Humboldt-Universität zu Berlin, HUMBOLDT, Nr. 7, 12. Mai 1995

Brücken zwischen den Disziplinen


Ernst Cassirer und die alte Berliner Universität

Zum Gedenken an den 50. Todestag von Ernst Cassirer am 13. April 1995

Teil I

Nachdem endlich auch in diesem Teil Deutschlands der für die Politik grundlegende Begriff der Reform wieder ohne Vorwurf und ohne Entschuldigung verwendet werden darf, kann man der alten Berliner Universität einen Titel verleihen, der zwar auf eine beinahe schon zweihundertjährige Tradition verweist, der aber alles andere als veraltet ist. Der Titel hat den Reiz der Paradoxie, und er bleibt, wenn ich so sagen darf, a priori auf der Höhe der Zeit, weil er die historische Leistung in eine aktuelle Verpflichtung überführt. Der Titel lautet: Älteste Reformuniversität Deutschlands.

Ende des 18. Jahrhunderts galten die Universitäten in den deutschen Ländern als hoffnungslos veraltet. Zwar hatten die Neugründungen in Halle (1694) und Göttingen (1734) einzelnen Disziplinen energische Impulse gegeben, und für die knappe Spanne eines Jahrzehnts konnte man glauben, daß Jena zum Zentrum einer Erneuerung werden würde. Aber es wurde, entgegen allen Erwartungen, Berlin. Daran hatte Napoleon seinen Anteil, weil er durch seine Eroberungspolitik das als vorbildlich geltende französische Schul- und Hochschulmodell in Deutschland inakzeptabel machte, und weil er durch die Unterwerfung großer Teile Preußens auch die konservativen Kräfte dieses Landes derart schwächte, daß für eine kurze Frist die Reformer initiativ werden konnten.

Dem Leiter des Unterrichtsdepartements im Preußischen Kultusministeriums, Wilhelm von Humboldt, genügte eine Amtszeit von 10 Monaten, um die Universität zu gründen. Und da sich Humboldt nicht nur auf Denkschriften aufgeklärter Philosophen, sondern auch auf deren Tatkraft stützen konnte, da er nicht versuchte, alles anders zu machen und auch nicht der Versuchung erlag, alles institutionell zu reglementieren, sondern Vertrauen in die Fähigkeit der Neuberufenen hatte, gelang tatsächlich etwas Außerordentliches: Die Errichtung einer Universität, die in wenigen Jahren zur wissenschaftlich bedeutendsten Hochschule in den deutschen Ländern aufstieg und deren Organisation alsbald zum Vorbild aller vergleichbaren Einrichtungen wurde. Schon vor der Reichsgründung hatten sich fast alle anderen Universitäten dem Berliner Modell angeschlossen. Und wenn wir die Wirkung der Berliner Neugründung auf die amerikanischen Hochschulen und auf alle Länder, die nicht unter englischer oder französischer Verwaltung standen, bedenken, dann reicht die Wirksamkeit des Berliner Modells tatsächlich weit über Deutschland hinaus.

Wenn wir diesen Erfolg, der von Soziologen des 20. Jahrhunderts als exemplarisch für Reformmaßnahmen überhaupt begriffen worden ist, auf seine Bedingungen hin analysieren, dann ist an erster Stelle die Aktivierung der Individualität der Wissenschaftler zu nennen; die Eigenständigkeit der Personen und ihrer Selbstverwaltung ist das entscheidende Moment. Dann aber darf die ausgewogene Mischung aus Erneuerung und Bestandssicherung nicht übersehen werden, um die es vor allem Schleiermacher ging. Wir erkennen sie in der Aufwertung der Philosophischen Fakultät, im Abbau der strikten Berufsbezogenheit des Studiums, in der Regelung der Selbstergänzung des Lehrkörpers oder in der eigenständigen Finanz- und Personalverwaltung. Schleiermacher hat es auch geschafft, die für die weitere Entwicklung so entscheidende Balance zwischen Akademie und Universität herzustellen. Mit der Akademie der Wissenschaften aber sind auch die anderen umgebenden Institutionen, die Antikensammlungen, die Museen, die Archive und Bibliotheken zu erwähnen und mit ihnen schließlich die in der rasch wachsenden Metropole bald schon das Tempo vorgebenden industriellen Einrichtungen, denen sich die Berliner Wissenschaft nie verschlossen hat. Die Universität konnte sich alsbald im Zentrum vielfältiger technischer, ökonomischer, publizistischer, pädagogischer und politischer Aktivitäten wissen, so als erfülle sich Hegels überschwengliches Wort von der "Universität des Mittelpunkts" nicht nur in einem nationalen, sondern auch in einem zivilisationsgeschichtlichen Sinn.

Hier in Berlin konnte sich die Wissenschaft als Element, Motor und Garant einer unabsehbaren gesellschaftlichen Entwicklung begreifen. Hier wurde sie selbst in einen Strudel von Veränderungen gerissen, für den sie - keineswegs immer souverän - nach neuen Begriffe suchte. Zu den bis heute nachwirkenden Verlegenheiten gehört die Unterscheidung zwischen den Natur- und Geisteswissenschaften. Sie wurde an dieser Universität entwickelt und methodologisch verfestigt.

Es ist dies ein bemerkenswerter wissenschaftsgeschichtlicher Vorgang. Denn wo anders als hier, hätte auffallen können und auffallen müssen, wie nahe sich die Wissenschaftsdisziplinen in ihrem Problembestand tatsächlich sind? Nach Hegels Tod entstand zwar ein gewisses Vakuum in der ausgreifenden Systemphilosophie, das durch die für einige Jahrzehnte dominierenden bloßen Historiker der Philosophie nicht ausgefüllt werden konnte. Doch die produktive begriffliche Arbeit wurde fortgesetzt, wenn auch nicht durch die Professoren der Philosophie. Es waren aber die Mediziner und Naturforscher, es waren Johannes Müller und Emil Du Bois-Reymond, Hermann von Helmholtz und Rudolf Virchow, die über die Grundlagen ihres wissenschaftlichen Arbeitens nachdachten, und damit der Philosophie wesentliche Impulse gaben. Auch der institutionelle Transfer zwischen den Fächern wäre nicht möglich gewesen, wenn der Hiat zwischen den Disziplinen so groß gewesen wäre, wie ihn Dilthey zu erkennen glaubte: Die ersten Institute im heutigen Sinn entstanden in der Geschichtswissenschaft und in der Klassischen Philologie. Sie waren das Modell für die Gründungen der ersten naturwissenschaftlichen Institute, insbesondere des Instituts für Physik. Die Ausgrabungen der Archäologen oder die großen Editionsvorhaben der Akademie, die von der Friedrich Wilhelms-Universität mitgetragen wurden, verlangten eine langfristige und großräumige Forschungskooperation, längst bevor Geographie und Geologie, physikalische Zeitmessung oder die statistische Erfassung internationaler Daten vergleichbare Ansprüche entwickelten. Und im Übergang in unser Jahrhundert war es ein Theologe dieser Universität, der die erste Großorganisation der Forschungsförderung auf den Weg brachte. 1)

Durch den glücklichen Umstand, daß der Universitätsgründer Wilhelm von Humboldt durch bedeutende sprachphilosophische Studien auf sich aufmerksam gemacht hat, daß sein älterer Bruder Alexander als genialer Naturkundler weltberühmt wurde und daß 1949 ausdrücklich beide für die Neubenennung dieser Universität in Anspruch genommen worden sind, tritt diese Nähe zwischen den Natur- und Geisteswissenschaften an dieser Universität nunmehr auch in ihrer Bezeichnung zum Ausdruck.

Alles dies bekommt eine werk- und lebensgeschichtliche Bedeutung, wenn wir bedenken, daß Ernst Cassirer an dieser Universität studiert und die ersten fünfzehn Jahre seines akademischen Wirkens an ihr gearbeitet hat. Seine frühen Studien über Descartes und Leibniz (1902), über die neuzeitliche Geschichte des Erkenntnisproblems (1906, 1907, 1920), seine in der Renaissance ansetzenden kulturgeschichtlichen Analysen zu Freiheit und Form (1916), vor allem aber das epochemachende Werk Substanzbegriff und Funktionsbegriff (1910) lesen sich wie das philosophische Integral einer interdisziplinären, auf Erneuerung und kulturelle Wirksamkeit gerichteten wissenschaftlichen Entwicklung, für die Berlins große Universität exemplarisch ist.

1) Zu diesen Entwicklungen siehe die Beiträge zu den Einzeldisziplinen in: H. Leusink, E. Neumann, G. Kotowski (Hrsg.), Studium Berolinense. Aufsätze und Beiträge zu Problemen der Wissenschaft und zur Geschichte der Friedrich Wilhelm-Universität zu Berlin, Berlin 1960. Im übrigen ist stets und in allem auf die mehrbändige Geschichte der Berliner Universität zu verweisen, die Max Lenz zur Hundertjahrfeier 1910 abgefaßt hat (Halle 1910 ff.).

Volker Gerhardt


Referat Presse-/Öffentlichkeitsarbeit, 12.5.95