: - diese Ketten aber sind, ich
wiederhole es immer und immer wieder, jene schweren und
sinnvollen Irrtümer der moralischen, der religiösen, der
metaphysischen Vorstellungen. Erst wenn auch die
K e t t e n - K r a n k h e i t  überwunden ist, ist das erste große
Ziel ganz erreicht: die Abtrennung des Menschen von den
Tieren. - Nun stehen wir mitten in unserer Arbeit, die
Ketten abzunehmen, und haben dabei die höchste
Vorsicht nötig. Nur d e m   v e r e d e l t e n   M e n s c h e n   d a r f 
 d i e   F r e i h e i t   d e s   G e i s t e s  gegeben werden; ihm
allein naht die E r l e i c h t e r u n g   d e s   L e b e n s  und
salbt seine Wunden aus; er zuerst darf sagen, daß er um
der F r e u d i g k e i t  willen lebe und um keines weiteren
Zieles willen; und in jedem anderen Munde wäre sein
Wahlspruch gefährlich: F r i e d e n   u m   m i c h   u n d   e i n 
 W o h l g e f a l l e n   a n   a l l e n   n ä c h s t e n   D i n g e n.  -
Bei diesem Wahlspruch für Einzelne gedenkt er eines alten
großen und rührenden Wortes, welches a l l e n  galt, und
das über der gesamten Menschheit stehengeblieben ist, als
ein Wahlspruch und Wahrzeichen, an dem jeder zugrunde
gehen soll, der damit zu zeitig sein Banner schmückt, -
an dem das Christentum zugrunde ging. Noch immer,
so scheint es, i s t   e s   n i c h t   Z e i t, daß es a l l e n  Menschen
jenen Hirten gleich ergehen dürfe, die den Himmel
über sich erhellt sahen und jenes Wort hörten: "Friede
auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen an einander." -
Immer noch ist es d i e   Z e i t   d e r   E i n z e l n e n.


* * *


D e r   S c h a t t e n: Von allem, was du vorgebracht
hast, hat mir nichts mehr gefallen als eine Verheißung:
ihr wollt wieder gute Nachbarn der nächsten Dinge
werden. Dies wird auch uns armen Schatten zugute kommen.
Denn, gesteht es nur ein, ihr habt bisher uns allzugern
verleumdet.

D e r   W a n d e r e r: Verleumdet? Aber warum habt
ihr euch nie verteidigt? Ihr hattet ja unsere Ohren in der
Nähe.

D e r   S c h a t t e n: Es schien uns, als ob wir euch eben
zu nahe wären, um von uns selber reden zu dürfen.

D e r   W a n d e r e r: Delikat! Sehr delikat! Ach, ihr
Schatten seid "bessere Menschen" als wir, das merke ich.

D e r   S c h a t t e n: Und doch nanntet ihr uns "zu-
dringlich" - uns, die wir mindestens e i n e s  gut
verstehen: zu schweigen und zu warten - kein Engländer
versteht es besser. Es ist wahr, man findet uns sehr, sehr
oft in dem Gefolge des Menschen, aber doch nicht in
seiner Knechtschaft. Wenn der Mensch das Licht scheut,
scheuen wir den Menschen: soweit geht doch unsere
Freiheit.

D e r   W a n d e r e r: Ach, das Licht scheut noch viel
öfter den Menschen, und dann verlaßt ihr ihn auch.

D e r   S c h a t t e n: Ich habe dich oft mit Schmerz
verlassen: es ist mir, der ich wißbegierig bin, an dem
Menschen vieles dunkel geblieben, weil ich nicht immer um
ihn sein kann. Um den Preis der vollen
Menschen-Erkenntnis möchte ich auch wohl dein Sklave sein.

D e r   W a n d e r e r: Weißt du denn, weiß ich denn, ob
du damit nicht unversehens aus dem Sklaven zum Herrn
würdest? Oder zwar Sklave bliebest, aber als Verächter
deines Herrn ein Leben der Erniedrigung, des Ekels
führtest: Seien wir beide mit der Freiheit zufrieden, so wie
sie dir geblieben ist - dir und mir! Denn der Anblick
eines Unfreien würde mir meine größten Freuden
vergällen; das Beste wäre mir zuwider, wenn es jemand mit
mir teilen m ü ß t e, - ich will keine Sklaven um mich
wissen. Deshalb mag ich auch den Hund nicht, den faulen,
schweifwedelnden Schmarotzer, der erst als Knecht des
Menschen "hündisch" geworden ist und von dem sie gar
noch zu rühmen pflegen, daß er dem Herrn treu sei und
ihm folge wie sein -

D e r   S c h a t t e n: Wie sein Schatten, so sagen sie. Viel
leicht folgte ich dir heute auch schon zu lange? Es war
der längste Tag, aber wir sind an seinem Ende, habe
eine kleine Weile noch Geduld! Der Rasen ist feucht, mich
fröstelt.

D e r   W a n d e r e r: Oh, ist es schon Zeit zu scheiden?
Und ich mußte dir zuletzt noch wehe tun; ich sah es, du
wurdest dunkler dabei.

D e r   S c h a t t e n: Ich errötete, in der Farbe, in welcher
ich es vermag. Mir fiel ein, daß ich dir oft zu Füßen
gelegen habe wie ein Hund, und daß du dann -

D e r   W a n d e r e r: Und könnte ich dir nicht in aller
Geschwindigkeit noch Etwas zu Liebe tun? Hast du keinen
Wunsch?

D e r   S c h a t t e n: Keinen, außer etwa den Wunsch,
welchen der philosophische "Hund" vor dem großen
Alexander hatte: gehe mir ein wenig aus der Sonne, es
wird mir zu kalt.

D e r   W a n d e r e r: Was soll ich tun?

D e r   S c h a t t e n: Tritt unter diese Fichten und schaue
dich nach den Bergen um; die Sonne sinkt.

D e r   W a n d e r e r  - Wo bist du? Wo bist du?


* * *