Humboldt-Universität zu Berlin, HUMBOLDT Nr.8

Brücken zwischen den Disziplinen


Ernst Cassirer und die alte Berliner Universität

Zum Gedenken an den 50. Todestag von Ernst Cassirer am 13. April 1995

Teil II

Ernst Cassirer ist in den 15 Jahren seines akademischen Wirkens in Berlin zu einem wichtigen Bindeglied zwischen Naturwissenschaft und Philosophie geworden. Seine systematische Leistung beweist die Kontinuität des wissenschaftlichen Fragens durch die Einzeldisziplinen hindurch bis hin zu den sich immer wieder neu stellenden Grundproblemen der Philosophie. Dabei stellt er sich durch den in allen seinen Arbeiten so intensiv wie exzessiv genutzten historischen Zugang wie von selbst in die geistesgeschichtliche Tradition dieser Universität. Doch die geschichtlichen Studien sind stets auf systematische Probleme bezogen, die sich nicht nach Natur- oder Geisteswissenschaften dividieren lassen. Das Problem der Individualität stellt sich für ihn im Kontext der naturwissenschaftlichen Theoriebildung nicht weniger als bei der Ausbildung künstlerischer Gestalten oder der Wahrung persönlicher Integrität. In der "Philosophie der symbolischen Formen", in denen es um die kulturstiftenden Leistungen des menschlichen Ausdrucks geht, kann er sich erneut auf Helmholtz berufen und zugleich feststellen, daß er die wesentliche systematische Anregung von Wilhelm von Humboldt erhalten habe. Mit äußerster, manchmal geradezu erschöpfender Differenziertheit wird hier die Einheit philosophischen Denkens praktiziert, die wir uns heute, nachdem die Hermeneutik von einer fruchtbaren Methode zu einer literarischen Weltanschauung geworden ist, erst wieder zu entdecken haben.
Durch Cassirers Arbeiten wird in der Sache deutlich, daß es keines nachträglichen Brückenschlags zwischen den großen idealistischen Systemen aus der Gründerzeit der Universität und dem Erkenntnisstand des beginnenden 20. Jahrhunderts bedarf. Denn es hat die von den Einzelwissenschaften fortgesetzte philosophische Arbeit gegeben, aus der sich die akademische Philosophie nie vollständig zurückgezogen hat, wie etwa das Beispiel Lotzes, der nur wenige Monate in Berlin lehren konnte, belegt. Auch ihn, den zu Unrecht vergessenen Hermann Lotze, der in seinem "Mikrokosmos" eine anthropologisch fundierte Kosmologie entwirft, die in vielem auf die "Philosophie der symbolischen Formen" und den "Essay on Man" verweist, führt Cassirer als Zeugen an.
Auch wenn ich mich bewußt aller biographischer Details enthalten möchte, muß von dem Schatten die Rede sein, den diese Universität auf ihre eigene Geschichte wirft und durch den sie selbst in eine schwere Schuld gegenüber Ernst Cassirer geraten ist. Obgleich die überragenden Fähigkeiten dieses Gelehrten durch das Leibniz-Buch unter Beweis gestellt waren, hat die Philosophische Fakultät der Friedrich-Wilhelms-Universität das erste Habilitationsgesuch von 1901 abgelehnt. Es entschuldigt die Fakultät nicht im geringsten, daß auch die Anfragen in Straßburg, Göttingen und Marburg abschlägig beschieden worden sind. Erst als Cassirer schon internationale Reputation gewonnen hat, vollzieht die Fakultät, von kleinlichen Bedenken begleitet, endlich aber durch die Fürsprache des immer noch mächtigen Wilhelm Dilthey die Habilitation. Dabei spielen eifersüchtige Schulstreitigkeiten mit dem Marburger Kantianismus eine Rolle. Ferner gibt es Ängste wegen der angeblich vom Lehrer Hermann Cohen vermittelten Nähe zu sozialdemokratischen Ideen hinein. Ausschlaggebend aber dürfte der kaum offen artikulierte, aber in der Fakultät grassierende Antisemitismus sein hat.

In den Fakultätsakten findet sich darüber nichts. Aber wir wissen aus anderen Quellen, insbesondere aus den Intrigen gegen Georg Simmel, wie mächtig die antisemitische Stimmung an der Berliner Universität gewesen ist. Und durch die 1896 gehaltene Rektoratsrede Rudolf Virchows waren alle Mitglieder der Berliner Universität eindringlich gewarnt: "Unsere Zeit, die in ihrem wissenschaftlichen Gefühle so sicher und siegesfroh ist, übersieht eben so leicht wie die frühere, die Stärke der mystischen Regungen, welche von einzelnen Abenteurern in die Volksseele getragen werden. Noch steht sie rathlos vor dem Räthsel des Antisemitismus, von dem niemand weiss, was er eigentlich in dieser Zeit der Rechtsgleichheit will, und trotzdem, vielleicht auch deshalb, fascinirend selbst auf die gebildete Jugend wirkt. Bis jetzt hat man noch keine Professur des Antisemitismus gefordert, aber es wird erzählt, dass es schon antisemitische Professoren gebe. Wer die Geschichte der Naturphilosophie in ihren radicalsten Ausläufern kennt, der wird über solche Erscheinungen nicht erstaunen. Der menschliche Geist ist nur zu sehr geneigt, den mühseligen Weg des ordnungsmässigen Denkens zu verlassen und sich in träumerisches Sinnen zu versenken. Davor schützt nur [...] der gesunde Menschenverstand."

Das klingt, als habe Virchow sich geradewegs an die Philosophen gewandt, bei denen die Verachtung des gesunden Menschenverstandes nicht selten zum guten Ton gehört. Auch wenn sie Cassirer schließlich widerstrebend als Fachkollegen aufgenommen haben, scheint die Warnung wenig bewirkt zu haben. Am Ort hat man den alsbald in seiner nationalen und internationalen Reputation alle anderen überragenden Kollegen nicht weiter gefördert. Man hat ihn ohne ernsthaften Versuch, ihn zu halten, nach Hamburg ziehen lassen. Und als später, vor allem auf Betreiben Max Dessoirs die Chance bestand, ihn wieder für die Friedrich Wilhelms-Universität zurückzugewinnen, wurde diese Möglichkeit aus den nunmehr schon offen eingestandenen Ressentiments hintertrieben.

Weil wir wissen, daß Worte nicht ausreichen, die in diesem Ungeist begangenen Verbrechen zu benennen, füge ich Virchows hellsichtiger Warnung nichts mehr hinzu. Sie verbietet jedem Berliner Kollegen die Ausrede, er habe es nicht gewußt.

Ein Berliner Kollege brauchte eine solche Entschuldigung nicht. Er hat früh das Talent Cassirers erkannt, hat sich für ihn, so weit er es als Extraordinarius eben vermochte, eingesetzt und hat in den zwanziger Jahren dessen Rückberufung nach Berlin betrieben. Es ist der angesehene Kunst- und Kulturphilosoph Max Dessoir, von dem wir nur ein biographisches Detail wissen müssen, um einen Begriff von seiner menschlichen Größe zu gewinnen: 1933 wurde auch er aus dem Staatsdienst entfernt, weil er von den NS-Behörden für einen Juden gehalten wurde. Aus Solidarität mit den jüdischen Kollegen hat er sich geweigert, gegen diese Maßnahme zu protestieren.

In seinem bewegenden "Buch der Erinnerung", das er als aus Berlin Evakuierter in den letzten Kriegsmonaten abgeschlossen hat, gibt er ein Portrait Ernst Cassirers, das die Bedeutung dieses Gelehrten aus menschlicher Nähe zu erkennen gibt und in Erinnerung hält, daß sich die alte Berliner Universität, nicht nur die wissenschaftlichen Verdienste dieses Mannes zurechnen darf, sondern auch ihrer Schuld zu gedenken hat.

Volker Gerhardt


Referat Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, 12.6.95