Humboldt-Universität zu Berlin, HUMBOLDT Nr. 9

Brücken zwischen den Disziplinen


Ernst Cassirer und die alte Berliner Universität

Zum Gedenken an den 50. Todestag von Ernst Cassirer am 13. April 1995

Teil III

... Schon in seiner Berliner Zeit erfreute sich Ernst Cassirer eines großen und berechtigten Rufes, nur die Hochmögenden behandelten ihn als einen Anfänger. Mir schwebt eine Szene vor, in der Riehl dem "Jungen Manne" die Kantische Unterscheidung zwischen Ding an sich und Erscheinung umständlich klar machte. Später wurde er ordentlicher Professor in Hamburg. Dort traf ich ihn, als er das Rektorat verwaltete, getragen von dem einmütigen Vertrauen der Aufsichtsbehörde, der Dozenten und der Studentenschaft; das muß erwähnt werden, da dem Berliner Juden, dem Vetter des nicht allgemein beliebten Kunsthändlers Paul Cassirer, Vorurteile genug im Wege standen. Alles beugte sich seiner sieghaften Persönlichkeit. Er sah prachtvoll aus, obwohl er nur mittlere Größe und zu kurze Arme hatte, aber man vergaß beides, wenn man den edel geformten Kopf ins Auge faßte, die gesunden Farben des Gesichts und die vollen, früh erbleichten Haare, die ihn keineswegs alt machten. Wir priesen ihn glücklich, denn auch an Weib und Kindern erlebte er eitel Freude. Der Umschlag kam, und die dunklen Wolken zogen ohne Ende. Cassirer wurde zunächst nach England gerufen, dann war er längere Zeit in Göteborg tätig: Es soll den Schweden nicht vergessen werden, daß sie ihn, ohne ihm nennenswerte Pflichten aufzuerlegen, großherzig unterstützten und zur Veröffentlichung seiner Forschungen verhalfen; ebenso wollen wir in Erinnerung bewahren, daß Eduard Nordens letztes umfangreiches Werk über altrömische Priesterbücher im Jahre 1939 von der Königlichen Humanistischen Wissenschaftsgesellschaft in Lund gedruckt worden ist. In Upsala, wo ich Cassirer uns seiner unverändert reizenden Frau Toni zum letztenmal die Hand reicht, war er nicht mehr der alte: vordem ungekannte Schatten wichen nicht von ihm, und Störungen vom Mitmenschen her bedrückten ihn stark. Wie es ihn dann weiterhin in den Vereinigten Staaten ergangen sein mag, das weiß ich nicht; äußerlich jedenfalls gut, den eine Professur an der Columbia-Universität in New York bedeutet etwas, und an Verehrung wird es ihm auch drüben nicht gefehlt haben. Die Kunde von seinem im August 1945 erfolgten Ableben hat mich aufs schmerzlichste bewegt. Ich war und bleibt ihm zu Dank verpflichtet, weil er mein Vertrauen zur Wissenschaft, das oft genug versagt, immer wieder aufrichtete, und weil er, solange er mir nah war, meine Glauben an die Menschheit vor dem Zusammenbruch rettete. Wenn mir je noch ein zweiter ebenso prachtvoller Mensch begegnen sollte, dann würde ich meinen, im Zeitalter der Wunder zu leben.

In Cassirer war kein Falsch, kein Dünkel, keine Leichtfertigkeit irgendeiner Art. Ich bekannt mich zu ihm als zu einem der wahrhaftigsten Menschen und zugleich als zu einem echten Forscher, der das ganze Leben lang um wissenschaftliche Wahrheit bis zur Selbstvernichtung gerungen hat. Das Herzleiden, dem er vermutlich erlag, nahm seine Anfang oder die verhängnisvolle Wendung, als er innerhalb eines einzigen Jahres, nämlich 1940, zwei gewaltige Bände niederschrieb; es war, wie er dem Freunde Ernst Hoffmann mitteilte, die einzige Möglichkeit für ihn, seelisch jenes furchtbare Jahr der Scheinerfolge zu überstehen; er hoffte nach Kriegsende auf Drucklegung in Deutschland. Forschen und das Ergründete durchsichtig machen ging ihm über alles. Der Lehrberuf war nicht im Tiefsten und Innersten seines Wesens verankert. Hier ruhte vielmehr die Liebe zu jener reinen Betrachtung, die den Völkern Europas mit voller Klarheit zuerst von Aristoteles verkündet worden ist. Das Licht der Wahrheit leuchtete für Ernst Cassirer in so vielen Brechungen auf wie nur für wenige der Zeitgenossen. Als wir über seine Berufung von Hamburg nach Berlin berieten - es war jenes Ordinariat freigeworden, das dann Nicolai Hartmann erhielt, hatten sich Max von Laue und Wilhelm Schulze in Gutachten über Cassirers Werke naturphilosophischen und sprachphilosophischen Inhalts geäußert, und mit uneingeschränkter Anerkennung des in ihnen enthaltenen Fachwissens. Für den Philosophiehistoriker Cassirer würde ich einen Vorbehalt machen. Was ihm fehlte, war der angeborene Sinn und die Empfänglichkeit für persönliche Eigenart; sonderbar genug, da er die Fragwürdigkeiten des Lebens, die ihm reichlich zuflossen, warmherzig und mit nachsichtsvoller Menschenkenntnis zu behandeln pflegte. Zum jenseitigen Ufer, dorthin, wo die verdeckten Tiefen des Seins und die Abgründe des Nichts zu suchen sind, gelangte er auf der Brücke der Vernunft, auf dieser jedoch mit neidenswerter Sicherheit schreitend.

V. G.

Max Dessoir, Buch der Erinnerung, Stuttgart 1947, S.182/183


Referat Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, 10.7.95